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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jagende Forschung und forschende Jagd: Felix Lüttge erzählt eine Wissensgeschichte des Wals.
Durch die farbige Crew in Herman Melvilles Roman "Moby-Dick" ließ sich D. H. Lawrence 1923, mehr als siebzig Jahre nach der Veröffentlichung des Buchs, zu dem Kommentar hinreißen, hier beginne der Untergang des weißen Amerikas. Dass der Walfang zu Kolonialzeiten nicht nur eine der größten Einnahmequellen darstellte, dank Handel mit Tran und anderen Walprodukten, sondern für Afroamerikaner tatsächlich eine unverhoffte Emanzipationschance bot, erfährt man en passant bei der Lektüre von Felix Lüttges weitverzweigter Medien- und Wissensgeschichte "Auf den Spuren des Wals".
Wer waren also die Männer, die sich für den Knochenjob Walfang anheuern ließen? Bürgersöhne wie Melville gesellten sich ebenso zu ihnen wie Ärzte vom Schlage eines Arthur Conan Doyle, Native Americans oder Afroamerikaner wie Prince Boston. Er war der erste Sklave in Massachusetts, der vor Gericht seinen Lohn und seine Freiheit erstritt. Sein Neffe Absalom Boston wurde in den 1820ern Kapitän des Walfangschiffs "The Industry" mit einer ausschließlich afroamerikanischen Besatzung.
Lüttge weiß zu berichten, dass Schiffsärzte anderer Expeditionen das vorhandene Jägerwissen an Bord in ihre Aufzeichnungen aufnahmen und es so seinen Weg in den Diskurs von Naturforschern fand. Die waren davon fasziniert, es mit einem Säugetier zu tun zu haben, das im Meer lebt. Selbst ein Historiker wie Jules Michelet sinnierte in seinem Buch "La Mer" über die "Einsamkeit ihrer Rendezvousplätze" und den Kampfcharakter ihrer Vereinigung: "Walfischjäger behaupten, dies einzige Schauspiel beobachtet zu haben. Die Liebenden richteten sich auf Augenblicke wie die Türme von Notre-Dame steil in die Höhe, vergeblich strebend, sich mit den allzu kurzen Armen zu umfangen, und so fielen sie wieder krachend in das Wasser zurück."
Unnötig zu sagen, dass es zwischen jagender Forschung und forschender Jagd, wie Lüttge sein Terrain beschreibt, immer noch genug Raum für faktenreiche und überraschende Abschweifungen gibt, die nur selten in einen akademischen Stil verfallen. Der Autor folgt nicht nur der Spur der Wale, sondern befragt darüber hinaus Kartographen, Zoologen und Leser von Unterwassergeschichten. Für manchen Wissenschaftler, der sich nicht mit Texten und Bildern zufriedengeben wollte, war es unumgänglich, das Arbeitszimmer zu verlassen.
So begleitete etwa Willy Kükenthal, ein Schüler Ernst Haeckels, 1886 einen norwegischen Walfänger in die Arktis. Über seine Erfahrungen schrieb er später: "Natürlich konnten eingehende Studien an Ort und Stelle schon der erstarrenden Kälte wegen nicht gemacht werden, es kam eben darauf an, in kurzer Zeit das Werthvollste, in diesem Falle das Gehirn, zu bergen und zu conservieren." An frischen Walembryonen fand er ebenfalls Gefallen. Die von ihm konservierten Exemplare, ergattert bei einem Massaker in einer Bucht von Spitzbergen, ermöglichten ihm nach seiner Rückkehr, den Nachweis dafür zu erbringen, dass frühe Entwicklungsstufen bei den Walen denen von anderen Säugetieren ähneln.
Frederick William True, von 1897 bis 1911 oberster Kurator für Biologie am United States National Museum, zeigte sich weniger wählerisch bei der Auswahl seiner Quellen. Er beauftragte Staatsbedienstete von Seenotrettungsstellen und Leuchttürmen mit der Beschreibung von gestrandeten Walen und stattete sie mit einem Leitfaden aus, der die telegraphische Übermittlung erleichterte. Ob Begegnung mit dem lebendigen Wal oder nur mit seinem Kadaver - über sein Verhalten abseits der Extremsituation der Flucht ließ sich so kaum etwas in Erfahrung bringen. Das traf auch auf die Gefangenschaft in einem Aquarium zu. In den Vereinigten Staaten kostete diese Ausstellungspraxis das Leben von unzähligen Weißwalen. Auch die Londoner bauten 1877 im Königlichen Aquarium ein Becken, um einen aus New York verschifften Wal aufzunehmen. Vier Tage nach seiner Ankunft war das Tier tot, was die "Times" zu dem Urteil bewog, es habe das Stadtleben nicht ertragen. Die Zoologische Station in Neapel war da schon weiter. Ihr Schauaquarium diente als Einnahmequelle, um die Forschung zu finanzieren.
Vom Wal als Rohstofflieferant bis zum Gegenstand von Publikumsbelustigungen begegnet Lüttge einem "Tötungswissen", das "im Namen einer Wissenschaft vom Leben" angesammelt wurde. Verwendung fand es nicht zuletzt bei Netzwerken aus Seefahrt, Militär und Politik, welche das maritime Datenmeer auf ihre Weise zu nutzen wussten. Dass die Jagd auf Wale 1982 ausgesetzt wurde, hinderte Länder wie Japan nicht daran, angebliche Forschungsprojekte vorzuschieben, um weiterhin Walfang zu betreiben. Gleichzeitig wurde der Wal mit wachsendem ökologischen Bewusstsein zum schutzbedürftigen Lebewesen. Heute behelfen sich Meeresbiologen mit GPS und UAV, um ihre seltenen Objekte nicht aus den Augen zu verlieren. Dass diese Werkzeuge aus der Militärtechnik stammen, verweist Lüttge zufolge "auf die Geschichte cetologischer Forschung, die sich den Medien und Praktiken und einem Wissen der Jagd verdankt."
ALEXANDRA WACH
Felix Lüttge: "Auf den
Spuren des Wals".
Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 279 S., geb., 28,- [Euro].
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