Anita Cornelius ist Notärztin an einem großen Berliner Krankenhaus und liebt ihren Beruf. Sich auf unerwartete Situationen einzustellen, entspricht ihrem Temperament. Auch wenn es bei ihren Einsätzen nicht immer so aufregend zugeht, wie man sich das vorstellt. Anita ist das recht. Sie kann helfen. Und ab und zu sogar jemandem etwas Gutes tun. Adrian, ihr Exmann, ist Arzt am selben Krankenhaus. Sie haben sich erst vor kurzem in bestem Einvernehmen getrennt, und Lukas, ihr vierzehnjähriger Sohn, lebt bei seinem Vater und dessen neuer Freundin Heidi. Hätte Anita Adrian nicht zufällig bewusstlos auf der Krankenhaustoilette gefunden, zugedröhnt mit einem Narkosemittel, und hätte Heidi nicht dauernd diese flotten Sprüche losgelassen, dass jeder seines Glückes Schmied ist, dass Arme und Kranke oft genug selbst an ihrem Zustand schuld sind, dann könnte sich Anita weiter vormachen: alles ist in bester Ordnung. Ist es aber nicht. Weder privat noch beruflich. Kristof Magnusson erzählt mit großer Kenntnis aus dem Alltag einer Notärztin und gleichzeitig aus dem Alltag ihrer Patienten. Vor allem aber erzählt er witzig und unterhaltend aus dem Leben einer Frau Anfang vierzig, die mehr will als Routine und 'schöner Wohnen'.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
"Leichte Lektüre" im besten Sinne kann Rezensentin Katharina Granzin mit Kristof Magnussons "Arztroman" empfehlen. Denn der Roman, der die Kritikerin ein wenig an die Serie "Emergency Room" erinnert, ist menschlich packend und vor allem intelligent gemacht, lobt Granzin. Und so folgt sie hier der Notfallmedizinerin Anita Cornelius, die atemlos von Notfall zu Notfall hetzt, einen kettenrauchenden Rentner aus seiner Gartenlaube befreit, eine "Hipster-Hypochonderin" betreut und gleichzeitig ihr chaotisches Leben mit Ex-Mann, gemeinsamem Sohn und Liebhaber zu ordnen versucht. Dieses Buch hat der Kritikerin ausgesprochen gut gefallen und so hofft sie auf weitere Folgen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2014Nicht jeder Arzt ist auf der Suche nach dem guten Schnitt
Rettung naht in Gestalt einer eindrucksvollen Frau: Nach seinem vergnüglichen Ausflug in die Finanzkrise legt Kristof Magnusson nun einen "Arztroman" vor
Die üblichen Vorwürfe - junge deutsche Autoren hätten nichts zu erzählen, kreisten nur um sich oder flüchteten in die Vergangenheit - musste Kristof Magnusson sich nie anhören. Im Gegenteil: Der Hamburger mit isländischen Wurzeln, Jahrgang 1976, fiel bereits vor bald zehn Jahren mit seinem in Reykjavík angesiedelten Debüt "Zuhause" auf. Davor hatte der Absolvent des Leipziger Literaturinstituts schon auf dem Theater Erfolg; demnächst soll die Verfilmung seiner Komödie "Männerhort" über die Unvereinbarkeit der Lieblingsbeschäftigungen von Männern (irgendwas, Hauptsache, man kann dazu Bier trinken) und Frauen (Einkaufen) ins Kino kommen.
Magnussons zweiter Roman "Das war ich nicht" (2010) wurde gefeiert, weil er Finanz- und andere Krisen intelligent und unterhaltsam mischte. Die gekonnten Dialoge, die Figuren (Individualisten, keine Außenseiter), der selbstverständlich-selbstbewusste Ton, der Humor - das alles wirkte so erfrischend und so wenig deutsch, dass es nur eines sein konnte: Unterhaltungsliteratur. Und da die deutsche Belletristik nun einmal einem Kreisverkehr ähnelt, der nur zwei Ausfahrten kennt, nämlich E und U, muss der Schupo, vulgo Kritiker, Kristof Magnusson nun auch mit seinem neuen Roman wieder Richtung U schicken. Aber da liegt er deutlich besser in der Kurve als manch schwerfälliger Bollerwagen, der die E-Abzweigung nimmt.
Dank Krankenhaus-Serien wie "Emergency Room" oder "Grey's Anatomy" hat sich herumgesprochen, worum es beim Arztsein geht: den richtigen Schnitt zu machen, ob im OP oder in der Liebe. Dem Umstand, dass manche Mediziner mit solchen Klischeevorstellungen ihres Berufs regelrecht konkurrieren, lassen sich einige schöne Pointen abgewinnen. So ist der Titel von Magnussons neuem Buch durchaus wörtlich zu nehmen: "Arztroman". Ohne die Lust am Klischee zu leugnen, ist der Autor dann aber tief ins Leben eingetaucht: in das einer Notärztin an einem Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg.
Dr. Anita Cornelius ist Anfang vierzig, und ihr Leben in ständiger Alarmbereitschaft kommt gelegen seit der Trennung von ihrem Mann Adrian, der am selben Krankenhaus wie sie Arzt ist. Das Ganze liegt ein Jahr zurück; seither sieht Anita ihren Sohn, der zu Vater und Stiefmutter gezogen ist, nur tageweise. Den Rest der Zeit verbringt sie damit, Menschen zu helfen, wo und wie sie nur kann. Magnusson hat eine Heldin geschaffen, wie sie sich jeder, der den Notarzt rufen muss, wünscht: schnell, kompetent, erfahren, einfühlsam. Was das Bild des Berufsstandes angeht, können Praxen und Kliniken die Anschaffung dieses Romans fürs Wartezimmer getrost als Werbekosten ansetzen.
Aber Anitas Engagement bringt sie auch in Schwierigkeiten, nämlich in Fällen, in denen man medizinisch eher wenig, sozialmedizinisch hingegen viel tun kann. Als sie und ihr Lieblingskollege, der schwule Feuerwehrmann Maik, in eine Schrebergartensiedlung gerufen werden, ist dort Erste Hilfe rasch geleistet. Doch im Wissen darum, wie wichtig es für einen alleinstehenden älteren Mann mit Raucherlunge und in kläglichem Allgemeinzustand sein kann, einige Tage im Krankenhaus zu verbringen - "intravenöse Flüssigkeitszufuhr, Versorgung der Wunden an den Beinen und überhaupt: regelmäßige Mahlzeiten und regelmäßiges Waschen" -, geht Anita weiter als notwendig: "Sie musste nur bei der Diagnose etwas übertreiben und ihren Exmann, der diese Woche Dienst auf der Intensivstation hatte, überreden, das Gleiche zu tun."
Adrian und sie haben noch aus Studententagen einen Namen für diese chronisch kranken, meist alten Patienten, "die viel Arbeit machten, ohne dass man wirklich etwas für sie tun konnte": Gomer, "für: Get-Out-Of-My-Emergency-Room". In der Vergangenheit haben Adrian und Anita immer wieder den ein oder anderen Gomer auf der Intensivstation aufgepäppelt. "Es war für sie eine Art Hobby geworden, wie andere Paare Rosen züchteten oder Vogelhäuschen aufstellten, ein gemeinsames, romantisch gefärbtes Kümmern." Doch auf die Einsatzbereitschaft ihres Exmanns ist in Zeiten knapper Krankenhausbudgets kein Verlass mehr, wie Anita feststellen muss. Und das ist nicht das einzige Anzeichen dafür, dass die Kluft zwischen ihnen größer wird.
Magnusson schreibt mit großer Selbstverständlichkeit über die Welt des Rettungsdienstes, schildert dramatische und weniger dramatische Notfälle mit jener nüchternen, fast lässigen Sachlichkeit, die seine Figur braucht, um glaubwürdig zu sein - und die doch staunen macht, weil es dazu auf Seiten des Autors nicht nur Einfühlung, sondern auch genauer Recherche bedarf. Der Radius des Romans entspricht in jeder Hinsicht dem seiner Protagonistin: das ist seine Stärke und zugleich seine Schwäche. Anita ist klug, sympathisch, fähig zur Selbstironie und eine glänzende Diagnostikerin. In einer Welt von Kranken erscheint sie rundum gesund.
Das liegt an ihrer robusten Lebenseinstellung. Von welcher Art diese ist, zeigt sich beim Rückblick auf ihre Trennung. Nachdem Adrian in Heidi, einer erfolgreichen Sachbuchautorin aus dem gemeinsamen Bekanntenkreis, die scheinbar perfekte neue Partnerin gefunden hat, passt Anita sich ohne Groll "den neuen Umständen an, denn auch sie hatte erkannt, dass eine Trennung kaum besser hätte laufen können". Was die schmerzvolle Entscheidung angeht, dass der gemeinsame Sohn sein erstes Zuhause beim Vater und dessen neuer Frau nimmt, so leidet Anita zwar darunter, sieht aber ein, dass Heidi die größere Wohnung und mehr Zeit hat: "Es war das Praktischste gewesen. Und für das Praktische war Anita immer zu haben."
Unterm Kittel dieses Arztromans steckt nämlich noch ein zweiter, sehr genauer und kluger Roman: über Patchwork und die vielen kleinen und großen Opfer, die diese Familienform ihren Mitgliedern abverlangt, wenn sie gelingen soll. Und hier gelingt sie - nicht perfekt, sondern etwas holprig, also mit jenem Quentchen Schuldgefühl, Unsicherheit, Sehnsucht und Eifersucht auf allen Seiten, das für Wahrhaftigkeit sorgt. Die Passagen, die von der fragmentierten Familie handeln, sind die besten, weil komplexesten des Buches; das Drumherum liest sich als packendes Doku-Drama über all die unterschiedlichen Milieus und Lebensformen, mit denen ihr Beruf Anita in Berührung bringt. Spannend wird es immer da, wo das Berufliche und das Private kollidieren.
Die Handlung wird beherrscht von Anitas erklärtem Willen, dass es den Menschen möglichst gut gehen soll - und weil sie sich auf ihre Konsequenz einiges zugutehält, gilt das sogar dann, wenn das Wohl der anderen ihrem eigenen entgegensteht. Doch gerade, als Magnusson seine Protagonistin endgültig zu verklären und der Roman sich in Wohlgefallen aufzulösen droht, wird Anita mit den Folgen ihrer idealistischen Einmischungsbereitschaft konfrontiert. Als sie ausgerechnet in ihrem Exmann einen Patienten erkennt, bringt die Situation ihr ärztliches Anstands- und ihr familiäres Verantwortungsgefühl durcheinander. Allerdings wird der Konflikt dann nicht ausgetragen, sondern durch eine neuerliche Heldentat Anitas beendet.
Wenn man diesem Buch etwas vorwerfen kann, dann ist es diese Glätte: Es geht alles immer ein bisschen zu gut aus, nicht nur in medizinischer Hinsicht. Dennoch ist dies ein ernsteres, reiferes Werk als die beiden Vorläufer. Es gibt weniger zu lachen und mehr zu erfahren, und das ohne eitle Bedeutungshuberei. Kristof Magnussons "Arztroman" hat es verdient, dass ihn mindestens so viele Menschen lesen wie "Grey's Anatomy" gucken.
FELICITAS VON LOVENBERG
Kristof Magnusson: "Arztroman". Roman.
Verlag Antje Kunstmann, München 2014. 317 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rettung naht in Gestalt einer eindrucksvollen Frau: Nach seinem vergnüglichen Ausflug in die Finanzkrise legt Kristof Magnusson nun einen "Arztroman" vor
Die üblichen Vorwürfe - junge deutsche Autoren hätten nichts zu erzählen, kreisten nur um sich oder flüchteten in die Vergangenheit - musste Kristof Magnusson sich nie anhören. Im Gegenteil: Der Hamburger mit isländischen Wurzeln, Jahrgang 1976, fiel bereits vor bald zehn Jahren mit seinem in Reykjavík angesiedelten Debüt "Zuhause" auf. Davor hatte der Absolvent des Leipziger Literaturinstituts schon auf dem Theater Erfolg; demnächst soll die Verfilmung seiner Komödie "Männerhort" über die Unvereinbarkeit der Lieblingsbeschäftigungen von Männern (irgendwas, Hauptsache, man kann dazu Bier trinken) und Frauen (Einkaufen) ins Kino kommen.
Magnussons zweiter Roman "Das war ich nicht" (2010) wurde gefeiert, weil er Finanz- und andere Krisen intelligent und unterhaltsam mischte. Die gekonnten Dialoge, die Figuren (Individualisten, keine Außenseiter), der selbstverständlich-selbstbewusste Ton, der Humor - das alles wirkte so erfrischend und so wenig deutsch, dass es nur eines sein konnte: Unterhaltungsliteratur. Und da die deutsche Belletristik nun einmal einem Kreisverkehr ähnelt, der nur zwei Ausfahrten kennt, nämlich E und U, muss der Schupo, vulgo Kritiker, Kristof Magnusson nun auch mit seinem neuen Roman wieder Richtung U schicken. Aber da liegt er deutlich besser in der Kurve als manch schwerfälliger Bollerwagen, der die E-Abzweigung nimmt.
Dank Krankenhaus-Serien wie "Emergency Room" oder "Grey's Anatomy" hat sich herumgesprochen, worum es beim Arztsein geht: den richtigen Schnitt zu machen, ob im OP oder in der Liebe. Dem Umstand, dass manche Mediziner mit solchen Klischeevorstellungen ihres Berufs regelrecht konkurrieren, lassen sich einige schöne Pointen abgewinnen. So ist der Titel von Magnussons neuem Buch durchaus wörtlich zu nehmen: "Arztroman". Ohne die Lust am Klischee zu leugnen, ist der Autor dann aber tief ins Leben eingetaucht: in das einer Notärztin an einem Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg.
Dr. Anita Cornelius ist Anfang vierzig, und ihr Leben in ständiger Alarmbereitschaft kommt gelegen seit der Trennung von ihrem Mann Adrian, der am selben Krankenhaus wie sie Arzt ist. Das Ganze liegt ein Jahr zurück; seither sieht Anita ihren Sohn, der zu Vater und Stiefmutter gezogen ist, nur tageweise. Den Rest der Zeit verbringt sie damit, Menschen zu helfen, wo und wie sie nur kann. Magnusson hat eine Heldin geschaffen, wie sie sich jeder, der den Notarzt rufen muss, wünscht: schnell, kompetent, erfahren, einfühlsam. Was das Bild des Berufsstandes angeht, können Praxen und Kliniken die Anschaffung dieses Romans fürs Wartezimmer getrost als Werbekosten ansetzen.
Aber Anitas Engagement bringt sie auch in Schwierigkeiten, nämlich in Fällen, in denen man medizinisch eher wenig, sozialmedizinisch hingegen viel tun kann. Als sie und ihr Lieblingskollege, der schwule Feuerwehrmann Maik, in eine Schrebergartensiedlung gerufen werden, ist dort Erste Hilfe rasch geleistet. Doch im Wissen darum, wie wichtig es für einen alleinstehenden älteren Mann mit Raucherlunge und in kläglichem Allgemeinzustand sein kann, einige Tage im Krankenhaus zu verbringen - "intravenöse Flüssigkeitszufuhr, Versorgung der Wunden an den Beinen und überhaupt: regelmäßige Mahlzeiten und regelmäßiges Waschen" -, geht Anita weiter als notwendig: "Sie musste nur bei der Diagnose etwas übertreiben und ihren Exmann, der diese Woche Dienst auf der Intensivstation hatte, überreden, das Gleiche zu tun."
Adrian und sie haben noch aus Studententagen einen Namen für diese chronisch kranken, meist alten Patienten, "die viel Arbeit machten, ohne dass man wirklich etwas für sie tun konnte": Gomer, "für: Get-Out-Of-My-Emergency-Room". In der Vergangenheit haben Adrian und Anita immer wieder den ein oder anderen Gomer auf der Intensivstation aufgepäppelt. "Es war für sie eine Art Hobby geworden, wie andere Paare Rosen züchteten oder Vogelhäuschen aufstellten, ein gemeinsames, romantisch gefärbtes Kümmern." Doch auf die Einsatzbereitschaft ihres Exmanns ist in Zeiten knapper Krankenhausbudgets kein Verlass mehr, wie Anita feststellen muss. Und das ist nicht das einzige Anzeichen dafür, dass die Kluft zwischen ihnen größer wird.
Magnusson schreibt mit großer Selbstverständlichkeit über die Welt des Rettungsdienstes, schildert dramatische und weniger dramatische Notfälle mit jener nüchternen, fast lässigen Sachlichkeit, die seine Figur braucht, um glaubwürdig zu sein - und die doch staunen macht, weil es dazu auf Seiten des Autors nicht nur Einfühlung, sondern auch genauer Recherche bedarf. Der Radius des Romans entspricht in jeder Hinsicht dem seiner Protagonistin: das ist seine Stärke und zugleich seine Schwäche. Anita ist klug, sympathisch, fähig zur Selbstironie und eine glänzende Diagnostikerin. In einer Welt von Kranken erscheint sie rundum gesund.
Das liegt an ihrer robusten Lebenseinstellung. Von welcher Art diese ist, zeigt sich beim Rückblick auf ihre Trennung. Nachdem Adrian in Heidi, einer erfolgreichen Sachbuchautorin aus dem gemeinsamen Bekanntenkreis, die scheinbar perfekte neue Partnerin gefunden hat, passt Anita sich ohne Groll "den neuen Umständen an, denn auch sie hatte erkannt, dass eine Trennung kaum besser hätte laufen können". Was die schmerzvolle Entscheidung angeht, dass der gemeinsame Sohn sein erstes Zuhause beim Vater und dessen neuer Frau nimmt, so leidet Anita zwar darunter, sieht aber ein, dass Heidi die größere Wohnung und mehr Zeit hat: "Es war das Praktischste gewesen. Und für das Praktische war Anita immer zu haben."
Unterm Kittel dieses Arztromans steckt nämlich noch ein zweiter, sehr genauer und kluger Roman: über Patchwork und die vielen kleinen und großen Opfer, die diese Familienform ihren Mitgliedern abverlangt, wenn sie gelingen soll. Und hier gelingt sie - nicht perfekt, sondern etwas holprig, also mit jenem Quentchen Schuldgefühl, Unsicherheit, Sehnsucht und Eifersucht auf allen Seiten, das für Wahrhaftigkeit sorgt. Die Passagen, die von der fragmentierten Familie handeln, sind die besten, weil komplexesten des Buches; das Drumherum liest sich als packendes Doku-Drama über all die unterschiedlichen Milieus und Lebensformen, mit denen ihr Beruf Anita in Berührung bringt. Spannend wird es immer da, wo das Berufliche und das Private kollidieren.
Die Handlung wird beherrscht von Anitas erklärtem Willen, dass es den Menschen möglichst gut gehen soll - und weil sie sich auf ihre Konsequenz einiges zugutehält, gilt das sogar dann, wenn das Wohl der anderen ihrem eigenen entgegensteht. Doch gerade, als Magnusson seine Protagonistin endgültig zu verklären und der Roman sich in Wohlgefallen aufzulösen droht, wird Anita mit den Folgen ihrer idealistischen Einmischungsbereitschaft konfrontiert. Als sie ausgerechnet in ihrem Exmann einen Patienten erkennt, bringt die Situation ihr ärztliches Anstands- und ihr familiäres Verantwortungsgefühl durcheinander. Allerdings wird der Konflikt dann nicht ausgetragen, sondern durch eine neuerliche Heldentat Anitas beendet.
Wenn man diesem Buch etwas vorwerfen kann, dann ist es diese Glätte: Es geht alles immer ein bisschen zu gut aus, nicht nur in medizinischer Hinsicht. Dennoch ist dies ein ernsteres, reiferes Werk als die beiden Vorläufer. Es gibt weniger zu lachen und mehr zu erfahren, und das ohne eitle Bedeutungshuberei. Kristof Magnussons "Arztroman" hat es verdient, dass ihn mindestens so viele Menschen lesen wie "Grey's Anatomy" gucken.
FELICITAS VON LOVENBERG
Kristof Magnusson: "Arztroman". Roman.
Verlag Antje Kunstmann, München 2014. 317 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.08.2014Lauter gute Venen
Jede Krankenfahrt ein kleines Utopia: Kristof Magnussons „Arztroman“ stellt der Gegenwart liebevolle Diagnosen
Diese Frau gibt es nicht. Aber fast. Anita ist Anfang vierzig. Sie ist Notärztin an einem Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg. Sie hat sich gerade erst von ihrem Mann getrennt, die beiden verstehen sich aber immer noch gut. Anita hat einen vierzehnjährigen Sohn, der eigentlich einmal jede Woche bei ihr übernachten soll. Sie hat eine Affäre, aus der vielleicht etwas Größeres werden könnte. Sie arbeitet immer sehr viel. Sie beginnt wieder zu rauchen. Zuerst ist es Sommer, später Herbst und dann Winter. Und das ist eigentlich auch schon alles.
Aber wie das alles passiert, oder wie eben gerade eigentlich fast nichts passiert, das ist durchaus ein kleines Wunder. An Kristof Magnussons „Arztroman“ erinnert bloß der Titel an die Kolportage sülziger Heftchenromane. Vom Genre her handelt es sich eher um eine Art Abenteuerroman in Zeitlupe: Eine Expedition hinein in den Alltag eines Menschen, hin zur Schönheit und zum Schrecken ganz gewöhnlicher Werktage.
Einmal beispielsweise macht Anita Pause. Sie hat schon viele Stunden in der Notfall-Bereitschaft hinter sich, spaziert nun in ihrer Arbeitskleidung für ein paar Minuten weg von der Rettungsstelle, vorbei an all den Freizeittätigen am Berliner Landwehrkanal: „die Jogger, Großfamilien, Kleinfamilien und gepiercten Jongleure, die jungen Pärchen und die älteren Paare mit Fotoapparaten und identischen Rucksäcken“. Anita sitzt auf einer Parkbank, und sekundenlang denkt sie an den letzten Notfallpatient von vorhin, einen lungenkranken alten Schrebergarten-Dauerbewohner, den sie auf die Intensivstation gefahren hat. Der Moment ist gleich wieder vorbei, immerzu passiert ja irgendwas. Aber vorher heißt es noch über diesen winzigen Mosaikstein in Anitas Leben, dass der Gedanke an ihren versorgten Patienten ihr das Herz aufgehen lässt, „ein lichtdurchflutetes Utopia, das für alle Platz und ein Auskommen bot“.
Vom Prinzip her müsste das alles eigentlich grauenerregend penetrant sein: Anita ist eine freundliche Frau, in einem freundlichen Roman. Sie ist gerne Ärztin, kümmert sich gerne, trifft als Notärztin naturgemäß meist auf Leute, die sich gerne helfen lassen. Der in Berlin lebende Kristof Magnusson, Jahrgang 1976, hat schon zuvor Theaterstücke und Romane geschrieben, die von ihrer menschenfreundlichen Unterhaltsamkeit lebten. Seine pointenselige Komödie „Männerhort“ kommt diesen Oktober als Film groß in die Kinos. Sein letzter Roman „Das war ich nicht“ von 2010 erzählte unter anderem recht harmlos vom Finanzmarkt und war ein richtiger Bestseller, auch wenn die Charaktere gefällig flach blieben und der Plot zugunsten eines versöhnlichen Abschlusses an ganzen Haarbüscheln herbeigezogen war.
Da ist Magnusson mit seinem „Arztroman“ eindeutig ein Sprung gelungen. Obwohl es abermals zum ziemlich rührseligen Happy End kommt, will er eindeutig weniger Entwicklung von seiner Geschichte. In den besten Augenblicken vertraut er einfach nur auf seine beeindruckende Rechercheleistung im Klinikgewerbe und ebenso auf sein großes Einfühlungstalent, um durch passgenaue Beschreibungen und Dialogfetzen ganze Milieus und Lebensgefühle einzufangen. Einen größeren Spannungsbogen gibt es dabei sogar auch, den man aber nicht im Einzelnen vorwegnehmen sollte. Letztlich geht es um die alte Frage, wie man eigentlich leben soll. Anita und ihr Sidekick, der Rettungsassistent Maik, kutschieren mit ihrem Einsatzfahrzeug eben nicht nur von Einsatz zu Einsatz durch das Wimmelbild von Kreuzberg und Neukölln, sondern auch durch die Veränderungen unserer Zeit. Mal müssen sie eine gerade erst zugezogene, rein englischsprachige Bürgertochter von schwerer Hysterie heilen, mal die alte Frau Funke nach Oberschenkelbruch und einem ganzen Leben in ihrer Wohnung zum allerletzten Mal durch das Treppenhaus nach unten tragen. Nur selten tendieren die Bilder dabei zu übergroßer Süßlichkeit, etwa wenn Frau Funke sich zum Abschied auch noch an eine in der Nazizeit deportierte jüdische Nachbarin erinnern muss oder wenn die gute Ärztefee Anita beim befremdeten Herumsitzen in einer Starbucks-Filiale sogleich am Nebentisch das Haifischgerede renditefixierter Krankenversicherer mithört.
Dienstlich wie privat, was bei Anita wie wohl in fast jedem Leben kaum zu trennen ist, muss sich verteidigen, wer den Menschen gegenüber wohlwollend sein möchte. Anitas sehr sympathisches Epochengefühl ist das verwunderte Aufbegehren gegen neoliberale Optimierungsgeilheit und neubürgerlichen Perfektionswahn. Auf beides prallt sie immer wieder, sowohl im Krankenhausbetrieb mit seinem quotengetriebenen Gesundheitsmanagement als auch bei ihrem Ex-Mann und seiner neuen Freundin. Letztere betrieb zwar bis vor Kurzem noch einen Filzladen in Kreuzberg, hat inzwischen aber auf Gutsherrinnen-Allüren umgesattelt und schimpft gerne mal „im fritz-kola-Rausch auf Gutmenschen und Penner“.
Ihren Alltagsoptimismus und ihre Menschenbegeisterung verliert die Geschichte bei solchen Beobachtungen nie. Die letzte alleinstehende vierzigjährige Ärztin in einem deutschen Zeitroman war ja vielleicht Christoph Heins Claudia in seiner DDRNovelle „Der fremde Freund“ von 1982. Claudia war wie erstarrt, wollte sich und die sedierten Geschlechter- und Machtverhältnisse um sie herum bloß immer weiter betäuben und in noch mehr Mehltau legen. Kristof Magnussons hellwache Anita dagegen ist als Notärztin ständig unterwegs, hinein in die hier beglückend bunt beschriebene, lebendige Gesellschaft der heutigen Bundesrepublik. „Sie suchte nach guten Venen, nach Zugängen zu diesem Menschen“, heißt es einmal über eine ihrer Begegnungen.
Zugänge legt dieser nur manchmal überinstrumentierte, stets unterhaltsame und grundsätzlich mit seinem Personal solidarische Roman reichlich. Dürften Romane zur Wahl gehen, dieser hier sehnte sich vermutlich nach einer Partei, die wahrhaftig sozialdemokratische Werte verträte. An einer fragmentierten Gesellschaft, über deren Vielfalt derart liebevoll geschrieben werden kann, kann beileibe nicht alles falsch sein.
FLORIAN KESSLER
Dem Neoliberalismus trotzt
hier eine optimistische Heldin
Kristof Magnusson:
Arztroman. Verlag Antje Kunstmann, München 2014. 320 Seiten, 19,95 Euro, E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jede Krankenfahrt ein kleines Utopia: Kristof Magnussons „Arztroman“ stellt der Gegenwart liebevolle Diagnosen
Diese Frau gibt es nicht. Aber fast. Anita ist Anfang vierzig. Sie ist Notärztin an einem Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg. Sie hat sich gerade erst von ihrem Mann getrennt, die beiden verstehen sich aber immer noch gut. Anita hat einen vierzehnjährigen Sohn, der eigentlich einmal jede Woche bei ihr übernachten soll. Sie hat eine Affäre, aus der vielleicht etwas Größeres werden könnte. Sie arbeitet immer sehr viel. Sie beginnt wieder zu rauchen. Zuerst ist es Sommer, später Herbst und dann Winter. Und das ist eigentlich auch schon alles.
Aber wie das alles passiert, oder wie eben gerade eigentlich fast nichts passiert, das ist durchaus ein kleines Wunder. An Kristof Magnussons „Arztroman“ erinnert bloß der Titel an die Kolportage sülziger Heftchenromane. Vom Genre her handelt es sich eher um eine Art Abenteuerroman in Zeitlupe: Eine Expedition hinein in den Alltag eines Menschen, hin zur Schönheit und zum Schrecken ganz gewöhnlicher Werktage.
Einmal beispielsweise macht Anita Pause. Sie hat schon viele Stunden in der Notfall-Bereitschaft hinter sich, spaziert nun in ihrer Arbeitskleidung für ein paar Minuten weg von der Rettungsstelle, vorbei an all den Freizeittätigen am Berliner Landwehrkanal: „die Jogger, Großfamilien, Kleinfamilien und gepiercten Jongleure, die jungen Pärchen und die älteren Paare mit Fotoapparaten und identischen Rucksäcken“. Anita sitzt auf einer Parkbank, und sekundenlang denkt sie an den letzten Notfallpatient von vorhin, einen lungenkranken alten Schrebergarten-Dauerbewohner, den sie auf die Intensivstation gefahren hat. Der Moment ist gleich wieder vorbei, immerzu passiert ja irgendwas. Aber vorher heißt es noch über diesen winzigen Mosaikstein in Anitas Leben, dass der Gedanke an ihren versorgten Patienten ihr das Herz aufgehen lässt, „ein lichtdurchflutetes Utopia, das für alle Platz und ein Auskommen bot“.
Vom Prinzip her müsste das alles eigentlich grauenerregend penetrant sein: Anita ist eine freundliche Frau, in einem freundlichen Roman. Sie ist gerne Ärztin, kümmert sich gerne, trifft als Notärztin naturgemäß meist auf Leute, die sich gerne helfen lassen. Der in Berlin lebende Kristof Magnusson, Jahrgang 1976, hat schon zuvor Theaterstücke und Romane geschrieben, die von ihrer menschenfreundlichen Unterhaltsamkeit lebten. Seine pointenselige Komödie „Männerhort“ kommt diesen Oktober als Film groß in die Kinos. Sein letzter Roman „Das war ich nicht“ von 2010 erzählte unter anderem recht harmlos vom Finanzmarkt und war ein richtiger Bestseller, auch wenn die Charaktere gefällig flach blieben und der Plot zugunsten eines versöhnlichen Abschlusses an ganzen Haarbüscheln herbeigezogen war.
Da ist Magnusson mit seinem „Arztroman“ eindeutig ein Sprung gelungen. Obwohl es abermals zum ziemlich rührseligen Happy End kommt, will er eindeutig weniger Entwicklung von seiner Geschichte. In den besten Augenblicken vertraut er einfach nur auf seine beeindruckende Rechercheleistung im Klinikgewerbe und ebenso auf sein großes Einfühlungstalent, um durch passgenaue Beschreibungen und Dialogfetzen ganze Milieus und Lebensgefühle einzufangen. Einen größeren Spannungsbogen gibt es dabei sogar auch, den man aber nicht im Einzelnen vorwegnehmen sollte. Letztlich geht es um die alte Frage, wie man eigentlich leben soll. Anita und ihr Sidekick, der Rettungsassistent Maik, kutschieren mit ihrem Einsatzfahrzeug eben nicht nur von Einsatz zu Einsatz durch das Wimmelbild von Kreuzberg und Neukölln, sondern auch durch die Veränderungen unserer Zeit. Mal müssen sie eine gerade erst zugezogene, rein englischsprachige Bürgertochter von schwerer Hysterie heilen, mal die alte Frau Funke nach Oberschenkelbruch und einem ganzen Leben in ihrer Wohnung zum allerletzten Mal durch das Treppenhaus nach unten tragen. Nur selten tendieren die Bilder dabei zu übergroßer Süßlichkeit, etwa wenn Frau Funke sich zum Abschied auch noch an eine in der Nazizeit deportierte jüdische Nachbarin erinnern muss oder wenn die gute Ärztefee Anita beim befremdeten Herumsitzen in einer Starbucks-Filiale sogleich am Nebentisch das Haifischgerede renditefixierter Krankenversicherer mithört.
Dienstlich wie privat, was bei Anita wie wohl in fast jedem Leben kaum zu trennen ist, muss sich verteidigen, wer den Menschen gegenüber wohlwollend sein möchte. Anitas sehr sympathisches Epochengefühl ist das verwunderte Aufbegehren gegen neoliberale Optimierungsgeilheit und neubürgerlichen Perfektionswahn. Auf beides prallt sie immer wieder, sowohl im Krankenhausbetrieb mit seinem quotengetriebenen Gesundheitsmanagement als auch bei ihrem Ex-Mann und seiner neuen Freundin. Letztere betrieb zwar bis vor Kurzem noch einen Filzladen in Kreuzberg, hat inzwischen aber auf Gutsherrinnen-Allüren umgesattelt und schimpft gerne mal „im fritz-kola-Rausch auf Gutmenschen und Penner“.
Ihren Alltagsoptimismus und ihre Menschenbegeisterung verliert die Geschichte bei solchen Beobachtungen nie. Die letzte alleinstehende vierzigjährige Ärztin in einem deutschen Zeitroman war ja vielleicht Christoph Heins Claudia in seiner DDRNovelle „Der fremde Freund“ von 1982. Claudia war wie erstarrt, wollte sich und die sedierten Geschlechter- und Machtverhältnisse um sie herum bloß immer weiter betäuben und in noch mehr Mehltau legen. Kristof Magnussons hellwache Anita dagegen ist als Notärztin ständig unterwegs, hinein in die hier beglückend bunt beschriebene, lebendige Gesellschaft der heutigen Bundesrepublik. „Sie suchte nach guten Venen, nach Zugängen zu diesem Menschen“, heißt es einmal über eine ihrer Begegnungen.
Zugänge legt dieser nur manchmal überinstrumentierte, stets unterhaltsame und grundsätzlich mit seinem Personal solidarische Roman reichlich. Dürften Romane zur Wahl gehen, dieser hier sehnte sich vermutlich nach einer Partei, die wahrhaftig sozialdemokratische Werte verträte. An einer fragmentierten Gesellschaft, über deren Vielfalt derart liebevoll geschrieben werden kann, kann beileibe nicht alles falsch sein.
FLORIAN KESSLER
Dem Neoliberalismus trotzt
hier eine optimistische Heldin
Kristof Magnusson:
Arztroman. Verlag Antje Kunstmann, München 2014. 320 Seiten, 19,95 Euro, E-Book 15,99 Euro.
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