Eine Medien- und Wissensgeschichte von Biologie und Ozeanographie im Kielwasser der Walfänger. Immer wieder entzieht sich der Wal wissenschaftlicher Klassifikation und Darstellbarkeit. Wale sind buchstäblich nicht zu fassen - als sich die neuen biologischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert daran machten, »das Leben« zu erklären, blieb das der Wale ein Problem. Doch Walfänger durchkreuzten auf ihren Spuren im 19. Jahrhundert die Meere der Welt. Kartographen erschlossen auf den Spuren dieser Walfänger die Nordwestpassage und den pazifischen Ozean, während Naturhistoriker und Zoologen sie in die Lebensräume der Wale begleiten. Felix Lüttge erzählt die Geschichte der Walfänger, die den Walen, und der Wissenschaftler, die wiederum den Walfängern folgten.Es ist eine Medien- und Wissensgeschichte des Wals wie auch der Meere, die auf seinen Spuren durchfahren und vermessen wurden. Felix Lüttge beschreibt die komplexen Austauschprozesse, mit denen Walfänger und Wissenschaftler ökonomisches, ozeanographisches, zoologisches und geographisches Wissen hervorbrachten »Die Wale, von denen diese Untersuchung handelt, sind auch, aber nicht zuerst Teile einer Natur, die es zu ordnen galt. Sie sind Rohstofflieferanten und Wissensobjekte, und sie mussten erst mithilfe bestimmter Praktiken und Medien hervorgebracht werden.« Felix Lüttge
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Alexandra Wach erfährt bei Felix Lüttge Wissenswertes aus Medien- und Wissensgeschichte rund um den Säuger aus dem Meer. Über gedungene Walfänger, Jägerwissen, Kartografen und Zoologen, die dem Wal auf den Fersen waren, berichtet der Autor laut Wach glücklicherweise eher unakademisch. Ebenso vom Wal als Rohstofflieferant und Publikumsbelustigung sowie über Werkzeuge zur Walerkundung aus der Militrätechnik. Eine "weitverzweigte" Darstellung, die Wach lesenswert erscheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.07.2020LITERATUR
Das unfassbare
Tier
Pioniere des Wissens und der Eroberung der Meere:
Felix Lüttge folgt den Spuren der Walfänger
VON THOMAS STEINFELD
Über das Meer schrieb der Philosoph Hans Blumenberg, es kenne „keine Spuren von Gewesenem“. Und hat er nicht recht? Unendlich groß liegt das Meer vor dem Betrachter. Stets bildet es dieselbe riesige Masse, auch wenn sich seine Farben, seine Strukturen, die Höhen und Tiefen in einem fort verändern. Man kann es nicht begehen, und es nimmt keine Veränderungen entgegen. Doch zugleich bildet das Meer eine Lebenswelt. Es leben Pflanzen darin und Tiere. Darüber hinaus werden Treibholz, Plastiktüten und Turnschuhe hierhin und dorthin geschwemmt, und selbstverständlich fahren Schiffe darüber, in großer Zahl. Wenn das „großzügige“ Meer also selbst keine Spuren zulässt, wie Herman Melville in seinem Buch„Moby-Dick“ meint, so nimmt es doch Dinge und Wesen auf, anhand derer sich ein Wissen über das Meer entwickeln lässt. Der Roman selbst gibt davon Zeugnis: Erschienen im Jahr 1851, zieht er durch diese werdende Wissenschaft wie ein Pottwal durch die Tiefsee.
Befördert wurde das Wissen über das Meer durch eine Industrie, von der nur wenige Ruinen geblieben zu sein scheinen, obwohl sie eine der frühen Branchen der Weltwirtschaft war. „Moby-Dick“ handelt von dieser Industrie: dem Walfang. Ihm widmet der Basler Historiker Felix Lüttge nun ein Buch, das eine Geschichte des Erwerbszweigs liefert, die zugleich aber auch eine Kulturgeschichte des Wals selber ist. Diese Geschichte beginnt, grob gesprochen, mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten, und sie führt bis in die Gegenwart. Mit dem Öl der Pottwale wurden einst Straßenlaternen und Leuchttürme betrieben, es diente der Herstellung von Seife, Lacken und Farben, es schmierte Hebewerke und Dampfmaschinen. Aus den Barten wurden Korsetts, Peitschen und Regenschirme hergestellt, und in den Gedärmen fand man einen Stoff, Ambra genannt, den man zur Produktion von Parfüms und Kosmetika verwendete. Diese Industrie verschwand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im selben Maße, wie das Fett der Wale durch Erdöl ersetzt wurde und sich billiger Ersatz auch für die anderen Körperteile des größten aller Säugetiere finden ließ. Im Jahr 1924 lief der letzte Walfänger aus dem Hafen von New Bedford im Süden des Staates Massachusetts aus. Nur in Japan wird, unter dem Vorwand der Forschung, heute noch Walfang betrieben.
Felix Lüttge ist Kulturhistoriker. Er beschreibt die Wege, über die der Wal auf das Papier kam. Er erzählt, wie aus schriftlich niedergelegten Erfahrungen akademische Disziplinen wurden; die „Cetologie“, die „Walwissenschaft“ zum Beispiel, die, im Unterschied zum Walfang selber, keineswegs verschwunden sind. Es geht ihm um die Bedeutung, die der Walfang für die Entwicklung der Geografie besaß, um die kartografische Erschließung von Strömen und Passagen, um den „intelligenten Walfänger“, der mit seinen Aufzeichnungen eine politische und ökonomische Verwaltung der Meere erst ermöglichte. Es geht ihm um die Schwierigkeiten, die einerseits darin bestanden, den Wal als Tierart zu klassifizieren, und die andererseits, ob seiner schieren Größe, darin lagen, ihn zu vermessen und bildlich darzustellen. Das Buch schließt mit einer Anthropologie des Wals: mit einigen sehr menschlichen Theorien über ein Tier, das kein Fisch ist und kein Säugetier sein darf, das nirgendwo zu Hause ist, und das, wohin es auch gerät, aus den Proportionen geraten zu sein scheint.
Ausgewachsene Wale meiden warmes Wasser. Sie halten sich lieber in kühlen Regionen auf. Wenn sie also die tropischen Meere nicht durchschwimmen: Wie kommt es, dass die gleichen, und wie es sich erwies, auch dieselben Tiere vor Grönland wie im nördlichen Pazifik anzutreffen sind? Die Harpunen der Walfänger sind, wie für das frühe 19. Jahrhundert belegt ist, mit Datum und Schiffsnamen markiert. Ein Wal, der einen im Atlantik empfangenen Wurfspieß mit sich herumschleppt, wenn er vor Japan erlegt wird, wird nicht zweimal den Äquator überquert haben: Der Indizienbeweis, dass es eine Nordwest-Passage geben musste, war anhand von Karten, Logbüchern und „whale charts“ (Verzeichnissen von Sichtungen und Fängen) geführt, lange bevor Roald Amundsen in den Jahren 1903 bis 1906 einen Wasserweg von Grönland nach Alaska fand. Und lange bevor die Kapitäne britischer Paketschiffe lernten, sich auf ihren Touren nach Westen nicht der vollen Kraft des Golfstroms auszusetzen, wussten die Walfänger, dass man am besten an den Rändern dieser Strömung vorankommt.
Der Walfang war, wie Felix Lüttge darstellt, eine vor allem amerikanische Angelegenheit. Er war es, weil, nachdem Kalifornien erreicht war, der Weg nach Westen seine Fortsetzung auf dem offenen Meer fand. Die Eroberung der Weltmeere scheint vorbereitet gewesen zu sein, durch die Legende etwa, die „Mayflower“, das Schiff, mit dem die Pilgerväter im Jahr 1620 nach Amerika gekommen waren, sei später zu einem Walfänger umgebaut worden. Und die Angelegenheit wurde systematisch ausgebaut, im Sinne einer ökonomischen und militärischen Nutzung der großen Wasserflächen: Die Verbindung von Wal und Walfänger, heißt es in Carl Schmitts „weltgeschichtlicher Betrachtung“ mit dem Titel „Land und Meer“ (1942), habe den Menschen „immer weiter in die elementare Tiefe maritimer Existenz“ geführt. Felix Lüttge gibt dem Staatstheoretiker recht: Tatsächlich war der Walfänger immer auch der Pionier eines amerikanischen Anspruchs auf Beherrschung der Weltmeere gewesen, zuerst gegen die britische Konkurrenz, dann gegen den Rest der Welt.
In Herman Melvilles Roman „Moby-Dick” gibt es ein Kapitel, in dem sich der Erzähler gegen das Vorurteil zur Wehr setzt, sein Beruf gleiche der Arbeit eines Schlächters oder Fleischers. Er weiß viele Argumente gegen dieses Ressentiment anzuführen: die elementaren, beinahe mythischen Gewalten, denen der Walfänger ausgesetzt ist, die geografischen Entdeckungen, die er der Menschheit bescherte, die historische und ästhetische Bedeutung des Wals und des Walfangs. Der Erzähler schließt mit den Worten: „Ein Walfänger war mein Yale College und mein Harvard.“ Felix Lüttge muss diesen Satz als Herausforderung verstanden haben: In seinem Buch zeigt er, wie viel Wahrheit darin steckt, buchstäblich.
Felix Lüttge: Auf den Spuren des Wals. Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 280 Seiten, 28 Euro.
„Ein Walfänger war
mein Yale College
und mein Harvard.“
Aus Robert Hamiltons „The Natural History of the Ordinary Cetacea or Whales“, Edinburgh 1837.
Abb. aus dem bespr. band.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Das unfassbare
Tier
Pioniere des Wissens und der Eroberung der Meere:
Felix Lüttge folgt den Spuren der Walfänger
VON THOMAS STEINFELD
Über das Meer schrieb der Philosoph Hans Blumenberg, es kenne „keine Spuren von Gewesenem“. Und hat er nicht recht? Unendlich groß liegt das Meer vor dem Betrachter. Stets bildet es dieselbe riesige Masse, auch wenn sich seine Farben, seine Strukturen, die Höhen und Tiefen in einem fort verändern. Man kann es nicht begehen, und es nimmt keine Veränderungen entgegen. Doch zugleich bildet das Meer eine Lebenswelt. Es leben Pflanzen darin und Tiere. Darüber hinaus werden Treibholz, Plastiktüten und Turnschuhe hierhin und dorthin geschwemmt, und selbstverständlich fahren Schiffe darüber, in großer Zahl. Wenn das „großzügige“ Meer also selbst keine Spuren zulässt, wie Herman Melville in seinem Buch„Moby-Dick“ meint, so nimmt es doch Dinge und Wesen auf, anhand derer sich ein Wissen über das Meer entwickeln lässt. Der Roman selbst gibt davon Zeugnis: Erschienen im Jahr 1851, zieht er durch diese werdende Wissenschaft wie ein Pottwal durch die Tiefsee.
Befördert wurde das Wissen über das Meer durch eine Industrie, von der nur wenige Ruinen geblieben zu sein scheinen, obwohl sie eine der frühen Branchen der Weltwirtschaft war. „Moby-Dick“ handelt von dieser Industrie: dem Walfang. Ihm widmet der Basler Historiker Felix Lüttge nun ein Buch, das eine Geschichte des Erwerbszweigs liefert, die zugleich aber auch eine Kulturgeschichte des Wals selber ist. Diese Geschichte beginnt, grob gesprochen, mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten, und sie führt bis in die Gegenwart. Mit dem Öl der Pottwale wurden einst Straßenlaternen und Leuchttürme betrieben, es diente der Herstellung von Seife, Lacken und Farben, es schmierte Hebewerke und Dampfmaschinen. Aus den Barten wurden Korsetts, Peitschen und Regenschirme hergestellt, und in den Gedärmen fand man einen Stoff, Ambra genannt, den man zur Produktion von Parfüms und Kosmetika verwendete. Diese Industrie verschwand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im selben Maße, wie das Fett der Wale durch Erdöl ersetzt wurde und sich billiger Ersatz auch für die anderen Körperteile des größten aller Säugetiere finden ließ. Im Jahr 1924 lief der letzte Walfänger aus dem Hafen von New Bedford im Süden des Staates Massachusetts aus. Nur in Japan wird, unter dem Vorwand der Forschung, heute noch Walfang betrieben.
Felix Lüttge ist Kulturhistoriker. Er beschreibt die Wege, über die der Wal auf das Papier kam. Er erzählt, wie aus schriftlich niedergelegten Erfahrungen akademische Disziplinen wurden; die „Cetologie“, die „Walwissenschaft“ zum Beispiel, die, im Unterschied zum Walfang selber, keineswegs verschwunden sind. Es geht ihm um die Bedeutung, die der Walfang für die Entwicklung der Geografie besaß, um die kartografische Erschließung von Strömen und Passagen, um den „intelligenten Walfänger“, der mit seinen Aufzeichnungen eine politische und ökonomische Verwaltung der Meere erst ermöglichte. Es geht ihm um die Schwierigkeiten, die einerseits darin bestanden, den Wal als Tierart zu klassifizieren, und die andererseits, ob seiner schieren Größe, darin lagen, ihn zu vermessen und bildlich darzustellen. Das Buch schließt mit einer Anthropologie des Wals: mit einigen sehr menschlichen Theorien über ein Tier, das kein Fisch ist und kein Säugetier sein darf, das nirgendwo zu Hause ist, und das, wohin es auch gerät, aus den Proportionen geraten zu sein scheint.
Ausgewachsene Wale meiden warmes Wasser. Sie halten sich lieber in kühlen Regionen auf. Wenn sie also die tropischen Meere nicht durchschwimmen: Wie kommt es, dass die gleichen, und wie es sich erwies, auch dieselben Tiere vor Grönland wie im nördlichen Pazifik anzutreffen sind? Die Harpunen der Walfänger sind, wie für das frühe 19. Jahrhundert belegt ist, mit Datum und Schiffsnamen markiert. Ein Wal, der einen im Atlantik empfangenen Wurfspieß mit sich herumschleppt, wenn er vor Japan erlegt wird, wird nicht zweimal den Äquator überquert haben: Der Indizienbeweis, dass es eine Nordwest-Passage geben musste, war anhand von Karten, Logbüchern und „whale charts“ (Verzeichnissen von Sichtungen und Fängen) geführt, lange bevor Roald Amundsen in den Jahren 1903 bis 1906 einen Wasserweg von Grönland nach Alaska fand. Und lange bevor die Kapitäne britischer Paketschiffe lernten, sich auf ihren Touren nach Westen nicht der vollen Kraft des Golfstroms auszusetzen, wussten die Walfänger, dass man am besten an den Rändern dieser Strömung vorankommt.
Der Walfang war, wie Felix Lüttge darstellt, eine vor allem amerikanische Angelegenheit. Er war es, weil, nachdem Kalifornien erreicht war, der Weg nach Westen seine Fortsetzung auf dem offenen Meer fand. Die Eroberung der Weltmeere scheint vorbereitet gewesen zu sein, durch die Legende etwa, die „Mayflower“, das Schiff, mit dem die Pilgerväter im Jahr 1620 nach Amerika gekommen waren, sei später zu einem Walfänger umgebaut worden. Und die Angelegenheit wurde systematisch ausgebaut, im Sinne einer ökonomischen und militärischen Nutzung der großen Wasserflächen: Die Verbindung von Wal und Walfänger, heißt es in Carl Schmitts „weltgeschichtlicher Betrachtung“ mit dem Titel „Land und Meer“ (1942), habe den Menschen „immer weiter in die elementare Tiefe maritimer Existenz“ geführt. Felix Lüttge gibt dem Staatstheoretiker recht: Tatsächlich war der Walfänger immer auch der Pionier eines amerikanischen Anspruchs auf Beherrschung der Weltmeere gewesen, zuerst gegen die britische Konkurrenz, dann gegen den Rest der Welt.
In Herman Melvilles Roman „Moby-Dick” gibt es ein Kapitel, in dem sich der Erzähler gegen das Vorurteil zur Wehr setzt, sein Beruf gleiche der Arbeit eines Schlächters oder Fleischers. Er weiß viele Argumente gegen dieses Ressentiment anzuführen: die elementaren, beinahe mythischen Gewalten, denen der Walfänger ausgesetzt ist, die geografischen Entdeckungen, die er der Menschheit bescherte, die historische und ästhetische Bedeutung des Wals und des Walfangs. Der Erzähler schließt mit den Worten: „Ein Walfänger war mein Yale College und mein Harvard.“ Felix Lüttge muss diesen Satz als Herausforderung verstanden haben: In seinem Buch zeigt er, wie viel Wahrheit darin steckt, buchstäblich.
Felix Lüttge: Auf den Spuren des Wals. Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 280 Seiten, 28 Euro.
„Ein Walfänger war
mein Yale College
und mein Harvard.“
Aus Robert Hamiltons „The Natural History of the Ordinary Cetacea or Whales“, Edinburgh 1837.
Abb. aus dem bespr. band.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2020Das Stadtleben ertragen Meeressäuger nur schlecht
Jagende Forschung und forschende Jagd: Felix Lüttge erzählt eine Wissensgeschichte des Wals.
Durch die farbige Crew in Herman Melvilles Roman "Moby-Dick" ließ sich D. H. Lawrence 1923, mehr als siebzig Jahre nach der Veröffentlichung des Buchs, zu dem Kommentar hinreißen, hier beginne der Untergang des weißen Amerikas. Dass der Walfang zu Kolonialzeiten nicht nur eine der größten Einnahmequellen darstellte, dank Handel mit Tran und anderen Walprodukten, sondern für Afroamerikaner tatsächlich eine unverhoffte Emanzipationschance bot, erfährt man en passant bei der Lektüre von Felix Lüttges weitverzweigter Medien- und Wissensgeschichte "Auf den Spuren des Wals".
Wer waren also die Männer, die sich für den Knochenjob Walfang anheuern ließen? Bürgersöhne wie Melville gesellten sich ebenso zu ihnen wie Ärzte vom Schlage eines Arthur Conan Doyle, Native Americans oder Afroamerikaner wie Prince Boston. Er war der erste Sklave in Massachusetts, der vor Gericht seinen Lohn und seine Freiheit erstritt. Sein Neffe Absalom Boston wurde in den 1820ern Kapitän des Walfangschiffs "The Industry" mit einer ausschließlich afroamerikanischen Besatzung.
Lüttge weiß zu berichten, dass Schiffsärzte anderer Expeditionen das vorhandene Jägerwissen an Bord in ihre Aufzeichnungen aufnahmen und es so seinen Weg in den Diskurs von Naturforschern fand. Die waren davon fasziniert, es mit einem Säugetier zu tun zu haben, das im Meer lebt. Selbst ein Historiker wie Jules Michelet sinnierte in seinem Buch "La Mer" über die "Einsamkeit ihrer Rendezvousplätze" und den Kampfcharakter ihrer Vereinigung: "Walfischjäger behaupten, dies einzige Schauspiel beobachtet zu haben. Die Liebenden richteten sich auf Augenblicke wie die Türme von Notre-Dame steil in die Höhe, vergeblich strebend, sich mit den allzu kurzen Armen zu umfangen, und so fielen sie wieder krachend in das Wasser zurück."
Unnötig zu sagen, dass es zwischen jagender Forschung und forschender Jagd, wie Lüttge sein Terrain beschreibt, immer noch genug Raum für faktenreiche und überraschende Abschweifungen gibt, die nur selten in einen akademischen Stil verfallen. Der Autor folgt nicht nur der Spur der Wale, sondern befragt darüber hinaus Kartographen, Zoologen und Leser von Unterwassergeschichten. Für manchen Wissenschaftler, der sich nicht mit Texten und Bildern zufriedengeben wollte, war es unumgänglich, das Arbeitszimmer zu verlassen.
So begleitete etwa Willy Kükenthal, ein Schüler Ernst Haeckels, 1886 einen norwegischen Walfänger in die Arktis. Über seine Erfahrungen schrieb er später: "Natürlich konnten eingehende Studien an Ort und Stelle schon der erstarrenden Kälte wegen nicht gemacht werden, es kam eben darauf an, in kurzer Zeit das Werthvollste, in diesem Falle das Gehirn, zu bergen und zu conservieren." An frischen Walembryonen fand er ebenfalls Gefallen. Die von ihm konservierten Exemplare, ergattert bei einem Massaker in einer Bucht von Spitzbergen, ermöglichten ihm nach seiner Rückkehr, den Nachweis dafür zu erbringen, dass frühe Entwicklungsstufen bei den Walen denen von anderen Säugetieren ähneln.
Frederick William True, von 1897 bis 1911 oberster Kurator für Biologie am United States National Museum, zeigte sich weniger wählerisch bei der Auswahl seiner Quellen. Er beauftragte Staatsbedienstete von Seenotrettungsstellen und Leuchttürmen mit der Beschreibung von gestrandeten Walen und stattete sie mit einem Leitfaden aus, der die telegraphische Übermittlung erleichterte. Ob Begegnung mit dem lebendigen Wal oder nur mit seinem Kadaver - über sein Verhalten abseits der Extremsituation der Flucht ließ sich so kaum etwas in Erfahrung bringen. Das traf auch auf die Gefangenschaft in einem Aquarium zu. In den Vereinigten Staaten kostete diese Ausstellungspraxis das Leben von unzähligen Weißwalen. Auch die Londoner bauten 1877 im Königlichen Aquarium ein Becken, um einen aus New York verschifften Wal aufzunehmen. Vier Tage nach seiner Ankunft war das Tier tot, was die "Times" zu dem Urteil bewog, es habe das Stadtleben nicht ertragen. Die Zoologische Station in Neapel war da schon weiter. Ihr Schauaquarium diente als Einnahmequelle, um die Forschung zu finanzieren.
Vom Wal als Rohstofflieferant bis zum Gegenstand von Publikumsbelustigungen begegnet Lüttge einem "Tötungswissen", das "im Namen einer Wissenschaft vom Leben" angesammelt wurde. Verwendung fand es nicht zuletzt bei Netzwerken aus Seefahrt, Militär und Politik, welche das maritime Datenmeer auf ihre Weise zu nutzen wussten. Dass die Jagd auf Wale 1982 ausgesetzt wurde, hinderte Länder wie Japan nicht daran, angebliche Forschungsprojekte vorzuschieben, um weiterhin Walfang zu betreiben. Gleichzeitig wurde der Wal mit wachsendem ökologischen Bewusstsein zum schutzbedürftigen Lebewesen. Heute behelfen sich Meeresbiologen mit GPS und UAV, um ihre seltenen Objekte nicht aus den Augen zu verlieren. Dass diese Werkzeuge aus der Militärtechnik stammen, verweist Lüttge zufolge "auf die Geschichte cetologischer Forschung, die sich den Medien und Praktiken und einem Wissen der Jagd verdankt."
ALEXANDRA WACH
Felix Lüttge: "Auf den
Spuren des Wals".
Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 279 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jagende Forschung und forschende Jagd: Felix Lüttge erzählt eine Wissensgeschichte des Wals.
Durch die farbige Crew in Herman Melvilles Roman "Moby-Dick" ließ sich D. H. Lawrence 1923, mehr als siebzig Jahre nach der Veröffentlichung des Buchs, zu dem Kommentar hinreißen, hier beginne der Untergang des weißen Amerikas. Dass der Walfang zu Kolonialzeiten nicht nur eine der größten Einnahmequellen darstellte, dank Handel mit Tran und anderen Walprodukten, sondern für Afroamerikaner tatsächlich eine unverhoffte Emanzipationschance bot, erfährt man en passant bei der Lektüre von Felix Lüttges weitverzweigter Medien- und Wissensgeschichte "Auf den Spuren des Wals".
Wer waren also die Männer, die sich für den Knochenjob Walfang anheuern ließen? Bürgersöhne wie Melville gesellten sich ebenso zu ihnen wie Ärzte vom Schlage eines Arthur Conan Doyle, Native Americans oder Afroamerikaner wie Prince Boston. Er war der erste Sklave in Massachusetts, der vor Gericht seinen Lohn und seine Freiheit erstritt. Sein Neffe Absalom Boston wurde in den 1820ern Kapitän des Walfangschiffs "The Industry" mit einer ausschließlich afroamerikanischen Besatzung.
Lüttge weiß zu berichten, dass Schiffsärzte anderer Expeditionen das vorhandene Jägerwissen an Bord in ihre Aufzeichnungen aufnahmen und es so seinen Weg in den Diskurs von Naturforschern fand. Die waren davon fasziniert, es mit einem Säugetier zu tun zu haben, das im Meer lebt. Selbst ein Historiker wie Jules Michelet sinnierte in seinem Buch "La Mer" über die "Einsamkeit ihrer Rendezvousplätze" und den Kampfcharakter ihrer Vereinigung: "Walfischjäger behaupten, dies einzige Schauspiel beobachtet zu haben. Die Liebenden richteten sich auf Augenblicke wie die Türme von Notre-Dame steil in die Höhe, vergeblich strebend, sich mit den allzu kurzen Armen zu umfangen, und so fielen sie wieder krachend in das Wasser zurück."
Unnötig zu sagen, dass es zwischen jagender Forschung und forschender Jagd, wie Lüttge sein Terrain beschreibt, immer noch genug Raum für faktenreiche und überraschende Abschweifungen gibt, die nur selten in einen akademischen Stil verfallen. Der Autor folgt nicht nur der Spur der Wale, sondern befragt darüber hinaus Kartographen, Zoologen und Leser von Unterwassergeschichten. Für manchen Wissenschaftler, der sich nicht mit Texten und Bildern zufriedengeben wollte, war es unumgänglich, das Arbeitszimmer zu verlassen.
So begleitete etwa Willy Kükenthal, ein Schüler Ernst Haeckels, 1886 einen norwegischen Walfänger in die Arktis. Über seine Erfahrungen schrieb er später: "Natürlich konnten eingehende Studien an Ort und Stelle schon der erstarrenden Kälte wegen nicht gemacht werden, es kam eben darauf an, in kurzer Zeit das Werthvollste, in diesem Falle das Gehirn, zu bergen und zu conservieren." An frischen Walembryonen fand er ebenfalls Gefallen. Die von ihm konservierten Exemplare, ergattert bei einem Massaker in einer Bucht von Spitzbergen, ermöglichten ihm nach seiner Rückkehr, den Nachweis dafür zu erbringen, dass frühe Entwicklungsstufen bei den Walen denen von anderen Säugetieren ähneln.
Frederick William True, von 1897 bis 1911 oberster Kurator für Biologie am United States National Museum, zeigte sich weniger wählerisch bei der Auswahl seiner Quellen. Er beauftragte Staatsbedienstete von Seenotrettungsstellen und Leuchttürmen mit der Beschreibung von gestrandeten Walen und stattete sie mit einem Leitfaden aus, der die telegraphische Übermittlung erleichterte. Ob Begegnung mit dem lebendigen Wal oder nur mit seinem Kadaver - über sein Verhalten abseits der Extremsituation der Flucht ließ sich so kaum etwas in Erfahrung bringen. Das traf auch auf die Gefangenschaft in einem Aquarium zu. In den Vereinigten Staaten kostete diese Ausstellungspraxis das Leben von unzähligen Weißwalen. Auch die Londoner bauten 1877 im Königlichen Aquarium ein Becken, um einen aus New York verschifften Wal aufzunehmen. Vier Tage nach seiner Ankunft war das Tier tot, was die "Times" zu dem Urteil bewog, es habe das Stadtleben nicht ertragen. Die Zoologische Station in Neapel war da schon weiter. Ihr Schauaquarium diente als Einnahmequelle, um die Forschung zu finanzieren.
Vom Wal als Rohstofflieferant bis zum Gegenstand von Publikumsbelustigungen begegnet Lüttge einem "Tötungswissen", das "im Namen einer Wissenschaft vom Leben" angesammelt wurde. Verwendung fand es nicht zuletzt bei Netzwerken aus Seefahrt, Militär und Politik, welche das maritime Datenmeer auf ihre Weise zu nutzen wussten. Dass die Jagd auf Wale 1982 ausgesetzt wurde, hinderte Länder wie Japan nicht daran, angebliche Forschungsprojekte vorzuschieben, um weiterhin Walfang zu betreiben. Gleichzeitig wurde der Wal mit wachsendem ökologischen Bewusstsein zum schutzbedürftigen Lebewesen. Heute behelfen sich Meeresbiologen mit GPS und UAV, um ihre seltenen Objekte nicht aus den Augen zu verlieren. Dass diese Werkzeuge aus der Militärtechnik stammen, verweist Lüttge zufolge "auf die Geschichte cetologischer Forschung, die sich den Medien und Praktiken und einem Wissen der Jagd verdankt."
ALEXANDRA WACH
Felix Lüttge: "Auf den
Spuren des Wals".
Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 279 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein durch und durch spannendes Buch.« (Wolfgang Schwerdt, GeschiMag, 02.06.2020) »Sein (Felix Lüttges) wissenschaftliches Sachbuch ist anspruchsvoll, aber dafür klar gegliedert, spannend - und manchmal tragisch.« (Jürgen Schickinger, Badische Zeitung, 07.11.2020) »In seiner faktenreichen und ausgesprochen gut lesbaren Studie zeichnet er (Lüttge) ein faszinierendes Kapitel Wissenschaftsgeschichte nach.« (Hanno Ballhausen, Geographische Rundschau, April 2021) »faszinierenden Wissenschaftsschmöker« (Günther Haller, Die Presse, 15.08.2020) »eine profunde Wissensgeschichte« (mare, Dezember 2020) »Lüttges Buch ist eine faszinierende Kulturgeschichte der frühen Ozeanografie und Cetologie.« (Kai Agthe, Mitteldeutsche Zeitung, 01.08.2020) "Felix Lüttge's 'Auf den Spuren des Wals' analyzes this process of exploring, inventorying and categorizing that defined the relationship between whaling and oceanography in the nineteenth century." (Jonas Rüegg, H-Soz-Kult, 23.08.21) »nicht nur tier- und wissenschaftshistorisch ist Lüttges Buch lesenswert« (Markus Bötefür, Vertex Alemanniae, 2022)