Was uns die Vergangenheit zu erzählen hat
"Ich hatte ein tolles Leben", erzählt Arthur Kern und meint seine Kindheit in Wien – bis zu jenem Moment, als er 1939, gerade mal zehn Jahre alt, jäh von seiner Familie getrennt wird. In der Hoffnung, ihn vor dem Holocaust zu bewahren, schicken ihn seine jüdischen Eltern mit einem Kindertransport in die Fremde – ein traumatisches Erlebnis für den Zehnjährigen. Zwar kann er sich über Frankreich nach Amerika retten, doch seine Familie wird er nicht mehr wiedersehen.
60 Jahre später: Bei einem Besuch der Wiener Wohnung seiner Kindertage lernt Arthur die elfjährige Lilly Maier kennen. Eine schicksalhafte Begegnung für beide, die nicht nur Lillys weiteres Leben prägt, sondern auch dazu führt, dass Arthur ein spätes Vermächtnis seiner Eltern zuteil wird …
"Ich hatte ein tolles Leben", erzählt Arthur Kern und meint seine Kindheit in Wien – bis zu jenem Moment, als er 1939, gerade mal zehn Jahre alt, jäh von seiner Familie getrennt wird. In der Hoffnung, ihn vor dem Holocaust zu bewahren, schicken ihn seine jüdischen Eltern mit einem Kindertransport in die Fremde – ein traumatisches Erlebnis für den Zehnjährigen. Zwar kann er sich über Frankreich nach Amerika retten, doch seine Familie wird er nicht mehr wiedersehen.
60 Jahre später: Bei einem Besuch der Wiener Wohnung seiner Kindertage lernt Arthur die elfjährige Lilly Maier kennen. Eine schicksalhafte Begegnung für beide, die nicht nur Lillys weiteres Leben prägt, sondern auch dazu führt, dass Arthur ein spätes Vermächtnis seiner Eltern zuteil wird …
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.11.2018Freunde fürs Leben
Lilly Maier und ihr Buch über Kindertransporte im Dritten Reich
München – Derartige Momente findet man normalerweise nur zu Beginn von guten Romanen: einzelne, kurze Begegnungen, die ein ganzes Menschenleben verändern. In der Realität sind derlei schicksalhafte Begebenheiten eher selten – zumindest lassen sie sich eher selten im Nachhinein bestimmen.
Lilly Maier, 26, kann den einen Moment, der ihr ganzes Leben verändert hat, sehr gut bestimmen. Die junge Frau mit den kurzen Haaren und der bunten Bluse spricht schnell, erzählt ausführlich und detailliert. Als sie elf Jahre alt ist, klopft es an der Tür der Wiener Wohnung ihrer Familie. Herein kommt Arthur Kern, ein älterer Amerikaner. Er hat mit seiner Familie vor dem Zweiten Weltkrieg in Lillys Wohnung gelebt, bevor er vor dem NS-Regime fliehen musste. Als einziger Überlebender seiner Familie kehrt er nun Jahrzehnte später zurück, um die Wohnung seiner Kindheit noch einmal zu sehen. Die meisten Elfjährigen würden ein derartiges Ergebnis wohl eher nur am Rande wahrnehmen, aber nicht so Lilly: sie schreibt zunächst eine Schularbeit über Arthur Kerns Mutter, später freundet sie sich mit Arthur Kern an, wird schon fast Teil der Familie. Und Jahre später entscheidet sie, ein Buch über Arthur Kerns Leben und ihre besondere Freundschaft zu ihm zu schreiben („Arthur und Lilly. Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende – Zwei Leben, eine Geschichte“, Heyne Verlag).
„Diese Begegnung war der Auslöser dafür, dass ich Historikerin werden wollte“, sagt Lilly heute. Ihre Masterarbeit hat sie über die französischen Kindertransporte am Beispiel von Arthur Kerns Schicksal verfasst. Die Arbeit wurde mit dem Forschungspreis der Ludwig-Maximilians-Universität München ausgezeichnet. Aber: „Hier konnte ich aber aus Platzgründen nur die Zeit bis 1941 abdecken. Ich wollte aber unbedingt sein ganzes Leben erzählen“, sagt sie.
Der Ansatz, den sie dazu gewählt hat, unterscheidet sich aber stark von den meisten bisherigen Veröffentlichungen zu diesem Thema. Denn anstatt eine nüchterne, wissenschaftliche Abhandlung zu verfassen, beschreibt sie Arthur Kerns Geschichte, verwoben mit der Geschichte ihrer Freundschaft zu ihm. So erfährt der Leser auch, wie sie dessen Familie zum ersten Mal in den USA besucht, wie Arthur Kern seine Flucht gegenüber seiner Familie und Freunden darstellt und wie Lilly schlussendlich ein Teil dieser österreichisch-amerikanischen Familie wird. Gleichzeitig sind die – deutlich ausführlicheren – biografischen Passagen, die Arthur Kerns verschiedene Stationen zwischen dem Wien der NS-Zeit und dem „rettenden Hafen“ Amerika nachzeichnen, bis ins kleinste Detail recherchiert.
Obwohl die tatsächliche Schreibzeit für das Buch nur wenige Monate beträgt, streckt sich Lillys Recherche über viele Jahre, Länder und Kontinente. Und sie will nicht nur Archive durchstöbern, sondern auch die Orte kennenlernen, durch die Arthur Kern gekommen ist: „Viele Historiker forschen ein Leben lang zu diesem Thema, aber bisher ist kaum einer auf die Idee gekommen, die tatsächlichen Orte des Geschehens auch zu besuchen“, sagt Lilly und schüttelt dabei ungläubig den Kopf. Sie selbst ist Arthur Kerns Weg von Wien über verschiedene Stationen in Frankreich bis hin in die USA gefolgt.
So gelingt es ihr, dem eigentlich historisch-wissenschaftlichen Werk einen romanhaften Charakter zu geben, der den Leser in den Bann schlagen soll. Denn Lilly ist davon überzeugt, dass „wir Geschichte deutlich intensiver und eindrücklicher erleben, wenn wir sie anhand eines einzelnen Schicksals erfahren“, sagt sie. Dabei ist ihr jedoch wichtig, dass die detailreichen, häufig sehr szenischen Beschreibungen der einzelnen Stationen allesamt akkurat auf der Grundlage von mehr als 5000 historischen Primärquellen belegt sind. Dazu hat sie sich durch unzählige Archive gearbeitet, Zeitzeugen interviewt, Tagebücher gelesen, Briefe gescannt und Kisten durchwühlt.
Häufig sind die Auszüge daraus auch bedrückend, etwa als Arthur Kerns Vater dem Sohn in ausschweifenden Briefen versichert, es werde alles gut werden – obwohl ihm zu dem Zeitpunkt bewusst sein muss, dass er das Konzentrationslager nicht mehr verlassen wird. Aber der Ton des Buches und dessen Protagonisten schlägt dabei nie in Bitterkeit um: „Ich habe die ‚Kinder‘, wie sich die durch die Kindertransporte geretteten bis heute nennen, als glückliche und zufriedene Menschen erlebt. Auch Arthur hat immer betont, wie zufrieden er mit seinem Leben ist“, beschreibt Lilly.
Und hier blitzt etwas Trauer in ihrem Gesicht auf, denn Arthur Kern selbst wird das Buch über ihn niemals lesen. Er starb, kurz bevor Lilly die Arbeit daran beginnt: „Er wusste, dass ich ein Buch über ihn schreiben will und er hat sich sehr darüber gefreut. Besonders schade finde ich deshalb auch, dass ich später noch Akten über ihn und Briefe an ihn in Archiven entdeckt habe, die er selbst gar nicht kannte. Das hätte ich ihm gerne noch gezeigt.“
Dennoch ist Lilly sehr froh, dass das Buch jetzt erscheint – und dass die jahrelange Recherche zu einer umfangreichen und emotionalen Dokumentation des Lebens ihres Freundes Arthur Kern geworden ist. Jetzt wird sie sich erst einmal ihrer Doktorarbeit in Geschichte widmen. Sie forscht zu Frauen, die während des Dritten Reichs Juden gerettet haben und über die sich kaum etwas in der Geschichtsforschung findet. Lilly sieht es ein bisschen als ihre Mission an: leere Seiten in Geschichtsbüchern zu füllen, die ohne sie vielleicht für immer unbeschrieben bleiben würden.
PHILIPP KREITER
Ihre Mission:
Leere Seiten in
Geschichtsbüchern füllen
Lilly Maier, hier am Staten-Island-Pier, recherchierte für ihr jetzt erscheinendes Buch auch in den USA.
Foto: Privatarchiv Lilly Maier
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lilly Maier und ihr Buch über Kindertransporte im Dritten Reich
München – Derartige Momente findet man normalerweise nur zu Beginn von guten Romanen: einzelne, kurze Begegnungen, die ein ganzes Menschenleben verändern. In der Realität sind derlei schicksalhafte Begebenheiten eher selten – zumindest lassen sie sich eher selten im Nachhinein bestimmen.
Lilly Maier, 26, kann den einen Moment, der ihr ganzes Leben verändert hat, sehr gut bestimmen. Die junge Frau mit den kurzen Haaren und der bunten Bluse spricht schnell, erzählt ausführlich und detailliert. Als sie elf Jahre alt ist, klopft es an der Tür der Wiener Wohnung ihrer Familie. Herein kommt Arthur Kern, ein älterer Amerikaner. Er hat mit seiner Familie vor dem Zweiten Weltkrieg in Lillys Wohnung gelebt, bevor er vor dem NS-Regime fliehen musste. Als einziger Überlebender seiner Familie kehrt er nun Jahrzehnte später zurück, um die Wohnung seiner Kindheit noch einmal zu sehen. Die meisten Elfjährigen würden ein derartiges Ergebnis wohl eher nur am Rande wahrnehmen, aber nicht so Lilly: sie schreibt zunächst eine Schularbeit über Arthur Kerns Mutter, später freundet sie sich mit Arthur Kern an, wird schon fast Teil der Familie. Und Jahre später entscheidet sie, ein Buch über Arthur Kerns Leben und ihre besondere Freundschaft zu ihm zu schreiben („Arthur und Lilly. Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende – Zwei Leben, eine Geschichte“, Heyne Verlag).
„Diese Begegnung war der Auslöser dafür, dass ich Historikerin werden wollte“, sagt Lilly heute. Ihre Masterarbeit hat sie über die französischen Kindertransporte am Beispiel von Arthur Kerns Schicksal verfasst. Die Arbeit wurde mit dem Forschungspreis der Ludwig-Maximilians-Universität München ausgezeichnet. Aber: „Hier konnte ich aber aus Platzgründen nur die Zeit bis 1941 abdecken. Ich wollte aber unbedingt sein ganzes Leben erzählen“, sagt sie.
Der Ansatz, den sie dazu gewählt hat, unterscheidet sich aber stark von den meisten bisherigen Veröffentlichungen zu diesem Thema. Denn anstatt eine nüchterne, wissenschaftliche Abhandlung zu verfassen, beschreibt sie Arthur Kerns Geschichte, verwoben mit der Geschichte ihrer Freundschaft zu ihm. So erfährt der Leser auch, wie sie dessen Familie zum ersten Mal in den USA besucht, wie Arthur Kern seine Flucht gegenüber seiner Familie und Freunden darstellt und wie Lilly schlussendlich ein Teil dieser österreichisch-amerikanischen Familie wird. Gleichzeitig sind die – deutlich ausführlicheren – biografischen Passagen, die Arthur Kerns verschiedene Stationen zwischen dem Wien der NS-Zeit und dem „rettenden Hafen“ Amerika nachzeichnen, bis ins kleinste Detail recherchiert.
Obwohl die tatsächliche Schreibzeit für das Buch nur wenige Monate beträgt, streckt sich Lillys Recherche über viele Jahre, Länder und Kontinente. Und sie will nicht nur Archive durchstöbern, sondern auch die Orte kennenlernen, durch die Arthur Kern gekommen ist: „Viele Historiker forschen ein Leben lang zu diesem Thema, aber bisher ist kaum einer auf die Idee gekommen, die tatsächlichen Orte des Geschehens auch zu besuchen“, sagt Lilly und schüttelt dabei ungläubig den Kopf. Sie selbst ist Arthur Kerns Weg von Wien über verschiedene Stationen in Frankreich bis hin in die USA gefolgt.
So gelingt es ihr, dem eigentlich historisch-wissenschaftlichen Werk einen romanhaften Charakter zu geben, der den Leser in den Bann schlagen soll. Denn Lilly ist davon überzeugt, dass „wir Geschichte deutlich intensiver und eindrücklicher erleben, wenn wir sie anhand eines einzelnen Schicksals erfahren“, sagt sie. Dabei ist ihr jedoch wichtig, dass die detailreichen, häufig sehr szenischen Beschreibungen der einzelnen Stationen allesamt akkurat auf der Grundlage von mehr als 5000 historischen Primärquellen belegt sind. Dazu hat sie sich durch unzählige Archive gearbeitet, Zeitzeugen interviewt, Tagebücher gelesen, Briefe gescannt und Kisten durchwühlt.
Häufig sind die Auszüge daraus auch bedrückend, etwa als Arthur Kerns Vater dem Sohn in ausschweifenden Briefen versichert, es werde alles gut werden – obwohl ihm zu dem Zeitpunkt bewusst sein muss, dass er das Konzentrationslager nicht mehr verlassen wird. Aber der Ton des Buches und dessen Protagonisten schlägt dabei nie in Bitterkeit um: „Ich habe die ‚Kinder‘, wie sich die durch die Kindertransporte geretteten bis heute nennen, als glückliche und zufriedene Menschen erlebt. Auch Arthur hat immer betont, wie zufrieden er mit seinem Leben ist“, beschreibt Lilly.
Und hier blitzt etwas Trauer in ihrem Gesicht auf, denn Arthur Kern selbst wird das Buch über ihn niemals lesen. Er starb, kurz bevor Lilly die Arbeit daran beginnt: „Er wusste, dass ich ein Buch über ihn schreiben will und er hat sich sehr darüber gefreut. Besonders schade finde ich deshalb auch, dass ich später noch Akten über ihn und Briefe an ihn in Archiven entdeckt habe, die er selbst gar nicht kannte. Das hätte ich ihm gerne noch gezeigt.“
Dennoch ist Lilly sehr froh, dass das Buch jetzt erscheint – und dass die jahrelange Recherche zu einer umfangreichen und emotionalen Dokumentation des Lebens ihres Freundes Arthur Kern geworden ist. Jetzt wird sie sich erst einmal ihrer Doktorarbeit in Geschichte widmen. Sie forscht zu Frauen, die während des Dritten Reichs Juden gerettet haben und über die sich kaum etwas in der Geschichtsforschung findet. Lilly sieht es ein bisschen als ihre Mission an: leere Seiten in Geschichtsbüchern zu füllen, die ohne sie vielleicht für immer unbeschrieben bleiben würden.
PHILIPP KREITER
Ihre Mission:
Leere Seiten in
Geschichtsbüchern füllen
Lilly Maier, hier am Staten-Island-Pier, recherchierte für ihr jetzt erscheinendes Buch auch in den USA.
Foto: Privatarchiv Lilly Maier
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»Das macht ihr [Lilly Maier] Buch so besonders: Es ist wissenschaftliches Werk, Reportage, Biografie und Autobiografie in einem.« Berliner Zeitung