Im gegenwärtigen Diskurs über Klasse und Klassismus kommt das Milieu, aus dem D Hunter stammt, nicht vor. 1979 oder 1980 wird Hunter in eine Familie von Irish Travellers geboren. In seiner Jugend in Nottingham bringt er sich, seine nur 13 Jahre ältere Mutter und seine drei Schwestern als minderjähriger Sexarbeiter, Drogenkurier und Dieb durch, ist Opfer und Täter extremer Gewalt. Mit Mitte zwanzig beginnt er in der geschlossenen Psychiatrie zu lesen und ist besonders beeindruckt von den Werken zweier anderer Eingeschlossener: Antonio Gramsci und Angela Davis. »Auf uns gestellt« ist ein Buch über Traumata, Klasse und Identität, über die Gewalt des weißen Kapitalismus, über ökonomisch und sozial marginalisierte Menschen, die als überflüssig gelten. Schonungslos, hart und weit entfernt von jeder Fetischisierung der Armut schreibt Hunter über seinen Großvater, der ihn vergewaltigt, seine Freundin, mit der er ein Junkie-Leben teilt, über seinen prügelnden rassistischen Vater, seine psychisch kranke Mutter und über Freunde, deren Solidarität er erfahren hat. Er schreibt, weil er den verachtenden oder bemitleidenden Blick verändern will, mit dem Menschen wie er betrachtet werden. Mit beeindruckender Klarheit und Glaubwürdigkeit führt D Hunter seine Erfahrungen mit einer radikalen Theorie und Praxis zusammen - für eine solidarische Community-Arbeit und eine abolitionistische Praxis von unten, die sich gegen Staat und Gefängnissystem richtet.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Der Autor selbst nennt das, was er in seinem Buch betreibt, "Autoethnografie". Gerüstet mit Bourdieu, Klassenkampftheorien und "Kritischer Weißseinsforschung" versucht er zu verstehen, was ihm widerfahren ist, erzählt die Rezsentin Novina Göhlsdorf. Und das ist wahrlich bestürzend. Kurz skizziert die Rezensentin Hunters Herkunft aus dem fahrenden Volk der Irish Travellers, das geprägt ist von extremer Gewalt des Großvaters, sexuellem Missbrauch und seiner Mutter, die ihn mit 13 bekam, und die nichts anderes wusste, als sich und ihn zu prostituieren. Allein dass dieses Buch zustandekam, liest Göhlsdorf als ein mittleres Wunder. Sie liebt es vor allem dort, wo Hunter sich nicht plakativen Klassenkampfparolen hingibt (was er offenbar auch tut), sondern sich der Komplexität annähert, mit der man sich aus seinem Schicksal herauswinden kann. "Hyperreflexivität" ist hier ein Stichwort, "mit der man sich, seinen sozialen Standort und sein Verhalten bedenke und die notwendig sei, um sich verantwortlich zu machen", resümiert die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2023Wo Gewalt beginnt
Biographie und Theorie: D Hunter zeigt in seinem Buch über die Armutsklasse Elend und Brutalität, ohne sie auszustellen.
Von Novina Göhlsdorf
Es gibt keine Schonfrist - weder in D Hunters Buch noch in seinem Leben. Das Schlimmste kommt am Anfang, im Buch mit Triggerwarnung. Im ersten Text geht es um Hunters Großvater. Dessen Vater habe ihm die Knochen gebrochen, seine Frau habe der Urgroßvater ausgepeitscht. Bis der Großvater, da war er 15 Jahre, seinen Vater erschlagen und sich zum Oberhaupt der Familie gemacht habe, die zum fahrenden Volk der Irish Travellers gehörte und sich schließlich im Norden Englands niederließ. Später habe dieser Großvater die eigene Tochter, Hunters Mutter, vergewaltigt. Und ihn, Hunter, als der ein Kind war, in Hunderten von Nächten, allein und mit anderen Männern. Der Text ist mehrfach unterbrochen von den Listen, die Hunter in diesen Nächten in seinem Kopf abspulte. "Arsenal: John Lukic, Lee Dixon, Nigel Winterburn . . ." - Spieler der Fußballklubs der First Division, so hieß damals, in den Achtzigern, die Premier League.
Die meisten der Texte in Hunters "Auf uns gestellt" erzählen von einer Person aus seiner Vergangenheit und seinem Verhältnis zu ihr. Aus ihnen ergibt sich, nach und nach, ein Bild seiner Geschichte. Hunter wird 1979 oder 1980 in Nordengland geboren, von einer dreizehnjährigen Mutter, die, als er zehn ist, mit ihren Kindern nach Nottingham zieht, um Hunters Großvater zu entkommen. Bald aber verkauft sie, selbst Prostituierte, den Körper ihres Sohns. Er versorgt die drogenabhängige Mutter und seine Schwestern durch Sexarbeit und als Drogenkurier. Er lebt in Heimen und auf der Straße, ist drogensüchtig und kriminell, erfährt immer wieder krasse Gewalt, übt sie aus, kommt ins Gefängnis und mit 25 Jahren in die Psychiatrie. Dort beginnt er eine Beziehung mit einem Pfleger, der ihn sexuell ausbeutet - und ihn, auch nach seiner Entlassung aus der Klinik, darin unterstützt, clean zu werden, einen neuen Job zu finden, zu studieren. Hunter baut Verbindungen zu Menschen auf, die ihm beistehen, wenn ihn Flashbacks einholen oder er rückfällig wird. Heute wohnt er mit seiner Partnerin und seinem Kind in Manchester. Er ist Autor und Pädagoge und promoviert über die Solidarität der Arbeiterklasse und die Frage, was sie erschwert.
Auch sein Buch dreht sich um den Zusammenhalt in der Arbeiterklasse - in deren ärmstem Teil -, darum, wie der oft schmerzhaft fehlt, aber auch groß sein kann. Hunter erschließt in seinen Texten Biographisches theoretisch und lässt Theorien biographisch konkret werden. In einer fußnotengeladenen, trotzdem sehr lesbaren Einleitung bezeichnet er sein Vorgehen als "Autoethnografie". Er mache seine persönlichen Erfahrungen zum "Sprungbrett", um allgemeinere Zustände und Dynamiken in der britischen Gesellschaft und besonders der Armutsklasse zu analysieren. Dabei sei er beeinflusst von Ansätzen der Queer Theory, der Kritischen Weißseinsforschung und der soziologischen Klassenanalyse Pierre Bourdieus.
Allerdings, das wird im Lauf des Buchs immer klarer, sind Hunters Texte auch akademisch gerüstete Mittel des Klassenkampfs und des politischen Aktivismus, unter anderem für die Abschaffung von staatlichen Institutionen wie der Polizei, der Gefängnisse und Strafjustiz und für Verfahren "transformativer Gerechtigkeit" im Umgang mit Gewalttaten. Bei solchen Verfahren unterstützt eine selbstorganisierte Gruppe einen Täter darin, sich mit seinem Verhalten und dessen Folgen für das Opfer auseinanderzusetzen. Dessen Perspektive ist leitend für den Prozess, der zu Einsicht und Wiedergutmachung führen soll und zu langfristigen Veränderungen, individuell und gesellschaftlich.
Auch für seinen vor 20 Jahren verstorbenen Großvater, denjenigen, der ihm den größten und nachhaltigsten Schmerz zugefügt hat, hätte sich Hunter keine Gefängnisstrafe gewünscht. Er ist überzeugt davon, "dass auch das, was als besonders schreckliche Überschreitung der physischen und emotionalen Grenzen eines anderen angesehen werden muss, nicht rechtfertigt, denjenigen, der diese Grenzen überschreitet, durch staatliche oder sonstige Mechanismen seiner Menschlichkeit zu berauben". Prosaischer verweist er auf das, was ja auch Studien belegen: Haftstrafen sichern die Abnahme von Kriminalität nicht, im Gegenteil. Und er legt nahe, dass sie für Angehörige der Armutsklasse nur eine intensivierte Form der Kontrolle darstellen, der sie ohnehin permanent ausgesetzt sind, weil sie nicht bloß als nutzlos und störend für die kapitalistische Wertschöpfung gelten, sondern auch als soziales Risiko und Problem. Polizisten, Sozialarbeiter und das Personal geschlossener psychiatrischer Anstalten seien für viele derjenigen, mit denen er aufgewachsen ist, bis heute eine reale Bedrohung, könnten sie verhaften, ihnen die Kinder wegnehmen, sie einweisen. Staatliche Institutionen bildeten ein äußeres Regime, das auf die Menschen der Armutsklasse stete Gewalt ausübt - eine, die deren Gewalt untereinander immer schon vorausgehe, sie verschärfe und daher niemals tilgen könne. Dazu, so Hunter, solle man auf das Wissen und die gegenseitige Fürsorge in den Communitys setzen, die lediglich die Ressourcen dafür benötigten.
Hunters Erlebnisse hätten das Zeug dazu, gut gebetteten Mittelschichtslesern behagliche True-Crime-Schauer zu bescheren oder kantische Erhabenheitsmomente - da man sich ja beim Blick in tiefdunkle soziale Abgründe seiner Souveränität gleich noch sicherer wird; erst recht, wenn sich dort unten der viel verachtete "White Trash" zersetzt. Doch Hunter zeigt Elend, Brutalität und Selbstzerstörung, ohne sie auszustellen, nüchtern und lakonisch, mit viel Gespür für die feinen (auch sprachlichen) Unterschiede und frei von Kitsch und verkrampfter Kitschvermeidung. Er kommt keiner sozialvoyeuristischen Lust entgegen, versagt Gefälligkeit und unterläuft jede bekömmlich-eindeutige Täter-Opfer-Logik, wenn er etwa ausführlich "Mitgefühl" für den Großvater äußert, den, wie ihn selbst, früh erlebte Gewalt traumatisiert habe. Daher sei dessen Handeln oft nicht "das Ergebnis bewusster Entscheidungen" gewesen, wie auch seines, Hunters, es über lange Zeit nicht war.
Seine Lebensgeschichte hätte Hunter tröstend als eine der inneren Wende und Läuterung erzählen können oder, zeitgemäßer, der maximalen Selbstoptimierung. Auch das tut er, glücklicherweise, nicht. Seinen Weg heraus aus Armut und ständiger Gewalt im Lauf der letzten zehn Jahre stellt er dar als widersprüchliches, zerfahrenes Geschehen, das sich zufällig ergeben hat, daraus, dass Hunter im Verhältnis mit Stephen, dem Pfleger in der Psychiatrie, seine früh eingeübte Fertigkeit einsetzte - er tauschte sexuelle Verfügbarkeit gegen die Erfüllung von Bedürfnissen: "Wärme und ein Dach über dem Kopf, Ruhe und Frieden." Diese relativ sichere Umgebung erlaubte ihm neue Erfahrungen. "Ich lernte, andere Menschen nicht im Schlaf zu überfallen. Ich lernte, aufzuwachen und mich ausgeruht zu fühlen. Ich lernte die Vorteile von mindestens einer Mahlzeit am Tag kennen. Fast zwei Jahre lang gab Stephen mir den Raum, um über Entscheidungen nachzudenken, die ich getroffen hatte. . . . Er hielt sich für etwas Besseres, und in vielerlei Hinsicht nutzte er eine verletzbare Person aus, aber das tat ich auch."
Hunter macht deutlich, dass er sich, anders als sein Großvater, seine Mutter, viele seiner Freunde, irgendwann um die Heilung seiner Traumata kümmern konnte. Mit einer penetrant präsenten Vokabel ausgedrückt: Selbstfürsorge ist ein Bonus für die, deren Existenz gesichert ist. Beiläufig widerspricht Hunter dem doktrinären Glauben an die Allwirksamkeit des Therapeutischen. Psychotherapie habe ihm durchaus geholfen, doch gehe sie nur die Symptome des Leids an, nicht dessen Gründe, lasse "jegliche sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen" außer Acht. Das heißt: Um Heilung wirklich zu ermöglichen, braucht es äußere Veränderungen, innere reichen nicht.
Hunters Buch ist am schwächsten, wo es zum Pamphlet, zur explizit politischen Kampfschrift wird. Da wirken die bombastischen Parolen und krachenden Aufrufe zur Revolution hohl, da fehlt die Detailgenauigkeit, da kippt Aktivismus in eine Wut-Performance, und es wird fad, weil erwartbar. Die Kraft seines Buchs - auch und besonders die politische - liegt woanders. Dort, wo es tatsächlich unbequem wird, sich vertrauten Reflexen versperrt und auf Ambivalenzen besteht. Wo Hunter betont: Sein Großvater war mehr als ein Gewalttäter. "Sein Scharfsinn, sein Mut, für seine Überzeugungen einzutreten, sein Überlebenswille . . . seine Fähigkeit zu lieben und sich zu kümmern, all das ist nie verschwunden." Wo Hunter die Handlungsmacht der für verloren Erklärten würdigt, wenn er beispielsweise das Tanzen seiner Mutter ohne Musik als "Akt des Widerstands" beschreibt.
Die Kraft liegt dort, wo er in seinen Texten tut, was er fordert, und etwa danach fragt, wie er seiner Verantwortung dafür gerecht werden kann, im späten Teenageralter seiner Freundin eines Tages unvermittelt ins Gesicht geschlagen zu haben. Er hat keine Antwort, aber eine entscheidende Frage gestellt. Dort, wo er, im interessantesten Text des Buchs, die "Hyperreflexivität" vorführt, mit der man sich, seinen sozialen Standort und sein Verhalten bedenke und die notwendig sei, um sich verantwortlich zu machen.
Hunter hat den Text gemeinsam mit seinem Schwarzen Freund MD geschrieben, der ihm seine Beiträge telefonisch aus dem Gefängnis durchgegeben hat. MD beharrt auf dem fundamentalen Unterschied zwischen ihnen, den Vorteilen Hunters aufgrund seines Weißseins, und darauf, dass dieser sie in Wahrheit nicht missen wolle. Hunter ist das unangenehm, doch er gibt ihm recht und geht, mit intersektional sensibilisiertem Blick, den eigenen patriarchal-rassistischen Verwicklungen gründlich nach. Er zitiert bell hooks und andere Forscherinnen, schreibt Sätze wie "ich möchte betonen, dass die Reproduktion meines Weißseins an meine Cis-Männlichkeit und meine Position in der Arbeiterklasse geknüpft ist". Am Telefon lässt MD sich Hunters Selbsterkundung vorlesen, bevor er diktiert: "D, ich verstehe, was du da tust. Es ist in Ordnung, aber teilweise klingt es einfach so, als wärst du ein verdammtes Arschloch. Wenn du rumheulst, du wärst eine spezielle Art von weiß, weil du zur Arbeiterklasse gehörst." Hier wird der Text wirklich hyperreflexiv. Mit diesen Worten und allen, die MD danach noch sagt und denen Hunter nichts mehr hinzufügt.
D Hunter: "Auf uns gestellt. Armutsklasse, Trauma und Solidarität". Aus dem Englischen von Isabelle Suremann. Edition Nautilus, 256 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Biographie und Theorie: D Hunter zeigt in seinem Buch über die Armutsklasse Elend und Brutalität, ohne sie auszustellen.
Von Novina Göhlsdorf
Es gibt keine Schonfrist - weder in D Hunters Buch noch in seinem Leben. Das Schlimmste kommt am Anfang, im Buch mit Triggerwarnung. Im ersten Text geht es um Hunters Großvater. Dessen Vater habe ihm die Knochen gebrochen, seine Frau habe der Urgroßvater ausgepeitscht. Bis der Großvater, da war er 15 Jahre, seinen Vater erschlagen und sich zum Oberhaupt der Familie gemacht habe, die zum fahrenden Volk der Irish Travellers gehörte und sich schließlich im Norden Englands niederließ. Später habe dieser Großvater die eigene Tochter, Hunters Mutter, vergewaltigt. Und ihn, Hunter, als der ein Kind war, in Hunderten von Nächten, allein und mit anderen Männern. Der Text ist mehrfach unterbrochen von den Listen, die Hunter in diesen Nächten in seinem Kopf abspulte. "Arsenal: John Lukic, Lee Dixon, Nigel Winterburn . . ." - Spieler der Fußballklubs der First Division, so hieß damals, in den Achtzigern, die Premier League.
Die meisten der Texte in Hunters "Auf uns gestellt" erzählen von einer Person aus seiner Vergangenheit und seinem Verhältnis zu ihr. Aus ihnen ergibt sich, nach und nach, ein Bild seiner Geschichte. Hunter wird 1979 oder 1980 in Nordengland geboren, von einer dreizehnjährigen Mutter, die, als er zehn ist, mit ihren Kindern nach Nottingham zieht, um Hunters Großvater zu entkommen. Bald aber verkauft sie, selbst Prostituierte, den Körper ihres Sohns. Er versorgt die drogenabhängige Mutter und seine Schwestern durch Sexarbeit und als Drogenkurier. Er lebt in Heimen und auf der Straße, ist drogensüchtig und kriminell, erfährt immer wieder krasse Gewalt, übt sie aus, kommt ins Gefängnis und mit 25 Jahren in die Psychiatrie. Dort beginnt er eine Beziehung mit einem Pfleger, der ihn sexuell ausbeutet - und ihn, auch nach seiner Entlassung aus der Klinik, darin unterstützt, clean zu werden, einen neuen Job zu finden, zu studieren. Hunter baut Verbindungen zu Menschen auf, die ihm beistehen, wenn ihn Flashbacks einholen oder er rückfällig wird. Heute wohnt er mit seiner Partnerin und seinem Kind in Manchester. Er ist Autor und Pädagoge und promoviert über die Solidarität der Arbeiterklasse und die Frage, was sie erschwert.
Auch sein Buch dreht sich um den Zusammenhalt in der Arbeiterklasse - in deren ärmstem Teil -, darum, wie der oft schmerzhaft fehlt, aber auch groß sein kann. Hunter erschließt in seinen Texten Biographisches theoretisch und lässt Theorien biographisch konkret werden. In einer fußnotengeladenen, trotzdem sehr lesbaren Einleitung bezeichnet er sein Vorgehen als "Autoethnografie". Er mache seine persönlichen Erfahrungen zum "Sprungbrett", um allgemeinere Zustände und Dynamiken in der britischen Gesellschaft und besonders der Armutsklasse zu analysieren. Dabei sei er beeinflusst von Ansätzen der Queer Theory, der Kritischen Weißseinsforschung und der soziologischen Klassenanalyse Pierre Bourdieus.
Allerdings, das wird im Lauf des Buchs immer klarer, sind Hunters Texte auch akademisch gerüstete Mittel des Klassenkampfs und des politischen Aktivismus, unter anderem für die Abschaffung von staatlichen Institutionen wie der Polizei, der Gefängnisse und Strafjustiz und für Verfahren "transformativer Gerechtigkeit" im Umgang mit Gewalttaten. Bei solchen Verfahren unterstützt eine selbstorganisierte Gruppe einen Täter darin, sich mit seinem Verhalten und dessen Folgen für das Opfer auseinanderzusetzen. Dessen Perspektive ist leitend für den Prozess, der zu Einsicht und Wiedergutmachung führen soll und zu langfristigen Veränderungen, individuell und gesellschaftlich.
Auch für seinen vor 20 Jahren verstorbenen Großvater, denjenigen, der ihm den größten und nachhaltigsten Schmerz zugefügt hat, hätte sich Hunter keine Gefängnisstrafe gewünscht. Er ist überzeugt davon, "dass auch das, was als besonders schreckliche Überschreitung der physischen und emotionalen Grenzen eines anderen angesehen werden muss, nicht rechtfertigt, denjenigen, der diese Grenzen überschreitet, durch staatliche oder sonstige Mechanismen seiner Menschlichkeit zu berauben". Prosaischer verweist er auf das, was ja auch Studien belegen: Haftstrafen sichern die Abnahme von Kriminalität nicht, im Gegenteil. Und er legt nahe, dass sie für Angehörige der Armutsklasse nur eine intensivierte Form der Kontrolle darstellen, der sie ohnehin permanent ausgesetzt sind, weil sie nicht bloß als nutzlos und störend für die kapitalistische Wertschöpfung gelten, sondern auch als soziales Risiko und Problem. Polizisten, Sozialarbeiter und das Personal geschlossener psychiatrischer Anstalten seien für viele derjenigen, mit denen er aufgewachsen ist, bis heute eine reale Bedrohung, könnten sie verhaften, ihnen die Kinder wegnehmen, sie einweisen. Staatliche Institutionen bildeten ein äußeres Regime, das auf die Menschen der Armutsklasse stete Gewalt ausübt - eine, die deren Gewalt untereinander immer schon vorausgehe, sie verschärfe und daher niemals tilgen könne. Dazu, so Hunter, solle man auf das Wissen und die gegenseitige Fürsorge in den Communitys setzen, die lediglich die Ressourcen dafür benötigten.
Hunters Erlebnisse hätten das Zeug dazu, gut gebetteten Mittelschichtslesern behagliche True-Crime-Schauer zu bescheren oder kantische Erhabenheitsmomente - da man sich ja beim Blick in tiefdunkle soziale Abgründe seiner Souveränität gleich noch sicherer wird; erst recht, wenn sich dort unten der viel verachtete "White Trash" zersetzt. Doch Hunter zeigt Elend, Brutalität und Selbstzerstörung, ohne sie auszustellen, nüchtern und lakonisch, mit viel Gespür für die feinen (auch sprachlichen) Unterschiede und frei von Kitsch und verkrampfter Kitschvermeidung. Er kommt keiner sozialvoyeuristischen Lust entgegen, versagt Gefälligkeit und unterläuft jede bekömmlich-eindeutige Täter-Opfer-Logik, wenn er etwa ausführlich "Mitgefühl" für den Großvater äußert, den, wie ihn selbst, früh erlebte Gewalt traumatisiert habe. Daher sei dessen Handeln oft nicht "das Ergebnis bewusster Entscheidungen" gewesen, wie auch seines, Hunters, es über lange Zeit nicht war.
Seine Lebensgeschichte hätte Hunter tröstend als eine der inneren Wende und Läuterung erzählen können oder, zeitgemäßer, der maximalen Selbstoptimierung. Auch das tut er, glücklicherweise, nicht. Seinen Weg heraus aus Armut und ständiger Gewalt im Lauf der letzten zehn Jahre stellt er dar als widersprüchliches, zerfahrenes Geschehen, das sich zufällig ergeben hat, daraus, dass Hunter im Verhältnis mit Stephen, dem Pfleger in der Psychiatrie, seine früh eingeübte Fertigkeit einsetzte - er tauschte sexuelle Verfügbarkeit gegen die Erfüllung von Bedürfnissen: "Wärme und ein Dach über dem Kopf, Ruhe und Frieden." Diese relativ sichere Umgebung erlaubte ihm neue Erfahrungen. "Ich lernte, andere Menschen nicht im Schlaf zu überfallen. Ich lernte, aufzuwachen und mich ausgeruht zu fühlen. Ich lernte die Vorteile von mindestens einer Mahlzeit am Tag kennen. Fast zwei Jahre lang gab Stephen mir den Raum, um über Entscheidungen nachzudenken, die ich getroffen hatte. . . . Er hielt sich für etwas Besseres, und in vielerlei Hinsicht nutzte er eine verletzbare Person aus, aber das tat ich auch."
Hunter macht deutlich, dass er sich, anders als sein Großvater, seine Mutter, viele seiner Freunde, irgendwann um die Heilung seiner Traumata kümmern konnte. Mit einer penetrant präsenten Vokabel ausgedrückt: Selbstfürsorge ist ein Bonus für die, deren Existenz gesichert ist. Beiläufig widerspricht Hunter dem doktrinären Glauben an die Allwirksamkeit des Therapeutischen. Psychotherapie habe ihm durchaus geholfen, doch gehe sie nur die Symptome des Leids an, nicht dessen Gründe, lasse "jegliche sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen" außer Acht. Das heißt: Um Heilung wirklich zu ermöglichen, braucht es äußere Veränderungen, innere reichen nicht.
Hunters Buch ist am schwächsten, wo es zum Pamphlet, zur explizit politischen Kampfschrift wird. Da wirken die bombastischen Parolen und krachenden Aufrufe zur Revolution hohl, da fehlt die Detailgenauigkeit, da kippt Aktivismus in eine Wut-Performance, und es wird fad, weil erwartbar. Die Kraft seines Buchs - auch und besonders die politische - liegt woanders. Dort, wo es tatsächlich unbequem wird, sich vertrauten Reflexen versperrt und auf Ambivalenzen besteht. Wo Hunter betont: Sein Großvater war mehr als ein Gewalttäter. "Sein Scharfsinn, sein Mut, für seine Überzeugungen einzutreten, sein Überlebenswille . . . seine Fähigkeit zu lieben und sich zu kümmern, all das ist nie verschwunden." Wo Hunter die Handlungsmacht der für verloren Erklärten würdigt, wenn er beispielsweise das Tanzen seiner Mutter ohne Musik als "Akt des Widerstands" beschreibt.
Die Kraft liegt dort, wo er in seinen Texten tut, was er fordert, und etwa danach fragt, wie er seiner Verantwortung dafür gerecht werden kann, im späten Teenageralter seiner Freundin eines Tages unvermittelt ins Gesicht geschlagen zu haben. Er hat keine Antwort, aber eine entscheidende Frage gestellt. Dort, wo er, im interessantesten Text des Buchs, die "Hyperreflexivität" vorführt, mit der man sich, seinen sozialen Standort und sein Verhalten bedenke und die notwendig sei, um sich verantwortlich zu machen.
Hunter hat den Text gemeinsam mit seinem Schwarzen Freund MD geschrieben, der ihm seine Beiträge telefonisch aus dem Gefängnis durchgegeben hat. MD beharrt auf dem fundamentalen Unterschied zwischen ihnen, den Vorteilen Hunters aufgrund seines Weißseins, und darauf, dass dieser sie in Wahrheit nicht missen wolle. Hunter ist das unangenehm, doch er gibt ihm recht und geht, mit intersektional sensibilisiertem Blick, den eigenen patriarchal-rassistischen Verwicklungen gründlich nach. Er zitiert bell hooks und andere Forscherinnen, schreibt Sätze wie "ich möchte betonen, dass die Reproduktion meines Weißseins an meine Cis-Männlichkeit und meine Position in der Arbeiterklasse geknüpft ist". Am Telefon lässt MD sich Hunters Selbsterkundung vorlesen, bevor er diktiert: "D, ich verstehe, was du da tust. Es ist in Ordnung, aber teilweise klingt es einfach so, als wärst du ein verdammtes Arschloch. Wenn du rumheulst, du wärst eine spezielle Art von weiß, weil du zur Arbeiterklasse gehörst." Hier wird der Text wirklich hyperreflexiv. Mit diesen Worten und allen, die MD danach noch sagt und denen Hunter nichts mehr hinzufügt.
D Hunter: "Auf uns gestellt. Armutsklasse, Trauma und Solidarität". Aus dem Englischen von Isabelle Suremann. Edition Nautilus, 256 Seiten, 20 Euro
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