Bei der Recherche über das Dorf Obersalzberg, den Wohnort und zweiten Regierungssitz Hitlers in der Nähe von Berchtesgaden, stößt Ulrich Chaussy auf Arthur Eichengrün. Wer war dieser völlig vergessene jüdische Nachbar Hitlers? In drei Jahrzehnten Arbeit rekonstruiert Chaussy Eichengrüns Biografie und entdeckt einen der bedeutendsten Chemiker und Erfinder der Kaiserzeit und der Weimarer Republik wieder: Eichengrün ist Forscher, Erfinder und Unternehmer in Personalunion. Er synthetisiert Kokain und wir verdanken ihm das Aspirin. Er erfindet den unbrennbaren Kinofilm und revolutioniert mit seinem Cellon-Spannlack den Bau der stoffbespannten Flugzeuge und Zeppeline. Ab 1933 gelten all seine Verdienste nichts mehr. Er verliert allen Besitz. Plötzlich ist der assimilierte Patriot nur noch eines: Jude. Deportiert ins KZ Theresienstadt muss der große Chemiker erkennen, dass er eines nicht umformen und synthetisieren konnte: Eine Identität, die ihn vor dem Rassenwahn der Nationalsozialisten hätte schützen können. Ulrich Chaussy schreibt Arthur Eichengrün, diesen großen Erfinder und Wissenschaftler, fulminant zurück ins kollektive Gedächtnis.
Es ist ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen mag. Heribert Prantl Süddeutsche Zeitung 20231210
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eigentlich gilt die Geschichte des Obersalzberges als gut erforscht, der Journalist Ulrich Chaussy konnte dennoch einen bisher von der Forschung vernachlässigten und von den Nazis enteigneten Ansässigen ausfindig machen und dessen Leben nachgehen, schreibt Rezensent Hannes Hintermeier. Arthur Eichengrün war ein jüdischer Chemiker, der nicht nur an der Entwicklung von Aspirin beteiligt war, sondern auch etliche kriegswichtige Kunststoffprodukte erfunden hat, erfahren wir. In der NS-Zeit wird er im KZ Theresienstadt interniert, er überlebt, stirbt aber wenige Jahre nach Kriegsende verarmt - ein aufregendes Leben, das Chaussy hier rekonstruiert, findet Hintermeier, da hätte es die kursiven Passagen gar nicht gebraucht, die eine Art fiktionalisierte Stimme eines Mannes darstellen sollen, der wenig persönliche Zeugnisse hinterlassen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2024Seine Nachbarn hießen Hitler und Göring
Ulrich Chaussy rekonstruiert das Leben des Chemikers und Unternehmers Arthur Eichengrün
Gefackelt wurde nicht lange, als der Obersalzberg enteignet wurde. Wer nicht verkaufte, wurde mit KZ bedroht. Um das "Führersperrgebiet" nahe Berchtesgaden, eine Bergsiedlung der nationalsozialistischen Elite rund um Adolf Hitler, hochzuziehen, wurden seit Generationen dort ansässige Bergbauen ebenso vertrieben wie Besitzer von Ferienhäusern. Was damals geschah, ist in der neuen Dokumentation Obersalzberg gut aufgearbeitet (F.A.Z. vom 28. September 2023).
Und doch hat der Münchner Journalist Ulrich Chaussy, der mit seinen jahrzehntelangen Recherchen zum Oktoberfestattentat vorbildliche Aufklärungsarbeit geleistet hat, in diesem Kosmos eine erstaunliche Figur entdeckt, die vor bald vierzig Jahren nur noch einer Zeitzeugin bekannt war - Doktor Eichengrün. Arthur Eichengrün, ein jüdischer Spitzenchemiker, besaß auf dem Obersalzberg ein Haus. Chaussy stolpert 1987 über den Namen, und die Leerstelle lässt ihn nicht mehr los. Das Resultat seiner Rekonstruktion hat er jetzt in einem Buch zusammengetragen, das im Untertitel eine derzeit gängige Floskel bemüht: "Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst".
Um 1930 gilt Eichengrün als innovativster Kopf der chemischen Industrie. Drei Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird er mit einem ausführlichen Eintrag im "Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft" geadelt. Eine glänzende Karriere und viele Erfindungen hatten ihm diese Position gesichert.
1868 in Hannover als Sohn eines Tuchfabrikanten geboren und in der Kaiserzeit aufgewachsen, macht der junge Eichengrün schnell Karriere bei Bayer in Elberfeld. Als pharmazeutischer Chemiker ist er Teil eines Laborteams, das 1897 das Aspirin entwickelt. Zur gleichen Zeit wird dort von Felix Hoffmann Heroin halbsynthetisiert, dem auch die Synthetisierung der Acetylsalicylsäure zugeschrieben wird. Aber die Idee dazu reklamierte noch fünfzig Jahre später ebenjener Arthur Eichengrün für sich. Bis heute ist umstritten, wie es sich wirklich zutrug. Chaussy schreibt seinem Protagonisten eine größere Rolle zu, als es die Geschichtsschreibung bislang tat.
Eichengrün verlagert sein Arbeitsgebiet immer mehr Richtung Kunststoffe, er entwickelt Material für die Fahrt aufnehmende Foto- und Filmindustrie, darunter Blitzlichter. Das von ihm entwickelte Cellon, ein schwer brennbares Gemisch, wurde zur Lackierung der Bespannung von Zeppelinen und Flugzeugen eingesetzt. Der Erste Weltkrieg macht Chemiker wie Eichengrün zu kriegswichtigen Experten.
Sein Judentum scheint ihn nicht besonders beschäftigt zu haben, eine Konversion zum christlichen Glauben hat er nicht unternommen. Eichengrün begreift sich in erster Linie als deutscher Erfinder, der mit seinen vielen Patenten den internationalen Markt im Auge hat. Für Politik hat er sich, das ist aus heutiger Sicht leicht zu diagnostizieren, nicht ausreichend interessiert. Seine Schwäche für die Bergwelt ging einher mit einer noch viel größeren für die Frauen. Der erfolgreiche Fabrikant mit einer stattlichen Villa im Grunewald hatte diverse Ehefrauen, Affären hier und dort, sein Stammbaum verzweigt sich beträchtlich, die Schar seiner Kinder und Kindeskinder ist groß.
Unermüdlich erfindet er neue Produkte, Goldfolie zur Ummantelung von Zigaretten, eine elastische Schallfolie, die man auf dem Grammophon abspielen kann. Diese "prägefähigen Sprechmaschinenplatten" sucht Chaussy jahrelang, auch weil er hoffte, auf ihnen die Stimme Eichengrüns zu hören - doch vergeblich. Weswegen er auf den Trick verfällt, sich die Stimme Eichengrüns zu borgen: Der fährt dem Biographen in kursiv gesetzten Passagen wie aus dem Jenseits korrigierend in die Parade. Der Autor nennt das ein "fiktionales Mittel zur Infragestellung" seiner Perspektive. Es zeigt eher, wie tief Chaussy sich in diese Recherche persönlich verstrickt hat. Der Sache dient es nicht unbedingt.
Denn Eichengrüns Lebensweg ist aufregend genug. Und eng mit der Zeitgeschichte verwoben. Inmitten der Arisierung lebt er am Berliner Kaiserdamm 34, in der Wohnung unter ihm residiert Hermann Göring. Das ehemalige Flieger-Ass kennt den Chemiker, weiß um dessen Rolle im Flugzeugbau. Erst Jahre nach der Machtergreifung soll Göring im Lift zu Eichengrün gesagt haben: Herr Doktor, warum wandern Sie eigentlich nicht aus? Wusste Göring nicht, dass Eichengrüns Ausreiseantrag nach London abgelehnt worden war?
Eichengrün sitzt fest, während sich seine Familie in alle Winde zerstreut, verliert seine Fabrik, seine Immobilien, sein Geld, wird von der Gestapo abgeholt, landet schließlich 1944 im KZ Theresienstadt - als einer von zweihundert Prominenten, denen die SS bessere Haftbedingungen einräumt. Im Herbst 1945 stellt er, seine letzte Berliner Wohnung ist ausgebrannt, Strafanzeige gegen die NS-Funktionäre, die ihm die Ausreise verwehrt haben - natürlich ohne Ergebnis. 1947 versammelt Eichengrün auf drei Schreibmaschinenseiten "Was ich den Nazis zu verdanken habe" - to whom it may concern. Die Technische Hochschule Berlin verleiht ihm zum Achtzigsten die Ehrendoktorwürde. Das hilft zwar, seinen vergessenen Ruf wiederherzustellen, aber Eichengrün ist alt, mittellos und am Ende seiner Kräfte. Er strandet in Bad Wiessee, wo er am Tag vor Heiligabend 1949 stirbt.
Arthur Eichengrün hielt, zum Verdruss des Biographen, sein Privatleben für sich, legte nicht Zeugnis über seine Gemütszustände ab. Und doch hinterlässt Ulrich Chaussys Recherche den Eindruck, der Mann habe sehr wohl die Gabe gehabt, sich durch viele Häutungen der Außenwelt anzupassen. Er scheint dabei aber so auf sein Selbstbild als Naturwissenschaftler und Unternehmer fixiert gewesen zu sein, dass ihm entging, was er besser nicht übersehen hätte. HANNES HINTERMEIER
Ulrich Chaussy: "Arthur Eichengrün". Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst.
Herder Verlag, Freiburg 2023. 368 S., Abb., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrich Chaussy rekonstruiert das Leben des Chemikers und Unternehmers Arthur Eichengrün
Gefackelt wurde nicht lange, als der Obersalzberg enteignet wurde. Wer nicht verkaufte, wurde mit KZ bedroht. Um das "Führersperrgebiet" nahe Berchtesgaden, eine Bergsiedlung der nationalsozialistischen Elite rund um Adolf Hitler, hochzuziehen, wurden seit Generationen dort ansässige Bergbauen ebenso vertrieben wie Besitzer von Ferienhäusern. Was damals geschah, ist in der neuen Dokumentation Obersalzberg gut aufgearbeitet (F.A.Z. vom 28. September 2023).
Und doch hat der Münchner Journalist Ulrich Chaussy, der mit seinen jahrzehntelangen Recherchen zum Oktoberfestattentat vorbildliche Aufklärungsarbeit geleistet hat, in diesem Kosmos eine erstaunliche Figur entdeckt, die vor bald vierzig Jahren nur noch einer Zeitzeugin bekannt war - Doktor Eichengrün. Arthur Eichengrün, ein jüdischer Spitzenchemiker, besaß auf dem Obersalzberg ein Haus. Chaussy stolpert 1987 über den Namen, und die Leerstelle lässt ihn nicht mehr los. Das Resultat seiner Rekonstruktion hat er jetzt in einem Buch zusammengetragen, das im Untertitel eine derzeit gängige Floskel bemüht: "Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst".
Um 1930 gilt Eichengrün als innovativster Kopf der chemischen Industrie. Drei Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird er mit einem ausführlichen Eintrag im "Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft" geadelt. Eine glänzende Karriere und viele Erfindungen hatten ihm diese Position gesichert.
1868 in Hannover als Sohn eines Tuchfabrikanten geboren und in der Kaiserzeit aufgewachsen, macht der junge Eichengrün schnell Karriere bei Bayer in Elberfeld. Als pharmazeutischer Chemiker ist er Teil eines Laborteams, das 1897 das Aspirin entwickelt. Zur gleichen Zeit wird dort von Felix Hoffmann Heroin halbsynthetisiert, dem auch die Synthetisierung der Acetylsalicylsäure zugeschrieben wird. Aber die Idee dazu reklamierte noch fünfzig Jahre später ebenjener Arthur Eichengrün für sich. Bis heute ist umstritten, wie es sich wirklich zutrug. Chaussy schreibt seinem Protagonisten eine größere Rolle zu, als es die Geschichtsschreibung bislang tat.
Eichengrün verlagert sein Arbeitsgebiet immer mehr Richtung Kunststoffe, er entwickelt Material für die Fahrt aufnehmende Foto- und Filmindustrie, darunter Blitzlichter. Das von ihm entwickelte Cellon, ein schwer brennbares Gemisch, wurde zur Lackierung der Bespannung von Zeppelinen und Flugzeugen eingesetzt. Der Erste Weltkrieg macht Chemiker wie Eichengrün zu kriegswichtigen Experten.
Sein Judentum scheint ihn nicht besonders beschäftigt zu haben, eine Konversion zum christlichen Glauben hat er nicht unternommen. Eichengrün begreift sich in erster Linie als deutscher Erfinder, der mit seinen vielen Patenten den internationalen Markt im Auge hat. Für Politik hat er sich, das ist aus heutiger Sicht leicht zu diagnostizieren, nicht ausreichend interessiert. Seine Schwäche für die Bergwelt ging einher mit einer noch viel größeren für die Frauen. Der erfolgreiche Fabrikant mit einer stattlichen Villa im Grunewald hatte diverse Ehefrauen, Affären hier und dort, sein Stammbaum verzweigt sich beträchtlich, die Schar seiner Kinder und Kindeskinder ist groß.
Unermüdlich erfindet er neue Produkte, Goldfolie zur Ummantelung von Zigaretten, eine elastische Schallfolie, die man auf dem Grammophon abspielen kann. Diese "prägefähigen Sprechmaschinenplatten" sucht Chaussy jahrelang, auch weil er hoffte, auf ihnen die Stimme Eichengrüns zu hören - doch vergeblich. Weswegen er auf den Trick verfällt, sich die Stimme Eichengrüns zu borgen: Der fährt dem Biographen in kursiv gesetzten Passagen wie aus dem Jenseits korrigierend in die Parade. Der Autor nennt das ein "fiktionales Mittel zur Infragestellung" seiner Perspektive. Es zeigt eher, wie tief Chaussy sich in diese Recherche persönlich verstrickt hat. Der Sache dient es nicht unbedingt.
Denn Eichengrüns Lebensweg ist aufregend genug. Und eng mit der Zeitgeschichte verwoben. Inmitten der Arisierung lebt er am Berliner Kaiserdamm 34, in der Wohnung unter ihm residiert Hermann Göring. Das ehemalige Flieger-Ass kennt den Chemiker, weiß um dessen Rolle im Flugzeugbau. Erst Jahre nach der Machtergreifung soll Göring im Lift zu Eichengrün gesagt haben: Herr Doktor, warum wandern Sie eigentlich nicht aus? Wusste Göring nicht, dass Eichengrüns Ausreiseantrag nach London abgelehnt worden war?
Eichengrün sitzt fest, während sich seine Familie in alle Winde zerstreut, verliert seine Fabrik, seine Immobilien, sein Geld, wird von der Gestapo abgeholt, landet schließlich 1944 im KZ Theresienstadt - als einer von zweihundert Prominenten, denen die SS bessere Haftbedingungen einräumt. Im Herbst 1945 stellt er, seine letzte Berliner Wohnung ist ausgebrannt, Strafanzeige gegen die NS-Funktionäre, die ihm die Ausreise verwehrt haben - natürlich ohne Ergebnis. 1947 versammelt Eichengrün auf drei Schreibmaschinenseiten "Was ich den Nazis zu verdanken habe" - to whom it may concern. Die Technische Hochschule Berlin verleiht ihm zum Achtzigsten die Ehrendoktorwürde. Das hilft zwar, seinen vergessenen Ruf wiederherzustellen, aber Eichengrün ist alt, mittellos und am Ende seiner Kräfte. Er strandet in Bad Wiessee, wo er am Tag vor Heiligabend 1949 stirbt.
Arthur Eichengrün hielt, zum Verdruss des Biographen, sein Privatleben für sich, legte nicht Zeugnis über seine Gemütszustände ab. Und doch hinterlässt Ulrich Chaussys Recherche den Eindruck, der Mann habe sehr wohl die Gabe gehabt, sich durch viele Häutungen der Außenwelt anzupassen. Er scheint dabei aber so auf sein Selbstbild als Naturwissenschaftler und Unternehmer fixiert gewesen zu sein, dass ihm entging, was er besser nicht übersehen hätte. HANNES HINTERMEIER
Ulrich Chaussy: "Arthur Eichengrün". Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst.
Herder Verlag, Freiburg 2023. 368 S., Abb., geb., 26,- Euro.
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