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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Emmanuelle Bayamack-Tams Roman "Arkadien" öffnet Türen zu sonst verschlossenen Welten
Wie meistens bei Emmanuelle Bayamack-Tam ist die Heldin ihres jüngsten Romans ausgesprochen hässlich. Groß für ein Mädchen, muskulös, mit einem rasch wachsenden Adamsapfel, der ankündigt, was sich im Laufe ihrer Adoleszenz als (Un-)Gewissheit erweisen wird: Farah ist transsexuell, sie hat eine halbe Vagina, aber keine Gebärmutter, ihr wachsen Hoden, aber kein Penis. So darf sie sich glücklich schätzen, im "Liberty House" aufzuwachsen, einer Art Kommune an der französischen Riviera, in der freie Liebe als oberstes Gebot und das Begehren als Grundrecht gilt, auf das alte, kranke und tätowierte Körper genauso Anspruch erheben dürfen wie der androgyne von Farah.
Sie ist sechs Jahre alt, als sie in das von hohen Mauern und dichtem Wald umgebene Refugium einzieht, das ihre Eltern auf der Flucht vor Elektrosmog und Mobilfunkmasten ausfindig gemacht haben. Mangels Internet und Fernsehen findet Farah geistige Nahrung in Büchern aus der Bibliothek des Hauses, oder sie tummelt sich in den Wäldern. "Traumdeutung war genauso Teil meiner Erziehung wie Zeichnen, Scherenschnitt, Botanik oder Lektüre, all diese Arten des Zeitvertreibs aus dem 19. Jahrhundert", schreibt die Ich-Erzählerin, die keinen Hehl aus ihrer grenzenlosen Bewunderung für den Spiritus Rector dieser Kommune macht.
Arcady ist dessen Name, und er ist ein Menschenfänger, ausgestattet mit allen Attributen eines Sektenführers - er ist ein guter Redner, der die Liebe predigt; ein Hirte, der alle seine Schäfchen beglückt. Aber er ist nicht nur in Farahs Augen über jeden Zweifel erhaben, sondern von Emmanuelle Bayamack-Tam stilsicher als jemand in Szene gesetzt, der Misstrauen nicht verdient, weil er tatsächlich nur Gutes im Schilde führt. Seine Sekte ist ein Segen, nicht nur für Farah. Sie öffnet den Raum für eine kleine Schar von Freaks, die aufgrund sehr herkömmlicher Ängste, Ticks und Verletzungen ein Leben nur abseits der gesellschaftlichen Norm führen kann. Genau dieser Lebensraum ist es, der Bayamack-Tam seit jeher interessiert.
Die Helden ihrer Romane, von denen "Arkadien" der vierte in deutscher Übersetzung ist, sind immer weiblich, jung und anders als die anderen. Kimberley war so frei, ihr Glück in der Prostitution zu suchen (in "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging"). Charonne war dick und schwarz (in "Ich komme"). Und Farah ist ein sexuelles Mischwesen, das sein Dasein nicht als Mauerblümchen fristet. Im Gegenteil ist ihr coming of age eine Erfolgsgeschichte. Die sozialen Normen, gegen die sie mit ihrem Äußeren verstößt, sind ein Widerstand, an dem sie sich reibt, und aus dieser Reibung zieht sie Energie. Anders als bei Virginie Despentes, der anderen großen Spezialistin für Außenseiter in der französischen Gegenwartsliteratur, deren Sittengemälde in der Subutex-Trilogie so ausschließlich von Nonkonformisten bewohnt war, dass letztlich das Bild einer französischen Gesellschaft ohne Mitte entstand, ist diese Mitte bei Emmanuelle Bayamack-Tam immer präsent. Die Autorin hält ihr aus der Nische heraus den Spiegel vor.
In "Arkadien" geschieht das besonders deutlich. Bayamack-Tam hat das Buch als ihr bislang politischstes bezeichnet, weil es an der utopischen Kleinwelt des "Liberty House" aufzeigen will, was im Großen im Argen liegt. Die Gemeinde verschafft der Heldin zwar eine unbeschwerte Kindheit und ein sexuelles Erwachen vom Allerfeinsten. Aber das oberste Gebot von der Akzeptanz jedes noch so gebrechlichen Körpers findet jäh seine Grenzen, als ein junger Schwarzer Zuflucht in dem Weiler sucht: So weit, einen afrikanischen Flüchtling aufzunehmen, reicht die Liebe doch nicht. Farah lernt, dass in ihrer Enklave ein Lippenbekenntnis genau dasselbe ist wie in der Gesellschaft, aus der ihre Eltern einst flohen.
Emmanuelle Bayamack-Tam, 1966 in Marseille geboren, bewegt sich in den Winkeln dieser Gesellschaft mit großer Sicherheit. Ihre Mutter gehörte einer großbürgerlichen Sippe an, ihr Vater stammte aus einer italienischen Arbeiterfamilie. "Es gab bei uns zu Hause ein soziales Gemisch, das viel dazu beitrug, dass wir Kinder uns sehr frei entwickelt haben", sagt sie. Heute lebt sie in Villejuif, in der östlichen Banlieue von Paris, in einem HLM, aber dieser Wohnort sei keine ideologische Wahl. Eher ein Zufall. Sie arbeitet als Lehrerin an einer öffentlichen Schule in der Nähe und hat sich über die unsichtbare, aber solide Grenze, die zwischen diesem Lebensraum und Paris intra muros verläuft, oft beklagt. "Ich weiß, und ich habe den Eindruck, dieses Wissen ist wertvoll", sagt sie jetzt am Telefon, nur wenige Wochen nach der Enthauptung von Samuel Paty, "wie sehr unsere Regierenden von einer sozialen Realität abgeschnitten sind, die gleichwohl sehr verbreitet ist. Sie haben keine Ahnung, wie das Leben läuft in einem Problemviertel oder auch in einer Gegend wie dem Limousin."
In ihren Klassen in der Banlieue sei sie die einzige Weiße. Ihre Schüler sind überwiegend Araber oder Schwarze. "Attention!", wirft sie dann ein: "Ich bin nicht umgeben von Rassisten und Antisemiten, die Christen enthaupten wollen, weit gefehlt. So werden wir oft dargestellt, aber das ist nicht der Fall." Es herrsche viel Unwissen, Unverständnis und auf der Seite der Menschen in den Vorstädten das starke Gefühl, abgelehnt zu werden. Aber alle ihre Schüler seien nach dem Attentat niedergeschlagen und traurig gewesen, auch die Muslime. Niemand habe die Schweigeminute gestört oder das Handeln des Täters verteidigt. Dennoch sähen viele die Entscheidung, die Karikaturen von "Charlie Hebdo" im Unterricht zu zeigen, kritisch. "Sie fragen mich: Aber warum hat er das getan?" Ob sie selbst es auch getan hätte? "Darüber habe ich viel nachgedacht. Nein, hätte ich nicht. Ich finde es mutig, aber ich gestehe, dass ich diese Entscheidung pädagogisch nicht verstehe. Ich fand eine der Karikaturen des Propheten selbst schockierend."
Villejuif gilt nicht als besonders heikler Brennpunkt. Es liegt vergleichsweise nah an Paris und hat eine Metro-Station. Aber wenn es die Gelegenheit gäbe, würde Bayamack-Tam die Banlieue gern verlassen. In ihrer Umgebung lebten viele unterschiedliche Leute, ein soziales Gemisch mit durchaus sympathischen Seiten. "Aber da sind auch diese hässlichen Gebäude, ich leide unter einem Mangel an Natur und Schönheit." Die teils sehr prekären Verhältnisse und die Armut setzen ihr zu: "Es ist schwer, das zu beobachten." Zugleich verschafft gerade die intime Kenntnis dieser Milieus ihrem Schreiben eine Direktheit und Rohheit, die nicht vielen Schriftstellern eigen ist. Natürlich übernimmt sie nicht direkt, was sie sieht, in ihre Bücher, erst recht keine Schüler. Aber deren Art zu reden, der Soziolekt der Sechzehnjährigen, verleiht ihrer Fiktion eine unaufgeregte Wahrscheinlichkeit, die gemeinsam mit den stets am Rand gelegenen Schauplätzen der Handlung ein literarisch, zuletzt aber auch soziologisch motiviertes Interesse auf sich zieht. Emmanuelle Bayamack-Tam öffnet Türen zu Welten, die oft verschlossen bleiben.
Dabei schreibt sie schon lange, ihr erster Roman erschien 1996. In den darauffolgenden zwanzig Jahren, in denen sie fast zehn weitere Romane veröffentlichte, nahm aber niemand groß Notiz von ihr. Erst 2013, als sie begann, auch unter Pseudonym zu schreiben (als Rebecca Lighieri veröffentlicht sie vor allem Krimis), änderte sich das. "Diese Entscheidung hat etwas in meinem Schreiben befreit, und von dieser Freiheit haben auch meine anderen Bücher profitiert." Ihr Stil ist manchmal blumig, aber immer unverblümt. Sie schreibt witzig und scharf. Ihre Phantasie ist überschwänglich und grotesk, und vor allem wegen der Bedeutung, die sie Sexualität in all deren Spielarten zugesteht, ist Emmanuelle Bayamack-Tam oft als subversiv bezeichnet worden, was sie stets mit dem Hinweis auf Jean Genet und den Marquis de Sade zurückweist, die weitaus subversiver gewesen seien.
Es geht ihr um Freiheit. Ihre Bücher sind in Literatur gegossene Experimente, die der Frage nachgehen, wie sich Sexualität, Körper und letztlich Menschen entwickeln könnten, würde man ihnen nichts vorgeben, einschärfen oder zuweisen. "Ich weiß nicht, was ich bin, aber ich leide, wenn man mich verbiegt" - dieser Satz von Witold Gombrowicz ist ihr Mantra. "Attention!", ruft sie: "Das ist eine Binse!" Allerdings eine, die Emmanuelle Bayamack-Tam so ernst nimmt, dass sie in ihren literarischen Erkundungen in Grenzbereiche unserer Freiheit vordringt, die nahezu unerforscht sind, doch bevölkert von ganz außergewöhnlichen Helden. LENA BOPP
Emmanuelle Bayamack-Tam: "Arkadien". Roman.
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Secession Verlag, Berlin 2020. 386 S., geb., 28,- [Euro].
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