* A third of the world's people are in the midst of the largest population move in human history, as the last of the word's rural populations abandons agriculture and moves to the urban areas of the developing world and of the wealthy West.
*Both a groundbreaking work of reportage and an exciting, vivid travelogue, Arrival City sees award-winning journalist Doug Saunders offering a detailed tour of the key points in the Great Migration, and considers the actions that have turned this enormous population shift into either a success or a violent failure.
*Both a groundbreaking work of reportage and an exciting, vivid travelogue, Arrival City sees award-winning journalist Doug Saunders offering a detailed tour of the key points in the Great Migration, and considers the actions that have turned this enormous population shift into either a success or a violent failure.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2011Eine Reise in unsere Zukunft
Ankunftsstädte sind keine Endstationen
Auf beeindruckende Art und Weise berichtet der kanadisch-britische Journalist Doug Saunders über die "Ankunftsstädte" dieser Welt. Hunderte Millionen Menschen ziehen vom Land in die Randgebiete, Außensiedlungen oder Banlieues. Hier haben in der Vergangenheit bedeutende Entwicklungen begonnen: die Französische Revolution, der Sturz des letzten Schahs, der Aufstieg von Recep Tayyip Erdogans Partei und der Erfolg eines Hugo Chávez. Und hier wird in Zukunft noch weit mehr geschehen. Diese Orte werden über unseren Wohlstand entscheiden - vor allem in Europa.
Saunders beschreibt nicht nur real "angekommene" Menschen mit ihren Situationen, Hoffnungen und Plänen - die er allesamt während einer dreijährigen Reise besucht hat -, er leitet daraus auch Forderungen ab. Einer seiner Schlüsse, "der wohl weder den Ideologen der sozialistischen Linken noch den rechten Marktradikalen gefallen wird", lautet: "Will man den armen Migranten vom Land soziale Mobilität und Zugang zur Mittelschicht ermöglichen, braucht man sowohl einen freien Markt mit breit gestreutem Privateigentum als auch eine starke und durchsetzungsfähige Regierung, die bereit ist, massiv in diesen Übergang zu investieren." Das gelte für alle "Ankunftsstädte" dieser Welt. Aber in den letzten Jahrzehnten wurden Fehler gemacht.
"Zonierung und Flächennutzungspläne sind den Stadtplanern bis heute sehr wichtig. Sie glauben häufig immer noch, dass Städte streng in Wohn-, Geschäfts- und Leichtindustriebereiche unterteilt werden sollten - mit geringen Überschneidungen. Aber die erfolgreichsten Stadtviertel der Welt sind Bezirke, die eine extrem hohe Nutzungsdichte mit einer stark gemischten Nutzung verbinden." In der Tat fallen dem Leser Beispiele ein: die Londoner Stadtteile Kensington und Chelsea oder das 6. und 7. Arrondissement von Paris. "Die erfolgreiche Ankunftsstadt muss Raum für Spontaneität bieten. Ein bestimmtes Stück Land muss in einer Gemeinschaft von neu eingetroffenen Migranten von Zeit zu Zeit vielleicht als Wohnung, Laden, kleine Fabrik, Versammlungsort, Kirche oder für irgendeine Verbindung dieser Nutzungsarten dienen können, und es muss sich verändern und entwickeln."
Saunders Werk wird als Meilenstein in das Genre der Sachbuchgeschichte eingehen. Es zeigt, wie lebendig und leidenschaftlich ein Werk geschrieben werden kann, das die Erlebnisse realer Menschen mit der Auswertung wissenschaftlicher Analysen und einer Formulierung politischer Forderungen verbindet. Saunders kommt zu ähnlichen Schlüssen wie Edward Glaeser von der Harvard Universität, der vor wenigen Monaten dargelegt hatte, dass uns Städte "reicher, intelligenter, grüner, gesünder und glücklicher" machen (F.A.Z. vom 6. Juni 2011). Beide Autoren profitierten vom Weltentwicklungsbericht 2009, der die Wirtschaftsgeographie wieder in das öffentliche Bewusstsein zurückgebracht hat. Zentral in dieser von der Weltbank publizierten Studie war die Schlussfolgerung, dass die Politik Marktwirkungen, die qualifizierte Arbeitskräfte zusammenführen, nicht bekämpfen sollte (F.A.Z. vom 12. Oktober 2009).
"Dies war das erste umfassende amtliche Eingeständnis, dass die Ankunftsstädte in der Zukunft der Welt eine zentrale Rolle spielen." Die Einstellung der Behörden sei jedoch vielerorts eine andere. Fast drei Viertel der Regierungen in Entwicklungsländern wollten die Abwanderung vom Land in die Stadt einschränken. Dabei sei der wirksamste Weg zur Verringerung von Armut wirtschaftliches Treiben in der Stadt. Dafür müssen die Migranten kleine Geschäfte öffnen, verbrieftes Grundeigentum erwerben und ihre Kinder auf sichere Schulen schicken können. Saunders zeigt: Ist all dies gegeben, entsteht eine Generation später eine prosperierende Mittelschicht. Und: Die Städter senden viel Geld in ihre Ursprungsdörfer zurück. Viele Daheimgebliebenen können nur noch deswegen überleben.
Saunders Schlussfolgerungen sind nachvollziehbar und manchmal unbequem. Er widerlegt Karl Marx, verwirft den sozialen Wohnungsbau in Europa und zeigt negative wirtschaftliche Auswirkungen des australisch-kanadischen "Punktesystems" für Einwanderungen auf. Sanders ist davon überzeugt, dass die Ankunftsstadt eine Maschine ist, die die Menschen verändert. "Außerdem ist sie, wenn man sie gedeihen lässt, das Instrument, das eine nachhaltig lebende und wirtschaftende Welt hervorbringen wird." Auf den Leser wartet ein außergewöhnliches, visionäres und faszinierendes Buch.
JOCHEN ZENTHÖFER.
Doug Saunders: Arrival City.
Blessing Verlag, München 2011, 576 Seiten, 22,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ankunftsstädte sind keine Endstationen
Auf beeindruckende Art und Weise berichtet der kanadisch-britische Journalist Doug Saunders über die "Ankunftsstädte" dieser Welt. Hunderte Millionen Menschen ziehen vom Land in die Randgebiete, Außensiedlungen oder Banlieues. Hier haben in der Vergangenheit bedeutende Entwicklungen begonnen: die Französische Revolution, der Sturz des letzten Schahs, der Aufstieg von Recep Tayyip Erdogans Partei und der Erfolg eines Hugo Chávez. Und hier wird in Zukunft noch weit mehr geschehen. Diese Orte werden über unseren Wohlstand entscheiden - vor allem in Europa.
Saunders beschreibt nicht nur real "angekommene" Menschen mit ihren Situationen, Hoffnungen und Plänen - die er allesamt während einer dreijährigen Reise besucht hat -, er leitet daraus auch Forderungen ab. Einer seiner Schlüsse, "der wohl weder den Ideologen der sozialistischen Linken noch den rechten Marktradikalen gefallen wird", lautet: "Will man den armen Migranten vom Land soziale Mobilität und Zugang zur Mittelschicht ermöglichen, braucht man sowohl einen freien Markt mit breit gestreutem Privateigentum als auch eine starke und durchsetzungsfähige Regierung, die bereit ist, massiv in diesen Übergang zu investieren." Das gelte für alle "Ankunftsstädte" dieser Welt. Aber in den letzten Jahrzehnten wurden Fehler gemacht.
"Zonierung und Flächennutzungspläne sind den Stadtplanern bis heute sehr wichtig. Sie glauben häufig immer noch, dass Städte streng in Wohn-, Geschäfts- und Leichtindustriebereiche unterteilt werden sollten - mit geringen Überschneidungen. Aber die erfolgreichsten Stadtviertel der Welt sind Bezirke, die eine extrem hohe Nutzungsdichte mit einer stark gemischten Nutzung verbinden." In der Tat fallen dem Leser Beispiele ein: die Londoner Stadtteile Kensington und Chelsea oder das 6. und 7. Arrondissement von Paris. "Die erfolgreiche Ankunftsstadt muss Raum für Spontaneität bieten. Ein bestimmtes Stück Land muss in einer Gemeinschaft von neu eingetroffenen Migranten von Zeit zu Zeit vielleicht als Wohnung, Laden, kleine Fabrik, Versammlungsort, Kirche oder für irgendeine Verbindung dieser Nutzungsarten dienen können, und es muss sich verändern und entwickeln."
Saunders Werk wird als Meilenstein in das Genre der Sachbuchgeschichte eingehen. Es zeigt, wie lebendig und leidenschaftlich ein Werk geschrieben werden kann, das die Erlebnisse realer Menschen mit der Auswertung wissenschaftlicher Analysen und einer Formulierung politischer Forderungen verbindet. Saunders kommt zu ähnlichen Schlüssen wie Edward Glaeser von der Harvard Universität, der vor wenigen Monaten dargelegt hatte, dass uns Städte "reicher, intelligenter, grüner, gesünder und glücklicher" machen (F.A.Z. vom 6. Juni 2011). Beide Autoren profitierten vom Weltentwicklungsbericht 2009, der die Wirtschaftsgeographie wieder in das öffentliche Bewusstsein zurückgebracht hat. Zentral in dieser von der Weltbank publizierten Studie war die Schlussfolgerung, dass die Politik Marktwirkungen, die qualifizierte Arbeitskräfte zusammenführen, nicht bekämpfen sollte (F.A.Z. vom 12. Oktober 2009).
"Dies war das erste umfassende amtliche Eingeständnis, dass die Ankunftsstädte in der Zukunft der Welt eine zentrale Rolle spielen." Die Einstellung der Behörden sei jedoch vielerorts eine andere. Fast drei Viertel der Regierungen in Entwicklungsländern wollten die Abwanderung vom Land in die Stadt einschränken. Dabei sei der wirksamste Weg zur Verringerung von Armut wirtschaftliches Treiben in der Stadt. Dafür müssen die Migranten kleine Geschäfte öffnen, verbrieftes Grundeigentum erwerben und ihre Kinder auf sichere Schulen schicken können. Saunders zeigt: Ist all dies gegeben, entsteht eine Generation später eine prosperierende Mittelschicht. Und: Die Städter senden viel Geld in ihre Ursprungsdörfer zurück. Viele Daheimgebliebenen können nur noch deswegen überleben.
Saunders Schlussfolgerungen sind nachvollziehbar und manchmal unbequem. Er widerlegt Karl Marx, verwirft den sozialen Wohnungsbau in Europa und zeigt negative wirtschaftliche Auswirkungen des australisch-kanadischen "Punktesystems" für Einwanderungen auf. Sanders ist davon überzeugt, dass die Ankunftsstadt eine Maschine ist, die die Menschen verändert. "Außerdem ist sie, wenn man sie gedeihen lässt, das Instrument, das eine nachhaltig lebende und wirtschaftende Welt hervorbringen wird." Auf den Leser wartet ein außergewöhnliches, visionäres und faszinierendes Buch.
JOCHEN ZENTHÖFER.
Doug Saunders: Arrival City.
Blessing Verlag, München 2011, 576 Seiten, 22,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2011Willkommen im Wartezimmer der Massen
Die Migration in die Städte ist kein Zivilisationsübel, sondern ein Fortschritt in jeder Hinsicht: Der kanadische Autor
Doug Saunders unternimmt eine Weltreise durch die Slums der Mega-Citys – und entdeckt eine ermutigende Dynamik
Das 20. Jahrhundert hat nicht nur das größte Städtewachstum der Weltgeschichte hervorgebracht, sondern ebenso massive Kampfansagen gegen die Über-Urbanisierung. Mao betrieb die Zwangsumsiedlung von 20 Millionen Städtern auf das Land, Pol Pot arbeitete an der Zerschlagung der kambodschanischen Städte, lateinamerikanische Diktaturen und das Apartheid-Regime in Südafrika versuchten, die Migration in die Städte zu blockieren. Gemeinsam haben alle anti-städtischen Feldzüge dreierlei: Sie stammen von autoritären Regimen, führen regelmäßig zur volkswirtschaftlichen Stagnation, und sie scheitern, weil die Menschen weiter in die Riesenstädte strömen.
Diese Abstimmung mit den Füßen hat seit ein, zwei Jahrzehnten auch die Stadt- und Entwicklungspolitik revolutioniert. Zuvor flossen achtzig Prozent der Fördermittel an den Städten vorbei, und es war oberstes politisches Ziel, die wilden Siedlungen, Slums, Shanty-towns und Favelas am Rand der Mega-Citys abzureißen, weil die Verwaltungen sie für menschenunwürdig hielten. Dank einer Vorhut von Graswurzel-Initiativen, Barfuß-Forschern und Nichtregierungsorganisationen haben mittlerweile auch die Vereinten Nationen, die Weltbank und viele Regierungen erkannt, dass die Elendsviertel nicht das Problem, sondern die Lösung für Millionen Menschen sind, die allerdings energischer politischer Unterstützung bedarf.
Auf einer breiten Basis von Stadtforschungen und Entwicklungsexpertisen baut der kanadische Journalist Doug Saunders seine beeindruckende Reportagereise an die Ränder von dreißig Riesenstädten weltweit auf. Mit einer Mischung aus Interviews, Lebensbeschreibungen, wissenschaftlicher Analyse und sozialpolitischem Kommentar verficht er seine Generalthese: Die Migration in die Städte ist kein schreckliches Zivilisationsübel, sondern in jeder Hinsicht ein Fortschritt. Damit aktualisiert er ein vergessenes stadthistorisches Wissen: dass echte Großstädte vom antiken Alexandria bis zum modernen New York immer Freihäfen und Schutzinstitut für die entwurzelten Massen waren. Mit seiner klugen Wortprägung „Ankunftsstadt“ betont Saunders den dynamischen Charakter der Massensiedlungen in Dhaka, Rio, Caracas und Mumbai, die er nicht als Endstationen gescheiterter Hoffnungen, sondern als Wartezimmer und Übergangsstationen sieht. Soziologisch leider wenig trennscharf macht der Autor darin vier Funktionen aus: Sie bilden Brücken zwischen Herkunftsdorf und neuem Stadtzentrum, soziale Netzwerke als Ersatz für die verlorene Sicherheit der Großfamilie, Zugangsmechanismen für Nachrücker („Kettenmigration“) und Sprungbretter für soziale Mobilität.
Was für Auswärtige wie Müllhaufen aussieht, schildert Saunders aus der Innenperspektive der Bewohner als erste Stufe zum Aufstieg. Das Erscheinungsbild hält er ohnehin für trügerisch: Durch den beständigen Wegzug der Aufsteiger sei der Erfolg eines Quartiers bloß undeutlich wahrnehmbar, weil stets die ärmeren Ankömmlinge das Bild prägen. So sprechen auch die Vereinten Nationen seit neuestem nicht mehr von „Slums der Verzweiflung“, sondern von „Slums der Hoffnung“. Dort floriert eine gigantische Schattenwirtschaft aus informellen Arbeitsverhältnissen und selbstständigen Randexistenzen, die in vielen Ländern zum Kern der gewerblichen Wirtschaft aufsteigen. Sie machen die Hälfte aller Arbeitsplätze in Lateinamerika, zwei Drittel in Indien und 90 Prozent in den ärmsten Ländern Afrikas aus. Provokant vergleicht der Autor diese Siedlungen mit den Massenquartieren in den europäischen Hauptstädten des 19. Jahrhunderts. Auch hier schuf das zugewanderte Proletariat unter extremen Entbehrungen die Grundlagen der Industrialisierung und prägte auch baulich die Urbanisierung. Zwar entstanden die Arbeiterviertel von London, Paris und Berlin aus einer völlig anderen ökonomischen Vergesellschaftungslogik als der Dharavi-Slum in Mumbai oder die Favela Santa Maria in Rio. Doch weil die Sozialkritik diese Gebilde ähnlich schmäht wie heute die Siedlungen der Dritten Welt, macht dieser historische Rekurs deutlich, dass die Transformation der Schwellenländer in vollem Gang ist und Migration der Motor der Urbanisierung bleibt.
Längst hat die Landflucht auch in der Ersten Welt neue Ankunftsstädte hervorgebracht. Indem die Immigranten in die Villes nouvelles von Paris oder die Trabantenstädte von Amsterdam abgedrängt werden, entstehen laut Saunders „blockierte Ankunftsstädte“. Er zeigt anhand der baulichen Gestalt von Evry – einem der Zentren der Banlieue-Krawalle 2005 – oder Slotervaart – der Heimat des Mörders von Theo van Gogh –, warum Großsiedlungen keine aufnahmefähigen Städte ergeben: Die physische und soziale Dichte ist zu gering für Netzwerke, die Spezialisierung auf reine Wohnfunktionen vereitelt jede informelle gewerbliche Nutzung, die Häuser stehen isoliert in Grünzonen und haben keinen Anschluss an Straßen und Höfe, weshalb es keine Läden oder Werkstätten für Existenzgründer gibt.
Ein solches Stück Dritte Welt in Europa wollen die Behörden und Wohnungsträger freilich mit aller Kraft verhindern; lieber halten sie die Bewohner mit subventionierten Mieten und Sozialarbeitern dauerhaft in Abhängigkeit. Saunders ahnt, wie man diese Quartiere lebensfähig macht – „indem man sie weniger ordentlich, weniger geplant, weniger vorherbestimmt gestaltet“. Die bittere Lektion von Shenzhen, der Mega-City in der Sonderwirtschaftszone bei Hongkong, sieht der Autor als Warnung: Seitdem die wilden Siedlungen dort durch gigantische Wohnhochhäuser ersetzt werden, bleiben die Zuwanderer weg und hunderttausende Arbeitsplätze unbesetzt.
Der Geburtenüberschuss, der die Wanderungen antreibt, rührt aus den ländlichen Regionen her. Erst nach der Ankunft in den Städten sinkt die Reproduktionsrate signifikant. Die Vereinten Nationen setzen daher große Hoffnungen auf Mega-Citys: Wenn die weltweite Urbanisierung im Jahr 2050 ihren Gipfel erreicht hat, so die Prognosen, wird die Weltbevölkerung sich auf einem Niveau von neun Milliarden Menschen stabilisieren.
Mit einer Laisser-faire-Politik allerdings ist das nicht zu erreichen. Alle Erfolgsstädte von Istanbul bis Sao Paolo nutzten ein vergleichbares Instrument: die Umwandlung illegal besetzten Landes in reguläres Kleineigentum. Migranten streben nach sicheren Nutzungsrechten, weshalb die Bildung eines halbwegs geordneten Eigentums- und Hypothekenmarktes die wichtigste Aufgabe der lokalen Behörden ist. Doch ohne öffentliche Versorgungsdienstleistungen und Infrastruktur ist das Besitzrecht wenig wert.
Leider ist Saunders’ Weltreise streckenweise von ermüdender Redundanz, weil die journalistische Anschauung der Lebensverhältnisse zu sehr in die Breite und die begriffliche Durchdringung der Entwicklungsdynamik zu wenig in die Tiefe geht. So bleiben die Widersprüche zwischen neuen Eigentumsrechten und Verdrängung der noch Ärmeren ungelöst, ethnische Spannungen und Identitätspolitiken werden weitgehend ignoriert.
Gleichwohl ist „Arrival City“ ein ermutigendes Gegenstück zur Apokalypse „Planet der Slums“ von Mike Davis, der 2006 die neue politische Vorliebe für informelle Ökonomie und Selbstorganisation als Ausrede für neoliberales Staatsversagen anprangerte. Während Davis dem Elend der Welt gleichsam mit einer systemischen Großoperation beikommen will, ist Doug Saunders mit dem prall gefüllten Erste-Hilfe-Koffer bereits an Ort und Stelle. Die Bewohner der Ankunftsstädte werden wissen, was ihnen hier und heute mehr nützt. MICHAEL MÖNNINGER
Doug Saunders
Arrival City
Aus dem Englischen von Werner Roller. Karl Blessing Verlag, München.
573 Seiten, 22,95 Euro.
Weniger ordentlich, weniger
geplant – das wäre
meist besser
Rocinha, ein Stadtviertel Rio de Janeiros, hat sich aus einer Favela entwickelt. Inzwischen gibt es hier auch Häuser mit legalisierten Besitzverhältnissen.
Foto: Ricardo Moraes/Reuters
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Migration in die Städte ist kein Zivilisationsübel, sondern ein Fortschritt in jeder Hinsicht: Der kanadische Autor
Doug Saunders unternimmt eine Weltreise durch die Slums der Mega-Citys – und entdeckt eine ermutigende Dynamik
Das 20. Jahrhundert hat nicht nur das größte Städtewachstum der Weltgeschichte hervorgebracht, sondern ebenso massive Kampfansagen gegen die Über-Urbanisierung. Mao betrieb die Zwangsumsiedlung von 20 Millionen Städtern auf das Land, Pol Pot arbeitete an der Zerschlagung der kambodschanischen Städte, lateinamerikanische Diktaturen und das Apartheid-Regime in Südafrika versuchten, die Migration in die Städte zu blockieren. Gemeinsam haben alle anti-städtischen Feldzüge dreierlei: Sie stammen von autoritären Regimen, führen regelmäßig zur volkswirtschaftlichen Stagnation, und sie scheitern, weil die Menschen weiter in die Riesenstädte strömen.
Diese Abstimmung mit den Füßen hat seit ein, zwei Jahrzehnten auch die Stadt- und Entwicklungspolitik revolutioniert. Zuvor flossen achtzig Prozent der Fördermittel an den Städten vorbei, und es war oberstes politisches Ziel, die wilden Siedlungen, Slums, Shanty-towns und Favelas am Rand der Mega-Citys abzureißen, weil die Verwaltungen sie für menschenunwürdig hielten. Dank einer Vorhut von Graswurzel-Initiativen, Barfuß-Forschern und Nichtregierungsorganisationen haben mittlerweile auch die Vereinten Nationen, die Weltbank und viele Regierungen erkannt, dass die Elendsviertel nicht das Problem, sondern die Lösung für Millionen Menschen sind, die allerdings energischer politischer Unterstützung bedarf.
Auf einer breiten Basis von Stadtforschungen und Entwicklungsexpertisen baut der kanadische Journalist Doug Saunders seine beeindruckende Reportagereise an die Ränder von dreißig Riesenstädten weltweit auf. Mit einer Mischung aus Interviews, Lebensbeschreibungen, wissenschaftlicher Analyse und sozialpolitischem Kommentar verficht er seine Generalthese: Die Migration in die Städte ist kein schreckliches Zivilisationsübel, sondern in jeder Hinsicht ein Fortschritt. Damit aktualisiert er ein vergessenes stadthistorisches Wissen: dass echte Großstädte vom antiken Alexandria bis zum modernen New York immer Freihäfen und Schutzinstitut für die entwurzelten Massen waren. Mit seiner klugen Wortprägung „Ankunftsstadt“ betont Saunders den dynamischen Charakter der Massensiedlungen in Dhaka, Rio, Caracas und Mumbai, die er nicht als Endstationen gescheiterter Hoffnungen, sondern als Wartezimmer und Übergangsstationen sieht. Soziologisch leider wenig trennscharf macht der Autor darin vier Funktionen aus: Sie bilden Brücken zwischen Herkunftsdorf und neuem Stadtzentrum, soziale Netzwerke als Ersatz für die verlorene Sicherheit der Großfamilie, Zugangsmechanismen für Nachrücker („Kettenmigration“) und Sprungbretter für soziale Mobilität.
Was für Auswärtige wie Müllhaufen aussieht, schildert Saunders aus der Innenperspektive der Bewohner als erste Stufe zum Aufstieg. Das Erscheinungsbild hält er ohnehin für trügerisch: Durch den beständigen Wegzug der Aufsteiger sei der Erfolg eines Quartiers bloß undeutlich wahrnehmbar, weil stets die ärmeren Ankömmlinge das Bild prägen. So sprechen auch die Vereinten Nationen seit neuestem nicht mehr von „Slums der Verzweiflung“, sondern von „Slums der Hoffnung“. Dort floriert eine gigantische Schattenwirtschaft aus informellen Arbeitsverhältnissen und selbstständigen Randexistenzen, die in vielen Ländern zum Kern der gewerblichen Wirtschaft aufsteigen. Sie machen die Hälfte aller Arbeitsplätze in Lateinamerika, zwei Drittel in Indien und 90 Prozent in den ärmsten Ländern Afrikas aus. Provokant vergleicht der Autor diese Siedlungen mit den Massenquartieren in den europäischen Hauptstädten des 19. Jahrhunderts. Auch hier schuf das zugewanderte Proletariat unter extremen Entbehrungen die Grundlagen der Industrialisierung und prägte auch baulich die Urbanisierung. Zwar entstanden die Arbeiterviertel von London, Paris und Berlin aus einer völlig anderen ökonomischen Vergesellschaftungslogik als der Dharavi-Slum in Mumbai oder die Favela Santa Maria in Rio. Doch weil die Sozialkritik diese Gebilde ähnlich schmäht wie heute die Siedlungen der Dritten Welt, macht dieser historische Rekurs deutlich, dass die Transformation der Schwellenländer in vollem Gang ist und Migration der Motor der Urbanisierung bleibt.
Längst hat die Landflucht auch in der Ersten Welt neue Ankunftsstädte hervorgebracht. Indem die Immigranten in die Villes nouvelles von Paris oder die Trabantenstädte von Amsterdam abgedrängt werden, entstehen laut Saunders „blockierte Ankunftsstädte“. Er zeigt anhand der baulichen Gestalt von Evry – einem der Zentren der Banlieue-Krawalle 2005 – oder Slotervaart – der Heimat des Mörders von Theo van Gogh –, warum Großsiedlungen keine aufnahmefähigen Städte ergeben: Die physische und soziale Dichte ist zu gering für Netzwerke, die Spezialisierung auf reine Wohnfunktionen vereitelt jede informelle gewerbliche Nutzung, die Häuser stehen isoliert in Grünzonen und haben keinen Anschluss an Straßen und Höfe, weshalb es keine Läden oder Werkstätten für Existenzgründer gibt.
Ein solches Stück Dritte Welt in Europa wollen die Behörden und Wohnungsträger freilich mit aller Kraft verhindern; lieber halten sie die Bewohner mit subventionierten Mieten und Sozialarbeitern dauerhaft in Abhängigkeit. Saunders ahnt, wie man diese Quartiere lebensfähig macht – „indem man sie weniger ordentlich, weniger geplant, weniger vorherbestimmt gestaltet“. Die bittere Lektion von Shenzhen, der Mega-City in der Sonderwirtschaftszone bei Hongkong, sieht der Autor als Warnung: Seitdem die wilden Siedlungen dort durch gigantische Wohnhochhäuser ersetzt werden, bleiben die Zuwanderer weg und hunderttausende Arbeitsplätze unbesetzt.
Der Geburtenüberschuss, der die Wanderungen antreibt, rührt aus den ländlichen Regionen her. Erst nach der Ankunft in den Städten sinkt die Reproduktionsrate signifikant. Die Vereinten Nationen setzen daher große Hoffnungen auf Mega-Citys: Wenn die weltweite Urbanisierung im Jahr 2050 ihren Gipfel erreicht hat, so die Prognosen, wird die Weltbevölkerung sich auf einem Niveau von neun Milliarden Menschen stabilisieren.
Mit einer Laisser-faire-Politik allerdings ist das nicht zu erreichen. Alle Erfolgsstädte von Istanbul bis Sao Paolo nutzten ein vergleichbares Instrument: die Umwandlung illegal besetzten Landes in reguläres Kleineigentum. Migranten streben nach sicheren Nutzungsrechten, weshalb die Bildung eines halbwegs geordneten Eigentums- und Hypothekenmarktes die wichtigste Aufgabe der lokalen Behörden ist. Doch ohne öffentliche Versorgungsdienstleistungen und Infrastruktur ist das Besitzrecht wenig wert.
Leider ist Saunders’ Weltreise streckenweise von ermüdender Redundanz, weil die journalistische Anschauung der Lebensverhältnisse zu sehr in die Breite und die begriffliche Durchdringung der Entwicklungsdynamik zu wenig in die Tiefe geht. So bleiben die Widersprüche zwischen neuen Eigentumsrechten und Verdrängung der noch Ärmeren ungelöst, ethnische Spannungen und Identitätspolitiken werden weitgehend ignoriert.
Gleichwohl ist „Arrival City“ ein ermutigendes Gegenstück zur Apokalypse „Planet der Slums“ von Mike Davis, der 2006 die neue politische Vorliebe für informelle Ökonomie und Selbstorganisation als Ausrede für neoliberales Staatsversagen anprangerte. Während Davis dem Elend der Welt gleichsam mit einer systemischen Großoperation beikommen will, ist Doug Saunders mit dem prall gefüllten Erste-Hilfe-Koffer bereits an Ort und Stelle. Die Bewohner der Ankunftsstädte werden wissen, was ihnen hier und heute mehr nützt. MICHAEL MÖNNINGER
Doug Saunders
Arrival City
Aus dem Englischen von Werner Roller. Karl Blessing Verlag, München.
573 Seiten, 22,95 Euro.
Weniger ordentlich, weniger
geplant – das wäre
meist besser
Rocinha, ein Stadtviertel Rio de Janeiros, hat sich aus einer Favela entwickelt. Inzwischen gibt es hier auch Häuser mit legalisierten Besitzverhältnissen.
Foto: Ricardo Moraes/Reuters
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