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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
John Freely folgt dem wissenschaftlichen Denken vom frühen Mittelalter bis zu Galilei und Newton
Als Zwerg auf den Schultern von Riesen ist man in einer heiklen Lage: Zwar kann man, wie der Philosoph Bernhard von Chartres bemerkte, "mehr und weiter sehen als diese", nämlich die großen Autoren der Vergangenheit, muss aber dabei darauf achten, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Chartres' Gleichnis hat in dem neuen Buch des Physikers John Freely einen festen Platz. Für Freely, der Wissenschaftsgeschichte an der Bosporus-Universität in Istanbul gelehrt, aber auch beliebte Reiseführer geschrieben hat, beruht der wissenschaftliche Fortschritt in erster Linie darauf, dass Naturforscher auf den Leistungen ihrer Vordenker aufbauen können. Es geht ihm "um die Wissensvermittlung von einem Menschen zum nächsten, die in Europa im frühen Mittelalter ihren Anfang nahm".
Schon der Buchtitel, "Aristoteles in Oxford", verweist auf eine noch längere Tradition. Tatsächlich ist Freelys Entstehungsgeschichte der modernen Wissenschaft eine Ahnengalerie von Sokrates bis Newton, mit thematischem Schwerpunkt im Mittelalter, dessen große Geister heute nur noch wenigen bekannt sind. Da Freely kaum eine Gelehrtengeneration auslässt, nimmt sein Buch manchmal den Charakter eines Nachschlagewerks an. Faszinierend ist die Lektüre dort, wo Freely über kurze biographische Abrisse hinausgeht und auf Fragen zu sprechen kommt, die ganze Epochen durchziehen. Auf welche Weise etwa entsteht ein Regenbogen? Warum ist er rund? Warum so farbenprächtig?
Dietrich von Freiberg, ein Dominikaner, der um 1275 in Paris studierte, verfasste hierzu eine außergewöhnliche Schrift, die eine allgemeine Theorie des Lichts und der Farben einschließt. Dietrich führte das Schauspiel des Regenbogens auf Brechungen und Reflexionen des Lichts an den einzelnen Regentropfen zurück. Lange vor Newton stellte er Versuche mit Prismen an und experimentierte mit einem Modelltropfen: einer mit Wasser gefüllten Glasschale. So kam er zu dem Schluss, dass Licht beim Eintritt in jeden Wassertropfen gebrochen, im Innern reflektiert und beim Austritt aus dem Regentropfen wieder gebrochen wird. Abertausende Wassertröpfchen zerlegen das Licht wie kleine Prismen in verschiedene Farben.
Solche Perlen der Naturforschung finden sich bei Freely in nahezu jedem Kapitel. Allerdings sperrt sich auch ein Dietrich von Freiberg, der bald in Vergessenheit geriet, gegen Freelys These von einer bruchlosen Kette der Wissensvermittlung. Die Schüler heben sich schließlich ab von ihren Lehrern. Sie bringen neue Theorien hervor. Auf welche Weise geschieht das? Wie kommt das Neue in die Welt?
Freely spart solche Fragen aus. Bei seinem Versuch stützt er sich auf die Autorität seines eigenen Lehrers, des australischen Wissenschaftshistorikers Alistair C. Crombie, bei dem er als Postdoktorand in Oxford studierte. Ihm verdanke er die These von der Kontinuität der abendländischen Wissenschaft vom frühen Mittelalter bis hin zu Kopernikus, Galilei und Newton.
So unbefriedigend das auch sein mag, man bekommt an einigen Stellen dieses quellenreichen Buches doch eine Ahnung davon, was die mitunter rasante Entwicklung der Wissenschaft vorantrieb. Freely zitiert etwa einmal aus einer Schrift Roger Bacons, die auf ein Moment außerhalb der Genealogie verweist. Der Franziskaner Bacon taucht im dreizehnten Jahrhundert als "Doctor mirabilis" und Schüler des Naturphilosophen Robert Grosseteste in Oxford auf. Daneben ist Bacon voller Bewunderung für die Studien des Franzosen Petrus Peregrinus zum Verhalten von Kompassnadeln und zum Magnetismus. Ausdrücklich lobt er dessen experimentelle Methode: Petrus schäme sich, über irgendetwas nicht Bescheid zu wissen. Er habe sich daher die Arbeitsweisen derjenigen angeschaut, die mit Erzen und Mineralien umgingen, kenne sich aus in der Kunst der Waffenschmiede, des Jagdhandwerks, der Landwirtschaft und Bodenbearbeitung.
Hier, bei der Beobachtung konkreter praktischer Probleme, hat Petrus einen Wissensschatz gehoben, aus dem er schöpft wie kein anderer zuvor. Es ist ein Wissen, das nicht über bedeutende Gelehrte und ihre Texte, sondern in mündlicher Form bei der Arbeit und beim Umgang mit Werkzeugen weitergegeben worden ist. Ein Handwerkerwissen, an dem sich Jahrhunderte später auch Galileis Forschergeist entzünden wird.
Wie Petrus Peregrinus oder Galileo Galilei aus dem Staffellauf der großen Gelehrten ausscheren, muss in einem Buch, in dem es vordringlich um Wissenschaftsgeschichte als Aufeinanderfolge bedeutender Einzelpersönlichkeiten geht, eine Randbemerkung bleiben. Dafür bietet Freely ein breitgefächertes "Who's who" der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Naturphilosophie, angereichert um zahlreiche Seitenblicke auf die arabische Wissenschaftstradition. Dietrich von Freibergs Theorie des Regenbogens zum Beispiel ähnelt der seines Zeitgenossen Kamal al-Din al-Farisi, die Dietrich vermutlich nicht kannte, da al-Farisis Arbeit nicht ins Lateinische übersetzt wurde.
Zumindest auf dem Gebiet der Optik habe die abendländische Wissenschaft Anfang des vierzehnten Jahrhunderts einen Stand erreicht, der ungefähr dem der arabischen Forschung entsprach, resümiert John Freely. Doch während al-Farisis Werk ein letztes Glanzlicht der arabischen Optik gesetzt habe, seien Dietrichs Forschungen nur eine Etappe in der Weiterentwicklung der europäischen Wissenschaft vom Licht gewesen, die schließlich in der Theorie Newtons kulminierte. Jenes Forschers, der mehr als fünf Jahrhunderte nach Chartres in einem Brief an seinen Widersacher Robert Hooke schrieb: "Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe."
THOMAS DE PADOVA
John Freely: "Aristoteles in Oxford". Wie das finstere Mittelalter die moderne Wissenschaft begründete. Aus dem Englischen von Ina Pfitzner. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014. 448 S., geb., 24,95 [Euro].
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