Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Revidierte Erinnerung: Edith Sheffer rollt den Fall des Psychiaters Hans Asperger auf, dessen Name für eine Variante des Autismus steht.
Von Thomas Weber
Vor einigen Jahren wurde das Konzept der Neurodiversität entwickelt. Seine Proponenten lehnen jegliche Pathologisierung neuronaler Unterschiede zwischen Menschen ab. Diese Betrachtungsweise hat sich vor allem in der Beurteilung des Autismus - heute als Autismus-Spektrum-Störung bezeichnet, welche das Asperger-Syndrom als Variante umfasst - Gehör und Einfluss verschafft. Als historisches Aushängeschild für die gesellschaftliche Achtung von Autisten wurde oft der österreichische Psychiater Hans Asperger (1906 - 1980) herausgestellt, der sich im Dritten Reich für betroffene Kinder eingesetzt und zahlreiche von ihnen gerettet habe. Dieses Urteil beruhte vor allem auf Passagen in Aspergers Habilitationsschrift von 1944 über "autistische Psychopathen im Kindesalter", in der er die Inselbegabungen mancher dieser Kinder in Mathematik oder Musik betonte und ihre Integrationsfähigkeit in die Gesellschaft bejahte.
Hans Aspergers Ruf wird seit einigen Jahren allerdings grundlegend in Frage gestellt. Schon 2005 dokumentierte der Historiker Michael Hubenstorf die engen Verbindungen von Aspergers Klinik mit der Anstalt am Spiegelgrund, der Wiener städtischen Jugendfürsorgeanstalt, in der mindestens 789 behinderte oder verhaltensauffällige Kinder durch die Verabreichung von Schlafmitteln, Mangelernährung oder Unterkühlung umgebracht wurden. Asperger pflegte auch enge Verbindungen zu Erwin Jekelius, dem Direktor der Anstalt und Koordinator der Aktion T4 in Wien, bei der Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen systematisch ermordet wurden. Im April 2018 zeigte der österreichische Historiker Herwig Czech, der zum ersten Mal Aspergers klinische Gutachten aus der NS-Zeit im Detail analysierte, wie beflissen dieser rassenhygienischen und eugenischen Vorstellungen folgte.
Nun legt die in Berkeley forschende Historikern Edith Sheffer - die auf Czechs Funde zurückgreifen konnte - ein Buch vor, das eine einschneidende Neubewertung von Aspergers Wirken und einen veränderten Blick auf den Autismus als Phänomen verspricht. Er gelingt Sheffer insbesondere dort, wo es um Aspergers Handeln, weniger dann, wenn es um die heutige Debatte um Autismus geht. Sheffer untersucht die Rolle von Ärzten wie Asperger im NS-Regime unter dem Gesichtspunkt des "Diagnoseregimes". Der NS-Staat war besessen von der Kategorisierung von Menschen und sortierte sie nach Rasse, politischen Ansichten, Sexualität, Erbanlagen und biologischen Mängeln. Diese Kategorisierungen dienten als Rechtfertigung für Verfolgung und Vernichtung. Sheffer betont, dass am Anfang der Ursachenkette der Akt der Diagnose steht. Asperger folgte ohne Zweifel diesem Regime der Kategorisierungen. Seine Diagnosen beruhten auf der Dichotomie von wertem und unwertem Leben. Asperger mag Kinder, die er als intelligent einstufte, vor einer Überweisung geschützt haben, obwohl es dafür keine konkreten Beweise gibt. Doch er hatte nachweislich wenig Skrupel, Kinder, die er als Bürde für die Gesellschaft ansah, in die Anstalt am Spiegelgrund einzuweisen; und es war für ihn kein Geheimnis, was dort geschah.
Sheffer weist nach, dass Asperger neun Kinder aus seiner Abteilung in die Anstalt am Spiegelgrund überwies, von denen zwei starben. Darüber hinaus war er 1942 "heilpädogogischer Berater" in einer siebenköpfigen Kommission, welche die "Bildungsfähigkeit" von Kindern in der Pflegeanstalt Gugging beurteilte. Diese Kommission stufte 35 von 210 Kindern als "bildungs- und entwicklungsunfähig" ein und überwies sie der Anstalt am Spiegelgrund, wo alle umgebracht wurden.
Asperger war auch als medizinischer Berater für die NS-Verwaltung tätig und erstellte Gutachten für Schulen, Jugendgerichte, die Hitlerjugend und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Seine Empfehlungen dürften in vielen Fällen zu Überstellungen in die Anstalt am Spiegelgrund geführt haben. Im Lichte dieser Funde von Czech und Sheffer fällt es schwer, Asperger als Aushängeschild für einen vorbildlichen Umgang mit Autisten zu betrachten. Es bleiben allerdings Zweifel an Sheffers Versuch, eine Kontinuität zwischen Aspergers klinischen Beschreibungen von 1944 und dem heutigen Verständnis von Autismus-Spektrum-Störungen zu etablieren.
Das moderne Verständnis des Asperger-Syndroms beruht auf der Arbeit von Lorna Wing aus dem Jahr 1981. Aspergers diagnostische Kriterien unterscheiden sich allerdings deutlich von jenen, die Wing einführte. Warum die 2014 verstorbene Wing Asperger als Eponym für dieses Syndrom wählte, muss wohl ungeklärt bleiben. Der bedeutende amerikanische Autismusforscher Leo Kanner hatte 1943 die Ursache für die Störung bei sogenannten Kühlschrankmüttern vermutet; diese Erklärung war in den achtziger Jahren aber so unpopulär geworden, dass Kanner vermutlich als Namensgeber nicht zu gebrauchen war. Aber aus der Wahl von Asperger eine substantielle Kontinuität zu konstruieren, ist etwas zu weit hergeholt.
Sheffer, Mutter eines austistischen Sohns, hat dieses Buch auch verfasst, um die etablierte Vorstellung von Autismus zu untergraben. Der Akt der medizinischen Klassifikation konnte im NS-Regime ein Todesurteil sein, und auch heute sehen manche Ärzte, Philosophen und Aktivisten eine solche Zuschreibung als negativ an, da sie Ähnlichkeit betone, wo beträchtliche Unterschiede in Ursachen und Symptomen vorliegen. Klassifikation kann einerseits Unterstützung mobilisieren - etwa für angemessene Pflege und angepasste Lehrmethoden in Schulen - oder als Käfig wirken, wenn verschiedene Symptome und Verhaltensweisen zusammengeworfen werden. Das ist eine wichtige, noch lange nicht abgeschlossene Debatte, deren Bedeutung weit über den Autismus hinausreicht. Sheffers Buch gibt ihr eine neue historische Tiefe.
Edith Sheffer: "Aspergers Kinder". Die Geburt des Autismus im ,Dritten Reich'.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2018. 340 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein wichtiger und gelungener Beitrag zur Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der österreichischen Medizingeschichte." David Rennert (Der Standard, 05.11.2018)
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH