Ist das Leben ein ewiger Balanceakt? Darius Kopp drohte an seinem Unglück zu zerbrechen. Drei Jahre sind vergangen, seit seine Frau Flora, seine große Liebe, gestorben ist. Der IT-Experte ist mit Floras Asche durch Europa gereist und schließlich auf Sizilien gelandet. Dort taucht eines Tages unverhofft seine 17-jährige Nichte auf. Das Mädchen ist allein unterwegs und weicht ihm nicht mehr von der Seite. Lorelei braucht Darius' Hilfe - und er die ihre. Mit ihr geht er zurück nach Berlin. Und lernt, sein Glück daran zu messen, was man durch eigenen Willen verändern kann - und was nicht.
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buecher-magazin.deDarius Kopp hat immer noch nicht zur Ruhe gefunden, immer noch ist er auf dem Weg, auf der Suche?…?aber nach was? Ein Rückblick: Darius Kopp, ein gutmütiger Mann, der vielleicht etwas blauäugig durchs Leben geht, wird unmittelbarer mit voller Wucht aus der Bahn geworfen, als sich seine Frau Flora das Leben nimmt. Im letzten Teil der Trilogie folgen wir dem Mann nach Sizilien, wo er die Asche seiner Frau auf dem Ätna/in den Ätna streuen möchte. Doch auch das gelingt ihm nicht so recht. Er schlittert von einem Ereignis zum nächsten, bis er auf seine 17-jährige Nichte trifft, die ebenso durch das Leben strudelt wie er. Gemeinsam kehren sie nach Berlin zurück und versuchen, dem Leben eine neue Wendung zu geben. Terézia Moras Sprache ist erneut wortgewaltig und fordert den Leser, die Erzählperspektive wechselt ständig, Wörter werden wieder gestrichen … Nicht nur inhaltlich wird der Leser so auf eine harte Probe gestellt, und das ist durchaus positiv gemeint. Die Büchner-Preisträgerin spielt mit der Sprache, zieht den Leser mit in Darius’ Abgrund und zeigt, dass sie zu Recht als eine der bedeutendsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur gehandelt wird.
Mit „Auf dem Seil“ endet Darius Kopps langer Weg, wohin er führt, sei nicht verraten.
© BÜCHERmagazin, Tanja Lindauer (lin)
Mit „Auf dem Seil“ endet Darius Kopps langer Weg, wohin er führt, sei nicht verraten.
© BÜCHERmagazin, Tanja Lindauer (lin)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Der Sturz ist mit drin im Lebenspaket
Wer fünfzig ist, kann alles werden: Terézia Mora führt ihren Helden Darius Kopp zurück ins Leben.
Von Tilman Spreckelsen
Darius Kopp, fast fünfzig, schreibt sich eine Liste mit zwei Spalten. Links, unter der lakonischen Überschrift "Fort", hält er die Stichworte "Ehefrau", "Wohnung (Adresse noch da)", "Alle Gegenstände, die wir besaßen", "Alle Ersparnisse und Versicherungen", "Alle Zeugnisse im Original" und schließlich "Alle Jobs" fest - eine erschütternde Reihe von Verlusten, die für die Leser von Terézia Moras bisherigen Romanen um den IT-Spezialisten Kopp sogar noch erschütternder ist, weil dessen Ehefrau Flora nicht einfach nur fort ist, sondern sich umgebracht hat. Der 2013 erschienene Roman "Das Ungeheuer" schilderte die ziellose Fahrt des verwitweten Kopp durch Süd- und Osteuropa, im Gepäck Floras Asche und einen Laptop mit ihren oft rabenschwarzen Tagebuchnotizen.
Nun, zwei Handlungsjahre später, zu Beginn von "Auf dem Seil", dem gerade erschienenen Folgeroman, hat sich Kopp auf Sizilien eingerichtet. Er hat Floras Asche auf dem Ätna verstreut und sich mit der Hotelbesitzerin Gabriella zusammengetan, für die er Hausmeisterarbeiten erledigt. Ob er so glücklich ist, wie er gern behauptet, steht dahin, zur Ruhe kommt er jedenfalls nicht, obwohl er sich den Ansprüchen, die andere auf ihn erheben, geschickt entzieht - so verlässt er wiederum ein Jahr später die zunehmend mit ihm unzufriedene Gabriella, arbeitet in Catania als Pizzabäcker und wohnt im Stadthaus des deutschen Auswanderers "Itzehoe", das er mit seinem Kollegen Matteo, eigentlich Metin, aus Algerien teilt. Der Umzug dorthin ist nur der Auftakt einer Reihe weiterer, ausgelöst durch die Ankunft von Kopps Nichte Lorelei in Catania. Sie quartiert sich in Itzehoes Wohnung ein, obwohl sich ihr Onkel seit Jahren von seiner Familie ferngehalten, jeden Kontakt geradezu verweigert hatte, und als sich herausstellt, dass ihre ständige Übelkeit aus einer Schwangerschaft resultiert, von der ihre Mutter aber nichts wissen soll, ist Kopp plötzlich in einer Rolle, die einzunehmen er zuvor konsequent vermieden hatte: Er muss sich kümmern.
Moras Handlungskonstrukt bewährt sich dabei so gut, weil in der Gestalt jener Lorelei gleich zwei Problembündel an Kopp herangetragen werden. Indem er sich der Nichte annimmt, stellt er sich zugleich den komplizierten Familienverhältnissen, die von Streit und Trennungen, von häufigen Partnerwechseln und der resultierenden Instabilität vor allem für die betroffenen Kinder gezeichnet sind. Die naheliegende Reaktion Kopps darauf, der totale Bruch mit den anderen, lässt sich aber nicht durchhalten, wenn man auf diese Weise in die Pflicht genommen wird, so dass sich die wenigen harschen Worte, die dieser grundfriedliche Mensch im Verlauf dieses Romans verliert, immer an Verwandte richten, die zu dieser Art der Zuwendung nicht bereit sind.
Loreleis fordernde Anwesenheit aber bringt - neben dieser Wandlung Kopps - noch etwas anderes mit sich: Ihr Onkel reist mit ihr zurück nach Berlin, was er jahrelang vermieden hatte, und kommt mit der Nichte jeweils für einige Tage bei Freunden unter oder in kurzfristig gemieteten Wohnungen, so dass ein Panorama der unterschiedlichen Hauptstadtbezirke entsteht, entworfen jeweils aus der prekären Perspektive mittelloser Mieter. Dabei erweist sich nicht nur, auf wen aus dem alten Umfeld noch Verlass ist und auf wen nicht, geschildert wird nicht nur das komplizierte Geflecht von Dankbarkeit und den Grenzen dessen, was man als Besucher oder Untermieter alles hinnehmen muss.
Vor den Augen des Lesers öffnet sich Kopp auch Schritt für Schritt wieder all dem, wovor er geflohen war, er knüpft an Ereignisse und Beziehungen an, die im ersten, ihm gewidmeten Roman der Trilogie, "Der einzige Mann auf dem Kontinent", entwickelt werden, und auf den letzten Seiten des aktuellen Buchs ist noch immer unklar, was aus den knapp vierzigtausend Euro wird, die Kopp zu Beginn des ersten Romans ausgehändigt worden waren.
Man könnte auch sagen: Kopp zwingt sich, die fest zugekniffenen Augen zu öffnen. Wie er sich an das herantastet, was schmerzt, und wie er dabei zurückzuckt, wenn ein Gedanke in die falsche Richtung weist, in eine nämlich, in der das Unerträgliche lauert, die Erinnerung an Floras Selbstmord, all dies entwirft Mora meisterlich, mit großer Sicherheit und zugleich so elegant, dass man den Titel des Romans nicht nur auf die von Unsicherheit geprägte Situation der Hauptfigur anwenden möchte, sondern auch auf die Schreibbewegung der Autorin.
Denn die souverän - bisweilen mitten im Satz - frei wechselnde Erzählperspektive, die schon in den beiden früheren Romanen zu erkennen war, bewährt sich hier aufs schönste, weil das Verfahren deutlich macht, wie sehr Kopp Flora internalisiert hat. Kopp wird von außen betrachtet und unversehens von innen, das "Er" und das "Ich" verschwimmen, aber auch das "Du" meldet sich und wird angesprochen, was quälend ist und schön und schließlich in die Erkenntnis mündet, dass es Bereiche in Kopps Leben gibt, die immer von Flora besetzt sein werden, auch wenn der Schmerz, die Trauer um sie nicht mehr übermächtig sein werden. "Seitdem du mich verlassen hast, war das mit drin im Paket", heißt es einmal: "Dass ich irgendwo auf die Erde falle und dort bleibe. Auch ich schwebte im Grenzbereich zwischen Leben und Tod, nicht nur du! Mehr noch, ich tue es immer noch, und du?"
Aus all dem erwächst das Bedürfnis, reinen Tisch zu machen, Bilanz zu ziehen, und da gibt es auch die Habenseite. Die andere Spalte von Kopps Liste jedenfalls nennt unter der Rubrik "Da" auch: "Mutter, Vater, Schwester, Nichte", "Rolf, Halldor, Muck", "der Laptop", "Das Geld (auf Sperrkonto)", "der Anwalt", "Der Lebenslauf, den du gestalten kannst, wie du willst" und schließlich "4 Recommandations", Empfehlungen also von alten Freunden oder Geschäftspartnern, was angesichts von Kopps desolater beruflichen Situation einigermaßen erstaunlich ist.
Geht das auf? Tote Ehefrau gegen lebende Nichte, verlorene Eigentumswohnung gegen die hilfreichen Freunde Rolf, Halldor und Muck? Natürlich nicht, für eine Bilanz ist das Aufrechnen von Schmerz gegen Glück denkbar ungeeignet. Dass aber am Ende Kopp überhaupt dazu in der Lage ist, die Habenseite wahrzunehmen, ist mehr als ein erster Schritt. "Wir sind 50", sagt sein Freund Rolf zu ihm, "aus uns kann noch alles werden."
Terézia Mora: "Auf dem Seil". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2019. 368 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer fünfzig ist, kann alles werden: Terézia Mora führt ihren Helden Darius Kopp zurück ins Leben.
Von Tilman Spreckelsen
Darius Kopp, fast fünfzig, schreibt sich eine Liste mit zwei Spalten. Links, unter der lakonischen Überschrift "Fort", hält er die Stichworte "Ehefrau", "Wohnung (Adresse noch da)", "Alle Gegenstände, die wir besaßen", "Alle Ersparnisse und Versicherungen", "Alle Zeugnisse im Original" und schließlich "Alle Jobs" fest - eine erschütternde Reihe von Verlusten, die für die Leser von Terézia Moras bisherigen Romanen um den IT-Spezialisten Kopp sogar noch erschütternder ist, weil dessen Ehefrau Flora nicht einfach nur fort ist, sondern sich umgebracht hat. Der 2013 erschienene Roman "Das Ungeheuer" schilderte die ziellose Fahrt des verwitweten Kopp durch Süd- und Osteuropa, im Gepäck Floras Asche und einen Laptop mit ihren oft rabenschwarzen Tagebuchnotizen.
Nun, zwei Handlungsjahre später, zu Beginn von "Auf dem Seil", dem gerade erschienenen Folgeroman, hat sich Kopp auf Sizilien eingerichtet. Er hat Floras Asche auf dem Ätna verstreut und sich mit der Hotelbesitzerin Gabriella zusammengetan, für die er Hausmeisterarbeiten erledigt. Ob er so glücklich ist, wie er gern behauptet, steht dahin, zur Ruhe kommt er jedenfalls nicht, obwohl er sich den Ansprüchen, die andere auf ihn erheben, geschickt entzieht - so verlässt er wiederum ein Jahr später die zunehmend mit ihm unzufriedene Gabriella, arbeitet in Catania als Pizzabäcker und wohnt im Stadthaus des deutschen Auswanderers "Itzehoe", das er mit seinem Kollegen Matteo, eigentlich Metin, aus Algerien teilt. Der Umzug dorthin ist nur der Auftakt einer Reihe weiterer, ausgelöst durch die Ankunft von Kopps Nichte Lorelei in Catania. Sie quartiert sich in Itzehoes Wohnung ein, obwohl sich ihr Onkel seit Jahren von seiner Familie ferngehalten, jeden Kontakt geradezu verweigert hatte, und als sich herausstellt, dass ihre ständige Übelkeit aus einer Schwangerschaft resultiert, von der ihre Mutter aber nichts wissen soll, ist Kopp plötzlich in einer Rolle, die einzunehmen er zuvor konsequent vermieden hatte: Er muss sich kümmern.
Moras Handlungskonstrukt bewährt sich dabei so gut, weil in der Gestalt jener Lorelei gleich zwei Problembündel an Kopp herangetragen werden. Indem er sich der Nichte annimmt, stellt er sich zugleich den komplizierten Familienverhältnissen, die von Streit und Trennungen, von häufigen Partnerwechseln und der resultierenden Instabilität vor allem für die betroffenen Kinder gezeichnet sind. Die naheliegende Reaktion Kopps darauf, der totale Bruch mit den anderen, lässt sich aber nicht durchhalten, wenn man auf diese Weise in die Pflicht genommen wird, so dass sich die wenigen harschen Worte, die dieser grundfriedliche Mensch im Verlauf dieses Romans verliert, immer an Verwandte richten, die zu dieser Art der Zuwendung nicht bereit sind.
Loreleis fordernde Anwesenheit aber bringt - neben dieser Wandlung Kopps - noch etwas anderes mit sich: Ihr Onkel reist mit ihr zurück nach Berlin, was er jahrelang vermieden hatte, und kommt mit der Nichte jeweils für einige Tage bei Freunden unter oder in kurzfristig gemieteten Wohnungen, so dass ein Panorama der unterschiedlichen Hauptstadtbezirke entsteht, entworfen jeweils aus der prekären Perspektive mittelloser Mieter. Dabei erweist sich nicht nur, auf wen aus dem alten Umfeld noch Verlass ist und auf wen nicht, geschildert wird nicht nur das komplizierte Geflecht von Dankbarkeit und den Grenzen dessen, was man als Besucher oder Untermieter alles hinnehmen muss.
Vor den Augen des Lesers öffnet sich Kopp auch Schritt für Schritt wieder all dem, wovor er geflohen war, er knüpft an Ereignisse und Beziehungen an, die im ersten, ihm gewidmeten Roman der Trilogie, "Der einzige Mann auf dem Kontinent", entwickelt werden, und auf den letzten Seiten des aktuellen Buchs ist noch immer unklar, was aus den knapp vierzigtausend Euro wird, die Kopp zu Beginn des ersten Romans ausgehändigt worden waren.
Man könnte auch sagen: Kopp zwingt sich, die fest zugekniffenen Augen zu öffnen. Wie er sich an das herantastet, was schmerzt, und wie er dabei zurückzuckt, wenn ein Gedanke in die falsche Richtung weist, in eine nämlich, in der das Unerträgliche lauert, die Erinnerung an Floras Selbstmord, all dies entwirft Mora meisterlich, mit großer Sicherheit und zugleich so elegant, dass man den Titel des Romans nicht nur auf die von Unsicherheit geprägte Situation der Hauptfigur anwenden möchte, sondern auch auf die Schreibbewegung der Autorin.
Denn die souverän - bisweilen mitten im Satz - frei wechselnde Erzählperspektive, die schon in den beiden früheren Romanen zu erkennen war, bewährt sich hier aufs schönste, weil das Verfahren deutlich macht, wie sehr Kopp Flora internalisiert hat. Kopp wird von außen betrachtet und unversehens von innen, das "Er" und das "Ich" verschwimmen, aber auch das "Du" meldet sich und wird angesprochen, was quälend ist und schön und schließlich in die Erkenntnis mündet, dass es Bereiche in Kopps Leben gibt, die immer von Flora besetzt sein werden, auch wenn der Schmerz, die Trauer um sie nicht mehr übermächtig sein werden. "Seitdem du mich verlassen hast, war das mit drin im Paket", heißt es einmal: "Dass ich irgendwo auf die Erde falle und dort bleibe. Auch ich schwebte im Grenzbereich zwischen Leben und Tod, nicht nur du! Mehr noch, ich tue es immer noch, und du?"
Aus all dem erwächst das Bedürfnis, reinen Tisch zu machen, Bilanz zu ziehen, und da gibt es auch die Habenseite. Die andere Spalte von Kopps Liste jedenfalls nennt unter der Rubrik "Da" auch: "Mutter, Vater, Schwester, Nichte", "Rolf, Halldor, Muck", "der Laptop", "Das Geld (auf Sperrkonto)", "der Anwalt", "Der Lebenslauf, den du gestalten kannst, wie du willst" und schließlich "4 Recommandations", Empfehlungen also von alten Freunden oder Geschäftspartnern, was angesichts von Kopps desolater beruflichen Situation einigermaßen erstaunlich ist.
Geht das auf? Tote Ehefrau gegen lebende Nichte, verlorene Eigentumswohnung gegen die hilfreichen Freunde Rolf, Halldor und Muck? Natürlich nicht, für eine Bilanz ist das Aufrechnen von Schmerz gegen Glück denkbar ungeeignet. Dass aber am Ende Kopp überhaupt dazu in der Lage ist, die Habenseite wahrzunehmen, ist mehr als ein erster Schritt. "Wir sind 50", sagt sein Freund Rolf zu ihm, "aus uns kann noch alles werden."
Terézia Mora: "Auf dem Seil". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2019. 368 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Terézia Mora hat ein Talent dafür, unverwechselbare Figuren zu entwerfen, und sie ist eine Expertin für Zwischenzonen, für Identitäten jenseits aller Zuweisungen.« Helmut Böttiger / Süddeutsche Zeitung