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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Musikalisches Temperament des Prekariats: Roland Reichen erzählt aus der Untersicht übers Berner Oberland.
Junkie-Slapstick, Gelegenheitsprostitution, Dorfdeppenkriminalität, alpenländischer Whitetrash und afrikanisches Emigrantenelend: Wie klingt Tarantino auf Berndeutsch? "Der Zorro heisst eigentlich Ueli Äbeli. Zorro sagt man ihm, weil er für sich selber immer gleich drei Läins Coci legt, in einer Z-Form, die er sich dann in einem einzigen langen Schriis ins Hirni rüsselt. Er nahm mein Telefon und kabelte seine Kundschaft bei mir zusammen. Wie in einem Binihaus ging das die nächsten Wochen."
Wie in einem Bienenhaus fühlt sich auch der Leser dieser zwölf romanhaft verwobenen Erzählungen aus dem Berner Oberland - dieses von ganz unten aus betrachtet. Roland Reichen ist ihr Autor. Und weil auch sein dritter Roman das Ergebnis eines heftigen Sprachkampfs zwischen sich selbst verleugnendem Dialekt und forciertem Hochdeutsch ist, kennt man ihn abseits der Alpen nicht. Weswegen folgende auf Literaturport.de deponierte Selbstbeschreibung hilfreich ist: "Roland Reichen wurde am 22. März 1974 in einem klitzekleinen Haus in dem schweizerischen Voralpendorf Spiez geboren. Ja, und als dem Roland das klitzekleine Haus zu klein geworden ist, da ist er in die Hauptstadt Bern gezogen - wobei, eigentlich wieder in ein klitzekleines Haus. Dort liest er so ein bisschen, schriftet so ein bisschen und raucht recht viel."
Nach seinem 2014 erschienenen Roman "Sundergrund" über den tragikomischen Drogen-Fieder und dessen herbe Sippe hat Reichen das Thema seiner Herkunft weiter verfeinert: Auch "Auf der Strecki" handelt von den unteren Milieus einer Gesellschaft, die aus deutscher Perspektive notorisch fidel wirkt - mal abgesehen vom Zürcher Giftlereldorado der neunziger Jahre. Es ist also eine ganz andere Schweiz, wie sie Reichen auch schon in seinem Debüt "Aufgrochsen" porträtiert hatte. Seine Helden strampeln sich ab in einem Lebensraum, der einerseits vom archaischen Traditionalismus der dunklen Täler begrenzt ist und andererseits von den Stigmatisierungen des modernen Sozialstaats, dem sie seit Generationen auf der Tasche liegen. Damit ist Reichen ein Sonder- und Glücksfall der schweizerischen Gegenwartsliteratur.
Wenn man ihn vergleichen will, dann hilft am ehesten ein Blick über die Grenze. In ihren abgründigsten Momenten erinnert seine Literatur an die Filme von Ulrich Seidl. Schrullige Eigenheiten wachsen sich darin zu Gewaltorgien aus, bei denen einem das Lachen vergeht. Exzesse des Spießbürgertums in österreichischen Vororten. Auch bei Reichen gilt: Was harmlos beginnt, endet meist im Fiasko.
Der Ich-Erzähler aus "Wo hast Du meinen Staubsauger, Ibrahim" will einen Streit zwischen Dealern schlichten und kriegt dabei selbst die Faust ins Gesicht. "Wo ich doch oben schon nur noch vier Proffeln hatte, weil das Eitsch so auf die Zähn geht", jammert er. Sein Freund Ibrahim aus dem gleichen Sozialwohnblock sagt vor Gericht für ihn aus, weil "biste gute Mensch, Sersch". Man hofft auf Schmerzensgeld. Ibrahim ist ein Veteran des Jugoslawien-Kriegs. In seiner Bude brät er regelmäßig scharfe Würstl für seine Kriegskumpel. Gelegentlich kommt der Junkie von nebenan vorbei. Gemeinsam wird Musikantenstadl geschaut und Raki "gebudelt", wobei das dem Junkie schlecht bekommt. Er ist ja meistens, wenn nicht auf "Drogi", so auf "Tocki". Ein Glossar am Ende des Buchs führt dieses Wort auf das unter Droglern beliebte Schlafmittel Toquilone zurück.
Während der Ibrahim einmal nach Hause zu seinen Leuten fährt, soll der "Sersch" auf seine Katze aufpassen. Naturgemäß geht das schief, denn in der Zwischenzeit hat der Zorro die Bude von Serge in eine Fixerstube umdefiniert. Als er eines Tages einen geraubten Tresor zum Ausweiden in die Wohnung schleppt, eskaliert die Situation. Der Erzähler sitzt bald auf der Straße. Ein Abstieg im Abstieg.
In einer anderen Episode stolpert Reichens Ich-Erzähler in ein Dealernest: "Fünf Schwarz wohnen hier in zwei Zimmern mit Rissen m Verputz, in einem krösen alle, im andern hat es ausser einem alten Campingtisch und ein paar Plastikstühlen nicht mehr viel." Sie quetschen sich um ein ausgeblutetes Gazellenbein herum, das fäkale Gerüche absondert. "Irgendwo steht ein Fernseh, aus dem so fröhlicher Afrikasound dudelt." Irgendwer holt ein Häuflein "Weisses". Idyll mit Nadel.
Reichen verankert diese Episoden in einer mehrere Generationen umfassenden Familien- und Krankheitschronik. Eine Drogenkarriere erscheint hier nur noch als Variante, mit den Härten des Lebens fertig zu werden. In mehreren Kapiteln wird aus verschiedenen Perspektiven die Geschichte der Sippe erzählt. Gewalt, Demütigungen, harte Maloche, dann Arbeitslosigkeit und Frühinvalidität gehören zum Alltag dieser Leute. Man erfährt von einer depressiven Mutter, die einige Zeit auf der Geschlossenen verbracht hat. Man liest später von ihrer Brustkrebserkrankung, und was folgt, ist an Ekligkeit kaum zu übertreffen. Dennoch liest man vom alltäglichen Kampf dieser geschundenen Körper nicht ohne Einfühlung. Nein, es geht nicht schön zu bei Roland Reichen. Aber gerecht. Und auch das kleine Glück wird nicht verschwiegen. Obwohl der Vater-Sohn-Ausflug zu einem Formel-1-Rennen mit "Passion Reisen Steffisburg" zu einer Tour de Force wird. Weil man in Monza nirgendwo "abhocken" kann, niemals freie Sicht hat und sein eigenes Wort nicht versteht.
Roland Reichen ist immer wieder für seine Sprache gerühmt worden. Ähnlich wie Wolf Haas hat er aus der ramponierten Grammatik, dem elliptischen Sprechen der Provinzler und ihrer Beziehung zum Hochdeutschen eine Kunstsprache entwickelt. Wer sich erst in den Sound dieser eigensinnigen Helvetismen hineinfinden muss, dem sei das angehängte Glossar empfohlen. Aber auch ohne ist man schnell drin in dieser Sprachwelt und ihrem musikalischen Temperament.
KATHARINA TEUTSCH
Roland Reichen: "Auf der Strecki".
Verlag der gesunde Menschenversand. Lausanne, 2020. 127 S., br., 23,- [Euro].
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