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Zwei besondere Jungen probieren Leben
Sensation, Spannung, Action, brüllend laut und rasend schnell – das ist, was Jugendliteratur derzeit dominiert. Doch dann betreten Aristoteles und Dante die Bühne und zeigen, dass es auch anders geht, und das nicht nur, weil ihre (wie sie finden: bescheuerten) Vornamen aus dem Reich der Dichter und Denker Steilvorlage sind für einen neuen Ton, ein anderes Denken, ein anderes Erzählen.
Im Wasser lernen sich die Einzelgänger mit mexikanisch-amerikanischen Wurzeln kennen: Dante wird Aristoteles, kurz Ari, das Schwimmen beibringen. Das Wasser, Metapher fürs Unbewusste, wird ihr Element, schließlich wollen sie genau das: das Ungeahnte heben und bloß nicht mit dem Strom schwimmen. Adoleszenzstoff also, doch das poetische Lehrstück, wie (männliche) Identität werden kann, geht weiter. Von Ansprüchen, Erwartungen, Enttäuschungen – den eigenen wie denen der anderen – ist die Rede, und das im Wortsinn: Der Roman besteht über weite Strecken aus Dialogen. Dante, der Unbekümmerte, und Ari, der Zweifler, sprechen über ihre Familien, den Alltag, Träume, Ängste, über all die Veränderungen, die mit 15 das Leben auf den Kopf stellen. Sie setzen sich mit ihren Eltern auseinander, sie lesen die Gedichte, die Dante so liebt, sie probieren neue Worte aus, Freund ist eines davon. Sie fahren nachts in die Wüste und schauen in den Sternenhimmel, sie retten Vögel vor dem Abschuss, und als Ari krank im Bett liegt, besucht ihn Dante mit Zeichenblock und Lyrik. Dass Dante weint, wenn ihm danach zumute ist, registriert Ari vor allem mit Staunen, und es sind genau diese Verletzlichkeit und die Achtung vor dem Anderssein, die sie, im Spiegel des anderen, erkennen lassen, wer sie sind. So weit es eben geht. Das Weit-Gehen hat Grenzen. Der vielfach ausgezeichnete amerikanische Schriftsteller und Lyriker Benjamin Alire Sáenz macht daraus keinen Hehl. Vielmehr schickt er seine Figuren an alle möglichen Grenzen: der Kulturen, Konventionen, Generationen, Geschlechter, Gefühle. „Es ist dein Leben – als ob das stimmte“, beschreibt Ari das doppelte Grenzgebiet zwischen vorausgegangenen und eigenen Erfahrungen, nicht mehr Kind, noch nicht erwachsen. Eine Grauzone. Die ist hier Schattenland. Da ist der Schatten des Vietnamkrieges, in dem Aris Vater steht, da ist der Schatten von Aris älterem Bruder, der im Gefängnis sitzt und totgeschwiegen wird. Da sind Schatten der Schuld, auch eines In-der-Schuld-Stehens, als Ari Dante das Leben rettet, dabei fast selbst mit dem Leben bezahlt. Und da sind die Schatten der blinden Flecken. Dantes Dankbarkeit hält Ari Stillschweige-Regeln entgegen, und als Dante seine Homosexualität bekennt, stellt Ari die Küssen-verboten-Regel auf. Weil es manchmal so schwer ist, weiter zu gehen.
Denn die Welt liegt nicht zu Füßen. Sie will, sie muss betreten werden. Zukunft, das macht dieser Roman meisterhaft vor, ist ohne Erinnerung nicht zu haben, Entwicklung braucht Zeit, braucht Fehler, braucht Ein- und Zugeständnisse. Braucht Versöhnung, auch mit sich selbst. Dass der Autor und seine brillante Übersetzerin Brigitte Jakobeit diesem (Erkenntnis-)Prozess in solcher Konzentration und Differenziertheit Raum geben, dass sie Innenleben so leise explizit machen und all das ihren jugendlichen Lesern zutrauen, ist so überraschend wie berührend. Und vielleicht kann nur der so eindringlich davon erzählen, der weiß, wovon er schreibt. Benjamin Alire Sáenz war selbst über fünfzig Jahre, als er sich geoutet hat. Jetzt ist er zum Fürsprecher der eigenen Erfahrung geworden, damit am Ende für jede Entscheidung gelten kann: „Es ist dein Leben.“ (ab 14 Jahre)
CHRISTINE KNÖDLER
Benjamin Alire Sáenz : Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. Thienemann 2014. 384 Seiten, 16,99 Euro.
Sie fahren nachts in
die Wüste und
schauen in den Sternenhimmel
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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