Hans-Werner Sinn hat wie kein anderer in den letzten Jahrzehnten die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten in Deutschland und Europa geprägt. Er gilt als einer der wichtigsten Köpfe des Landes. Zu seinem Weg gehört die Mitgliedschaft zur Jugendorganisation der SPD, den Falken, ebenso wie der Einfluss durch die 68er oder die Bewunderung für Willy Brandt. Das Studium der Volkswirtschaftslehre veränderte seine geistige Prägung; alles Ideologische ist ihm bis heute ein Gräuel. Er folgt den Regeln der Wissenschaft, bei denen es ihm vor allem auf die fortwährende Suche nach der Wahrheit ankommt – das Credo seines Lebens. Seine Leistungen auf der wissenschaftlichen Weltbühne sind herausragend, doch Sinn blieb nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Er hat mit seinen wirtschaftspolitischen Überlegungen die Republik verändert. Ob Kritik an den ökonomischen Regeln der Wiedervereinigung, ob Standortdebatte, Reform des Sozialstaates, Bewältigung der Eurokrise, Migration oder Brexit ... Hans-Werner Sinn mischt sich ein, durchaus kontrovers. In seiner Autobiografie zieht er nun Bilanz seines außergewöhnlichen Lebens.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.02.2018Der Junge vom Dorf
Er ist der bekannteste und einer der streitbarsten Ökonomen Deutschlands: Jetzt schildert Hans-Werner Sinn in einer Autobiografie
seine Jugend in Armut und den Aufstieg zum Politikberater – und will so auch das Bild vom kalten Volkswirt korrigieren
VON CASPAR BUSSE
München – Eine der wichtigsten Fragen wird in diesem Buch nicht geklärt: Woher kommt der Bart? Schon als Student Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ließ sich Hans-Werner Sinn den markanten Abraham-Lincoln-Gedächtnisbart wachsen, angeblich auf Wunsch seiner Frau Gerlinde. Zwischendurch habe er ihn mal kurzzeitig abrasiert, erzählt Sinn, aber dann sei er schnell wieder gewachsen. Der Bart, inzwischen ganz grau, ist bis heute das Wiedererkennungsmerkmal des immer noch bekanntesten deutschen Ökonomen.
An diesem Mittwoch erscheint Sinns Autobiografie mit dem Titel „Auf der Suche nach der Wahrheit“. Es ist ein ungewöhnlich persönliches Buch für den streitbaren Volkswirt, der Anfang März seinen 70. Geburtstag feiert. Auf 672 Seiten berichtet Sinn bislang Unbekanntes aus seinem Leben, schildert, bisweilen etwas langatmig, seinen Werdegang, die Entwicklung seiner Theorien und seine doch sehr zielstrebige Karriere bis hin zu einem profilierten Politikberater und häufigen Talkshow-Gast. Zwei Jahre lang habe er daran gearbeitet, sagt Autor Sinn, sein Lektor habe ihm immer wieder Wirtschaftstheoretisches gestrichen, zugunsten der Anekdoten aus seinem Leben. „Die Öffentlichkeit soll verstehen, wie ich zu meinen Gedanken gekommen bin“, sagt Sinn.
Gleich mehrfach betont der Bestsellerautor, dass er aus einfachen Verhältnissen stammt. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, und ich kenne die Nöte des Alltags, ja die Armut“, schreibt er. Die Familie wohnte im westfälischen Örtchen Brake in einer kleinen Sozialwohnung, einen Teil seiner Kindheit verbrachte er bei seinen Großeltern. Später arbeitet er im Taxiunternehmen des Vaters mit und schob Sonntagsschichten.
Es war also keineswegs selbstverständlich, dass der Junge vom Dorf einmal das Gymnasium in Bielefeld besuchen würde. Dort angekommen, fiel er durch „einen ziemlich breiten westfälischen Dialekt“ auf, während die Bielefelder Bürgerkinder sich sehr gewählt im Hochdeutschen auszudrücken wussten. Später musste Sinn eine Klasse wiederholen, am Wochenende half er seinen Eltern in deren kleinem Betrieb. Das Fazit seiner Schulzeit fällt aber doch positiv aus: „Als ich das Gymnasium in Bielefeld verließ, hätte ich am liebsten mehrere Fächer parallel studiert, so hatte mich der Schulunterricht fasziniert und motiviert.“ Er entschied sich dann schnell für Volkswirtschaftslehre in Münster, dort lernte er bald seine „große Liebe“ kennen, Gerlinde, auch eine Volkswirtin.
Damals war Sinn – man mag es heute kaum glauben – ein richtiger Linker, er engagierte sich erst bei den Falken, der Jugendorganisation der Sozialdemokraten, später beim Sozialistischen Hochschulbund, wurde SPD-Mitglied, bewunderte Willy Brandt, wohnte in einer WG mit einem palästinensischen Studienfreund, nahm an Demos teil, unternahm Exkursionen und Studienreisen, schrieb eine Diplomarbeit zu den Theorien von Karl Marx.
Später wechselte er an die Universität Mannheim, 1985 an die Ludwig-Maximilians-Universität in München, ging für Studienaufenthalte in die USA und nach Kanada, war auch mal Berater der Regierung von Bolivien. 1999 wurde er Präsident des Münchner Ifo-Instituts, das damals in einer tiefen Krise war. Immer weiter änderte sich sein Weltbild, aus dem Linken wurde ein durchaus konservativer Ökonom.
Er wolle sich heute nicht als „Marktradikaler oder als Neoliberaler bezeichnen lassen“, schreibt Sinn – doch in den Augen vieler ist er genau das. Sinn, der Prediger der Ökonomie, pointiert und streitbar, er verteidigt den Agenda-2010-Kurs von Gerhard Schröder und kritisiert die Europäische Zentralbank. Aufsehen erregte Sinn in den vergangenen Jahren mit provokanten Thesen, seiner eurokritischen Haltung und seinen Büchern, viele verkauften sich gut und stießen auch auf Interesse außerhalb des Fachpublikums.
Begonnen hatte er 1991 mit „Kaltstart“, in dem er gemeinsam mit seiner Frau die ökonomischen Probleme der Wiedervereinigung beschrieb, auf dem Titel ein Mercedes und ein Trabi, das Foto wurde im Garten der Familie aufgenommen. Es folgten „Die Basar-Ökonomie“, „Die Target-Falle“, „Gefangen im Euro“ oder zuletzt „Der schwarze Juni“ über die Folgen des Brexit. Sinn warf gerne mit Zahlen um sich und wirkte bisweilen, besonders bei seinen unzähligen Fernsehauftritten, kalt und rechthaberisch. Auch dieses Bild will Sinn mit seiner Autobiografie richtig rücken. „Die Wahrheit bleibt doch die Wahrheit und sie muss ausgesprochen werden, damit die Dinge sich zum Besseren ändern können.“
Vor zwei Jahren zog sich Sinn zurück, seitdem ist es ruhig um ihn geworden. 82 Semester hat er Studenten unterrichtet, seine Leidenschaft war immer die Lehre gewesen. Seit seiner Emeritierung habe er ein immer währendes Freisemester, sagt Sinn. Nicht ausgeschlossen, dass er weiterschreibt.
Hans-Werner Sinn: Auf der Suche nach der Wahrheit, Autobiografie, 672 Seiten, Herder, 2018.
In seiner Jugend war Sinn,
man mag es heute kaum glauben,
ein richtiger Linker
Seine Bücher verkauften sich
gut, stießen auf Interesse auch
außerhalb des Fachpublikums
Hans-Werner Sinn mit Trabi vor dem SZ-Hochhaus in München: 1991 schrieb er das Buch „Kaltstart“ über die Wiedervereinigung. Danach folgte ein Bestseller dem nächsten.
Foto: Florian Peljak
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Er ist der bekannteste und einer der streitbarsten Ökonomen Deutschlands: Jetzt schildert Hans-Werner Sinn in einer Autobiografie
seine Jugend in Armut und den Aufstieg zum Politikberater – und will so auch das Bild vom kalten Volkswirt korrigieren
VON CASPAR BUSSE
München – Eine der wichtigsten Fragen wird in diesem Buch nicht geklärt: Woher kommt der Bart? Schon als Student Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ließ sich Hans-Werner Sinn den markanten Abraham-Lincoln-Gedächtnisbart wachsen, angeblich auf Wunsch seiner Frau Gerlinde. Zwischendurch habe er ihn mal kurzzeitig abrasiert, erzählt Sinn, aber dann sei er schnell wieder gewachsen. Der Bart, inzwischen ganz grau, ist bis heute das Wiedererkennungsmerkmal des immer noch bekanntesten deutschen Ökonomen.
An diesem Mittwoch erscheint Sinns Autobiografie mit dem Titel „Auf der Suche nach der Wahrheit“. Es ist ein ungewöhnlich persönliches Buch für den streitbaren Volkswirt, der Anfang März seinen 70. Geburtstag feiert. Auf 672 Seiten berichtet Sinn bislang Unbekanntes aus seinem Leben, schildert, bisweilen etwas langatmig, seinen Werdegang, die Entwicklung seiner Theorien und seine doch sehr zielstrebige Karriere bis hin zu einem profilierten Politikberater und häufigen Talkshow-Gast. Zwei Jahre lang habe er daran gearbeitet, sagt Autor Sinn, sein Lektor habe ihm immer wieder Wirtschaftstheoretisches gestrichen, zugunsten der Anekdoten aus seinem Leben. „Die Öffentlichkeit soll verstehen, wie ich zu meinen Gedanken gekommen bin“, sagt Sinn.
Gleich mehrfach betont der Bestsellerautor, dass er aus einfachen Verhältnissen stammt. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, und ich kenne die Nöte des Alltags, ja die Armut“, schreibt er. Die Familie wohnte im westfälischen Örtchen Brake in einer kleinen Sozialwohnung, einen Teil seiner Kindheit verbrachte er bei seinen Großeltern. Später arbeitet er im Taxiunternehmen des Vaters mit und schob Sonntagsschichten.
Es war also keineswegs selbstverständlich, dass der Junge vom Dorf einmal das Gymnasium in Bielefeld besuchen würde. Dort angekommen, fiel er durch „einen ziemlich breiten westfälischen Dialekt“ auf, während die Bielefelder Bürgerkinder sich sehr gewählt im Hochdeutschen auszudrücken wussten. Später musste Sinn eine Klasse wiederholen, am Wochenende half er seinen Eltern in deren kleinem Betrieb. Das Fazit seiner Schulzeit fällt aber doch positiv aus: „Als ich das Gymnasium in Bielefeld verließ, hätte ich am liebsten mehrere Fächer parallel studiert, so hatte mich der Schulunterricht fasziniert und motiviert.“ Er entschied sich dann schnell für Volkswirtschaftslehre in Münster, dort lernte er bald seine „große Liebe“ kennen, Gerlinde, auch eine Volkswirtin.
Damals war Sinn – man mag es heute kaum glauben – ein richtiger Linker, er engagierte sich erst bei den Falken, der Jugendorganisation der Sozialdemokraten, später beim Sozialistischen Hochschulbund, wurde SPD-Mitglied, bewunderte Willy Brandt, wohnte in einer WG mit einem palästinensischen Studienfreund, nahm an Demos teil, unternahm Exkursionen und Studienreisen, schrieb eine Diplomarbeit zu den Theorien von Karl Marx.
Später wechselte er an die Universität Mannheim, 1985 an die Ludwig-Maximilians-Universität in München, ging für Studienaufenthalte in die USA und nach Kanada, war auch mal Berater der Regierung von Bolivien. 1999 wurde er Präsident des Münchner Ifo-Instituts, das damals in einer tiefen Krise war. Immer weiter änderte sich sein Weltbild, aus dem Linken wurde ein durchaus konservativer Ökonom.
Er wolle sich heute nicht als „Marktradikaler oder als Neoliberaler bezeichnen lassen“, schreibt Sinn – doch in den Augen vieler ist er genau das. Sinn, der Prediger der Ökonomie, pointiert und streitbar, er verteidigt den Agenda-2010-Kurs von Gerhard Schröder und kritisiert die Europäische Zentralbank. Aufsehen erregte Sinn in den vergangenen Jahren mit provokanten Thesen, seiner eurokritischen Haltung und seinen Büchern, viele verkauften sich gut und stießen auch auf Interesse außerhalb des Fachpublikums.
Begonnen hatte er 1991 mit „Kaltstart“, in dem er gemeinsam mit seiner Frau die ökonomischen Probleme der Wiedervereinigung beschrieb, auf dem Titel ein Mercedes und ein Trabi, das Foto wurde im Garten der Familie aufgenommen. Es folgten „Die Basar-Ökonomie“, „Die Target-Falle“, „Gefangen im Euro“ oder zuletzt „Der schwarze Juni“ über die Folgen des Brexit. Sinn warf gerne mit Zahlen um sich und wirkte bisweilen, besonders bei seinen unzähligen Fernsehauftritten, kalt und rechthaberisch. Auch dieses Bild will Sinn mit seiner Autobiografie richtig rücken. „Die Wahrheit bleibt doch die Wahrheit und sie muss ausgesprochen werden, damit die Dinge sich zum Besseren ändern können.“
Vor zwei Jahren zog sich Sinn zurück, seitdem ist es ruhig um ihn geworden. 82 Semester hat er Studenten unterrichtet, seine Leidenschaft war immer die Lehre gewesen. Seit seiner Emeritierung habe er ein immer währendes Freisemester, sagt Sinn. Nicht ausgeschlossen, dass er weiterschreibt.
Hans-Werner Sinn: Auf der Suche nach der Wahrheit, Autobiografie, 672 Seiten, Herder, 2018.
In seiner Jugend war Sinn,
man mag es heute kaum glauben,
ein richtiger Linker
Seine Bücher verkauften sich
gut, stießen auf Interesse auch
außerhalb des Fachpublikums
Hans-Werner Sinn mit Trabi vor dem SZ-Hochhaus in München: 1991 schrieb er das Buch „Kaltstart“ über die Wiedervereinigung. Danach folgte ein Bestseller dem nächsten.
Foto: Florian Peljak
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2018Ein Volkswirt auf Suche
Hans-Werner Sinn blickt auf sein Leben zurück
Der langjährige Präsident des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, legt kurz vor seinem 70. Geburtstag, den er am 7. Mai feiert, eine üppige Autobiographie vor. Das Buch hat stolze 656 Seiten. Es ist ein Rückblick auf ein bewegtes Forscherleben, auf seine biographischen Prägungen, seine Entwicklung als Ökonom und seine Motivation ("die Welt verbessern"), die großen zeitgeschichtlichen Ereignisse und die wirtschaftspolitischen Debatten, die er mitgeprägt hat.
Sinn hat immer wieder politischen Einfluss gehabt. Etwa mit Reformplänen für den deutschen Arbeitsmarkt und den Sozialstaat, dessen Probleme er im Bestseller "Ist Deutschland noch zu retten?" (2003) analysierte. Damit hat er Reformen mit angestoßen und geholfen, den einstigen "kranken Mann" Europas wieder wirtschaftlich stark zu machen. Nur ungern gehört wurde in der Politik seine kritische Analyse der Energie- und Klimapolitik ("Das Grüne Paradox") und seine harsche Kritik der Euro-Rettungspolitik. All das wird hier lesenswert rekapituliert. Dazu kommen Reiseerlebnisse, Begegnungen mit Personen der Zeitgeschichte und bekannten Ökonomen. Im Anhang gibt es Fotos von Sinn, vom Kindergarten bis zur Verleihung von Ehrendoktorwürden, zuletzt eines mit Pelzmütze und Adler auf der Faust in der Mongolei, neben ihm Gerlinde, seine Frau. Eine Straffung des Textes und ein paar Anekdoten weniger hätten von Zeitnot geplagten Lesern geholfen. Doch Sinn hat viel zu erzählen und erzählt spannend.
Beispielsweise über seine Jugend in ärmlichen Verhältnissen. Geboren wurde er 1948 im westfälischen Brake nahe Bielefeld als einziges Kind zweier junger Leute, die sich in den Nachkriegsjahren selbst kaum über Wasser halten konnten. Der strenge Vater arbeitete als Lastwagenfahrer, später hatte er ein kleines Taxiunternehmen, in dem Hans-Werner Sinn mithalf; die Mutter, eine Vertriebene aus Pommern, arbeitete in einer Fahrradfabrik. Für den Sohn hatten sie kaum Zeit, der wuchs bei der Großmutter auf. Nur mit Glück schaffte er es - als Einziger aus der Dorfschule - ans Gymnasium in Bielefeld, wo er erst mal seinen schweren westfälischen Dialekt ablegen musste. Der Weg in die Wissenschaft, bis an die Spitze der deutschen Volkswirte und zu internationalem Renommee, war ihm nicht vorgezeichnet.
Ausführlich beschreibt Sinn die sozialdemokratische Prägung in der Familie. Schon der Großvater mütterlicherseits war SPD-Mitglied im pommerschen Kolberg, die Nazis verschleppten ihn in ein Konzentrationslager und ein Arbeitslager, dort ist er verschollen. Sinns Vater war lebenslanges Parteimitglied. Er selbst ging zur SPD-Jugendorganisation "Die Falken", nahm teil an Fahrten zu Orten von Nazi-Verbrechen in Frankreich und Tschechien. Die Völkerverständigung und Aussöhnung in Europa ist ihm wichtig, Sinn fühlt sich als Europäer - er erzählt dies auch, um Vorwürfen zu begegnen, er sei wegen seiner Euro-Kritik "Anti-Europäer". Als Student war er Willy-Brandt-Fan, engagierte sich im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) in Münster, fuhr nach Berlin zu Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg. Mit den ideologisch-linken 68ern hatte er aber nichts am Hut.
Im Studium näherte er sich marktwirtschaftlichen Überzeugungen an. Ein Unterkapitel der Autobiographie hat er "Der Sieg der ,unsichtbaren Hand'" betitelt, ein anderes "... warum Hayek recht hatte". Allerdings ist Sinn kein "Neoliberaler". Er differenziert zwischen den historischen Ordo- und Neoliberalen, die einen starken Staat als Rahmensetzer für die Marktwirtschaft forderten, und der Chicagoer Schule, die er ablehnt. Sinn ist für einen Sozialstaat als Versicherung gegen die Risiken des Lebens. Als Finanzwissenschaftler steht er in der geistigen Tradition von Richard Musgrave, der dem Staat drei Aufgaben zuwies: Allokations-, Stabilisierungs- und Verteilungspolitik. Die staatsskeptische Sicht von James Buchanan, der das Eigeninteresse von Politikern und Bürokraten hervorhob, nimmt er zur Kenntnis. Weil Politiker oft eine eigene Agenda verfolgen, müsse der Volkswirt sich mit seinen Erkenntnissen auch direkt ans Volk wenden - darin ist Sinn ein Meister.
Seit 1984 lehrte Sinn in München. Als sein "Schlüsselerlebnis" bezeichnet er die deutsche Wiedervereinigung 1989. Damals mischte sich der Wirtschaftsprofessor erstmals ganz aktiv in die große Debatte über den Umgang mit der maroden DDR ein. Gemeinsam mit seiner Frau Gerlinde, die ebenfalls Ökonomin ist, schrieb er das Buch "Kaltstart" und analysierte, welche Fehler im Vereinigungsprozess gemacht wurden. Mit "Kaltstart" trat Sinn aus dem akademischen Elfenbeinturm heraus, wie er selbst schreibt. Zuvor hatte er sich viele Jahre vor allem mit theoretisch-mathematischen Modellarbeiten profiliert. Sein Münsteraner akademischer Lehrer Herbert Timm hatte ihn aber schon gewarnt, keine abgehobenen "Glasperlenspiele" zu betreiben. Sinn beschreibt sich selbst "auf der Suche nach der Wahrheit" - so der recht hochgegriffene Titel der Autobiographie.
Als reifer Volkswirt schrieb Sinn Bücher, mit denen er direkt das große Publikum erreichte. "Der Betriebswirt hilft dem Betrieb, der Volkswirt dem Volk. Das klingt banal, aber genau das ist der Kern meiner Motivationslage", schreibt er. Große Verdienste hat sich Sinn erworben mit der Sanierung des ifo-Instituts. Seiner Qualität als Wissenschaftsmanager ist es zu verdanken, dass dieses Institut heute an der Spitze mitspielt.
Das letzte Kapitel widmet er der Europa-Debatte. "Wo bleibt mein Europa?" Sinn hat sich vom Befürworter zum Kritiker des Euros ("das Hauptproblem Europas") gewandelt. Als "westfälischer Sturkopf" hat er es geschafft, die schwer zu durchdringende Problematik des Target-Zahlungssystem der Euro-Notenbanken in die öffentliche Debatte zu heben. Deutschlands Realkapital werde geplündert, im Gegenzug bekomme die Bundesbank wertlose Target-Forderungen gutgeschrieben, fürchtet er. Kanzlerin Merkel habe sich auf die EZB verlassen und eine "obskure und nicht mehr mit dem Geist unserer Demokratie kompatible Rolle gespielt". Für solche Kritik an der Politik wird Sinn in Berlin gefürchtet. Viele Kollegen und Bürger schätzen ihn als freien Geist und Mann des offenen Worts.
PHILIP PLICKERT
Hans-Werner Sinn: Auf der Suche nach der Wahrheit. Autobiografie, Herder Verlag, Freiburg 2018, 656 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans-Werner Sinn blickt auf sein Leben zurück
Der langjährige Präsident des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, legt kurz vor seinem 70. Geburtstag, den er am 7. Mai feiert, eine üppige Autobiographie vor. Das Buch hat stolze 656 Seiten. Es ist ein Rückblick auf ein bewegtes Forscherleben, auf seine biographischen Prägungen, seine Entwicklung als Ökonom und seine Motivation ("die Welt verbessern"), die großen zeitgeschichtlichen Ereignisse und die wirtschaftspolitischen Debatten, die er mitgeprägt hat.
Sinn hat immer wieder politischen Einfluss gehabt. Etwa mit Reformplänen für den deutschen Arbeitsmarkt und den Sozialstaat, dessen Probleme er im Bestseller "Ist Deutschland noch zu retten?" (2003) analysierte. Damit hat er Reformen mit angestoßen und geholfen, den einstigen "kranken Mann" Europas wieder wirtschaftlich stark zu machen. Nur ungern gehört wurde in der Politik seine kritische Analyse der Energie- und Klimapolitik ("Das Grüne Paradox") und seine harsche Kritik der Euro-Rettungspolitik. All das wird hier lesenswert rekapituliert. Dazu kommen Reiseerlebnisse, Begegnungen mit Personen der Zeitgeschichte und bekannten Ökonomen. Im Anhang gibt es Fotos von Sinn, vom Kindergarten bis zur Verleihung von Ehrendoktorwürden, zuletzt eines mit Pelzmütze und Adler auf der Faust in der Mongolei, neben ihm Gerlinde, seine Frau. Eine Straffung des Textes und ein paar Anekdoten weniger hätten von Zeitnot geplagten Lesern geholfen. Doch Sinn hat viel zu erzählen und erzählt spannend.
Beispielsweise über seine Jugend in ärmlichen Verhältnissen. Geboren wurde er 1948 im westfälischen Brake nahe Bielefeld als einziges Kind zweier junger Leute, die sich in den Nachkriegsjahren selbst kaum über Wasser halten konnten. Der strenge Vater arbeitete als Lastwagenfahrer, später hatte er ein kleines Taxiunternehmen, in dem Hans-Werner Sinn mithalf; die Mutter, eine Vertriebene aus Pommern, arbeitete in einer Fahrradfabrik. Für den Sohn hatten sie kaum Zeit, der wuchs bei der Großmutter auf. Nur mit Glück schaffte er es - als Einziger aus der Dorfschule - ans Gymnasium in Bielefeld, wo er erst mal seinen schweren westfälischen Dialekt ablegen musste. Der Weg in die Wissenschaft, bis an die Spitze der deutschen Volkswirte und zu internationalem Renommee, war ihm nicht vorgezeichnet.
Ausführlich beschreibt Sinn die sozialdemokratische Prägung in der Familie. Schon der Großvater mütterlicherseits war SPD-Mitglied im pommerschen Kolberg, die Nazis verschleppten ihn in ein Konzentrationslager und ein Arbeitslager, dort ist er verschollen. Sinns Vater war lebenslanges Parteimitglied. Er selbst ging zur SPD-Jugendorganisation "Die Falken", nahm teil an Fahrten zu Orten von Nazi-Verbrechen in Frankreich und Tschechien. Die Völkerverständigung und Aussöhnung in Europa ist ihm wichtig, Sinn fühlt sich als Europäer - er erzählt dies auch, um Vorwürfen zu begegnen, er sei wegen seiner Euro-Kritik "Anti-Europäer". Als Student war er Willy-Brandt-Fan, engagierte sich im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) in Münster, fuhr nach Berlin zu Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg. Mit den ideologisch-linken 68ern hatte er aber nichts am Hut.
Im Studium näherte er sich marktwirtschaftlichen Überzeugungen an. Ein Unterkapitel der Autobiographie hat er "Der Sieg der ,unsichtbaren Hand'" betitelt, ein anderes "... warum Hayek recht hatte". Allerdings ist Sinn kein "Neoliberaler". Er differenziert zwischen den historischen Ordo- und Neoliberalen, die einen starken Staat als Rahmensetzer für die Marktwirtschaft forderten, und der Chicagoer Schule, die er ablehnt. Sinn ist für einen Sozialstaat als Versicherung gegen die Risiken des Lebens. Als Finanzwissenschaftler steht er in der geistigen Tradition von Richard Musgrave, der dem Staat drei Aufgaben zuwies: Allokations-, Stabilisierungs- und Verteilungspolitik. Die staatsskeptische Sicht von James Buchanan, der das Eigeninteresse von Politikern und Bürokraten hervorhob, nimmt er zur Kenntnis. Weil Politiker oft eine eigene Agenda verfolgen, müsse der Volkswirt sich mit seinen Erkenntnissen auch direkt ans Volk wenden - darin ist Sinn ein Meister.
Seit 1984 lehrte Sinn in München. Als sein "Schlüsselerlebnis" bezeichnet er die deutsche Wiedervereinigung 1989. Damals mischte sich der Wirtschaftsprofessor erstmals ganz aktiv in die große Debatte über den Umgang mit der maroden DDR ein. Gemeinsam mit seiner Frau Gerlinde, die ebenfalls Ökonomin ist, schrieb er das Buch "Kaltstart" und analysierte, welche Fehler im Vereinigungsprozess gemacht wurden. Mit "Kaltstart" trat Sinn aus dem akademischen Elfenbeinturm heraus, wie er selbst schreibt. Zuvor hatte er sich viele Jahre vor allem mit theoretisch-mathematischen Modellarbeiten profiliert. Sein Münsteraner akademischer Lehrer Herbert Timm hatte ihn aber schon gewarnt, keine abgehobenen "Glasperlenspiele" zu betreiben. Sinn beschreibt sich selbst "auf der Suche nach der Wahrheit" - so der recht hochgegriffene Titel der Autobiographie.
Als reifer Volkswirt schrieb Sinn Bücher, mit denen er direkt das große Publikum erreichte. "Der Betriebswirt hilft dem Betrieb, der Volkswirt dem Volk. Das klingt banal, aber genau das ist der Kern meiner Motivationslage", schreibt er. Große Verdienste hat sich Sinn erworben mit der Sanierung des ifo-Instituts. Seiner Qualität als Wissenschaftsmanager ist es zu verdanken, dass dieses Institut heute an der Spitze mitspielt.
Das letzte Kapitel widmet er der Europa-Debatte. "Wo bleibt mein Europa?" Sinn hat sich vom Befürworter zum Kritiker des Euros ("das Hauptproblem Europas") gewandelt. Als "westfälischer Sturkopf" hat er es geschafft, die schwer zu durchdringende Problematik des Target-Zahlungssystem der Euro-Notenbanken in die öffentliche Debatte zu heben. Deutschlands Realkapital werde geplündert, im Gegenzug bekomme die Bundesbank wertlose Target-Forderungen gutgeschrieben, fürchtet er. Kanzlerin Merkel habe sich auf die EZB verlassen und eine "obskure und nicht mehr mit dem Geist unserer Demokratie kompatible Rolle gespielt". Für solche Kritik an der Politik wird Sinn in Berlin gefürchtet. Viele Kollegen und Bürger schätzen ihn als freien Geist und Mann des offenen Worts.
PHILIP PLICKERT
Hans-Werner Sinn: Auf der Suche nach der Wahrheit. Autobiografie, Herder Verlag, Freiburg 2018, 656 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main