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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Sammelband über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus enthält auch Stellungnahmen zu jüngsten erinnerungspolitischen Debatten
Das Ziel des vorliegenden "Kompendiums", das fast dreißig Beiträge namhafter Wissenschaftler nebst zwei Interviews mit Akteuren aus dem Kulturbereich (dem Kabarettisten Thomas Pigor, Verfasser eines "Hitler-Songs", und Timur Vermes, Autor des Bestsellers "Er ist wieder da") enthält, ist nicht weniger als eine Bilanz der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und eine Bestandsaufnahme des erinnerungskulturellen Umgangs mit seinen Verbrechen. Mit dem Begriff der Aufarbeitung, hier verstanden als "fortwährende rationale Analyse mit geschichtswissenschaftlicher Methodik" in einer "Kombination aus Quellensicherung, Analyse und Diskussion", so der Herausgeber Magnus Brechtken in seiner Einleitung, vermeidet man die Rede von der "Vergangenheitsbewältigung", die Abgeschlossenheit suggeriert.
Der Band ist in zehn Themenblöcke unterteilt, wobei der Abschnitt "Behörden und Auftragsforschung" mit sechs Beiträgen am umfangreichsten ist, was Ausdruck eines nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt anhaltenden bundesdeutschen Aufarbeitungstrends ist, der 2010 mit der Veröffentlichung der Studie "Das Amt" zur Rolle des Auswärtigen Amtes im Nationalsozialismus begann und der inzwischen auch innerhalb der Historikerzunft kritisch gesehen wird. Niels Weise, der selbst in Projekten zum Verkehrs- und zum Forschungsministerium arbeitet, sieht in seinem Beitrag zur Konjunktur der behördlichen Auftragsforschung diese noch nicht an ihr Ende gekommen: Ausgeforscht habe es sich hier noch lange nicht, denn noch stünden etwa Studien zu den deutsch-deutschen Verteidigungsressorts sowie vergleichende Untersuchungen mit anderen postfaschistischen Ländern aus.
Zu den Autoren des Bandes zählen ausgewiesene deutsche und internationale Experten. Sie nehmen in ihren Beiträgen verschiedene Akteure, etwa Vertriebenenpolitiker und BKA-Experten, vor allem aber bundesdeutsche Institutionen der Aufarbeitung in den Blick, darunter die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, die bundesdeutschen Buchverlage und das im Oktober 1947 von den Ländern Bayern, Hessen, Württemberg-Baden und Bremen gegründete Institut für Zeitgeschichte (IfZ). Der bewegten, konfliktreichen Gründungsgeschichte des IfZ widmet der Herausgeber, seit 2012 dessen stellvertretender Direktor, den ausführlichsten Beitrag des Bandes, der gleichwohl die seit Langem angekündigte Gesamtdarstellung der ambivalenten Institutsgeschichte nicht ersetzen kann.
Als "ambivalent" beschreibt Hans-Christian Jasch auch die Rolle der bundesdeutschen Gerichte bei der Verfolgung von NS-Tätern. Mit Blick auf die Zahl der Verurteilten wertet der Autor das Agieren der Justiz als "beschämend" und "unbefriedigend". Zugleich aber seien die wenigen Prozesse, die überhaupt stattfanden, Katalysatoren für die politische, mediale und zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gewesen. Sie schufen zudem mit ihrer Dokumentation von Täter- und Zeugenaussagen und im Zusammentragen von zeitgenössischen Dokumenten als Beweismaterial wichtige Quellengrundlagen für die historische Forschung. Christopher R. Browning etwa, im Band durch einen Beitrag zur Entwicklung der amerikanischen Holocaustforschung vertreten, stützte seine für das Verständnis der Motivlage der Täter bahnbrechende Studie "Ganz normale Männer" (1992/93) vor allem auf Vernehmungsprotokolle aus den Ermittlungen gegen frühere Angehörige des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101.
Bill Niven bilanziert im Schlussbeitrag des Bandes die Kontroversen der Gegenwart als "Erweiterung der deutschen Erinnerungslandschaft", wozu er auch die jüngste Debatte um die "multidirektionale Erinnerung" zählt. Im Band kommen die Protagonisten dieses anhaltenden Deutungskonflikts um den Zusammenhang der deutschen Kolonialgeschichte mit dem Holocaust jedoch selbst nicht zu Wort. Den Grund macht der Herausgeber gleich in seiner Einleitung, wenn auch etwas versteckt in einer Fußnote, deutlich: Der von Dirk A. Moses verfasste "Katechismus der Deutschen" lasse "neben einer offensichtlich begrenzten Vertrautheit mit den Komplexitäten, Strängen und Meinungsentwicklungen der Aufarbeitungsgeschichte ein verschwörungsaffines Weltbild mit einer sichtlich politischen Agenda" erkennen.
Ähnlich meinungsstark fällt in dem ansonsten von soliden Forschungsüberblicken dominierten Band der Beitrag von Ulrike Jureit zu den erinnerungskulturellen Wandlungsprozessen im Holocaustgedenken aus. Darin konstatiert die Hamburger Historikerin eine Tendenz zum emotionalisierenden, "magisch-authentischen" und moralisierenden Erinnern und warnt vor den Gefahren einer "religiösen Überhöhung" des verordneten Gedenkens und dessen politischer Instrumentalisierung. Gleichzeitig mahnt Jureit an, Wissenschaftler nicht leichtfertig in die "rechte Ecke" zu stellen, wenn sie den vermeintlichen Erinnerungskonsens und die "Erfolgsgeschichte" bundesdeutscher Aufarbeitung kritisch hinterfragen. Jureits Forderungen decken sich mit dem Plädoyer Bill Nivens für eine "postmoralisierende Erinnerungskultur."
Das Infragestellen der Deutungen und Praktiken einer Erinnerungskultur ist eine Grundbedingung ihrer lebendigen Fortexistenz. Das Aufarbeiten der Geschichte muss ein fortlaufender Prozess bleiben, in dem jede Zeit ihre Fragen neu stellen kann. Auch aus diesem Grund kann das vorliegende "Kompendium", so wichtig es ist, nicht mehr als eine lückenhafte Bestandsaufnahme sein, wie der Herausgeber auch einräumt. RENÉ SCHLOTT
Magnus Brechtken (Hrsg.): "Aufarbeitung des Nationalsozialismus". Ein Kompendium.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 720 S., Abb., geb., 34,- Euro.
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