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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Lust am Konterkarieren: Frank Trentmann versucht sich an einer Mentalitätsgeschichte der Deutschen der letzten achtzig Jahre
Einige deutsche Politiker und Politikerinnen - und keineswegs nur sie - haben die Neigung, die jüngere Geschichte ihres Landes als eine große Konversion zu erzählen, als die Verwandlung eines Volkes, das, sei es aus Kadavergehorsam oder einer Mischung aus Brutalität und Bosheit, einem Verbrecher an der Spitze des Staates bis zu dessen Selbstmord im Führerbunker gefolgt sei und sich in den anschließenden Jahrzehnten zu einem fürsorglichen Akteur in Europa und der ganzen Welt entwickelt habe. Demgemäß stellen sie diese moralische Besserung, wo auch immer sie hinreisen, als Vorbild für andere heraus und legen den Betreffenden nahe, dem deutschen Vorbild zu folgen, beginnend bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und endend bei der vorsorgenden Aufmerksamkeit für andere.
Dem deutsch-britischen Historiker Frank Trentmann geht diese selbstgefällige Konversionserzählung erkennbar auf die Nerven, und so konterkariert er in seiner die letzten achtzig Jahre behandelnden Mentalitätsgeschichte der Deutschen ein ums andere Mal einen solchen Blick der Deutschen auf sich selbst. Es ist eine Geschichte der durchgängigen Ambivalenz, die Trentmann erzählt, eine, in der sich Großzügigkeit mit Kleinlichkeit, die Einsicht in eigene Schuld und Verantwortung mit wehleidigem Reklamieren der Opferrolle paart, die Hilfe für andere mit wohlberechnetem Eigeninteresse verbindet und bei der das Urteil immer davon abhängig ist, zu welchem Zeitpunkt man auf welche Personengruppe schaut.
Man kann diese Ambivalenz der Einstellungen und des Verhaltens als Selbstverständlichkeit ansehen, weil schließlich, je größer eine Gruppe ist, desto variantenreicher das Ensemble der anzutreffenden Mentalitäten ausfällt. Ebenso kann man aber fragen, ob es überhaupt möglich ist, nationalspezifische Mentalitäten zu identifizieren, oder ob man dabei allein schon wegen der verfügbaren Quellenlage immer bei einer bestimmten sozialen Schicht endet, nämlich der, die Briefe und Tagebücher schreibt und sie über Generationen hinweg aufbewahrt: also der Mittelschicht. Wie viele solcher Selbstzeugnisse braucht man, um nach ihrer Auswertung sagen zu können, man sei der nationalen Grundstimmung habhaft geworden? Oder kann man sich nur auf demoskopische Erhebungen verlassen, die unter den Vorgaben der Repräsentativität erstellt worden sind?
Trentmann behandelt diese methodologischen Fragen nur am Rande und konzentriert sich auf das verfügbare Material, unterstellend, dass das, was in den Selbstzeugnissen mehrheitlich zu finden ist, die vorherrschende Grundstimmung einer Gesellschaft beziehungsweise Nation wiedergibt. Wer ihm darin nicht zu folgen bereit ist, der wird die Lektüre des tausendseitigen Werks mit allzu vielen Fragezeichen versehen, um den darin zusammen-getragenen Beobachtungen etwas abgewinnen zu können. Obendrein stellt sich die Frage, ob Trentmann womöglich zu einem anderen Resümee gelangt wäre, wenn er seine Darstellung zu Beginn der 10er-Jahre unseres Jahrhunderts beendet und den Aufstieg des rechtspopulistisch befeuerten Nationalprotektionismus nicht mehr einbezogen hätte.
Aber nicht nur das Ende des Untersuchungszeitraums hat Folgen für den Blick auf die Mentalität der Deutschen, sondern auch dessen Anfang: In den meisten Darstellungen - zumindest von deutschen Historikern der vorherigen Generation - beginnt die Beschäftigung mit der Mentalität der Deutschen bei der Bismarck'schen Reichsgründung und dem Theorem des Obrigkeitsstaates, von dem aus dann eine Linie zur Hitlerdiktatur gezogen wird. Gehorsam und bedingungslose Folgebereitschaft sind dann das dominante Signum deutscher Mentalität. Indem Trentmann mit dem Jahr 1942 beginnt, der Niederlage von Stalingrad und den beginnenden strategischen Bombardements deutscher Städte durch die Westalliierten, geraten sehr viel stärker ideologische Antriebe, Antisemitismus, die Idee einer eigenen rassischen Überlegenheit oder auch die Vorstellung von slawischen "Untermenschen" und einem dekadenten Materialismus des Westens in den Fokus. Die Behauptung, man habe ja nur Befehlen gehorcht, tritt dann erst nach 1945 wieder stärker hervor, als es darum ging, die eigene Verantwortung für Kriegsverbrechen und den Genozid an den europäischen Juden herunterzuspielen und auf andere abzuwälzen.
Trentmann hat sein Buch in vier große Kapitel gegliedert: die zweite Hälfte des Krieges und seine retrospektive Thematisierung, als die Deutschen in die Opferrolle schlüpften und dabei wenig Aufmerksamkeit für diejenigen hatten, die sie zu Opfern gemacht hatten; die lange Phase von 1949 bis 1989, als Deutschland geteilt war und in den beiden Staaten unterschiedliche Mentalitäten entstanden, die des "Wirtschaftswunders" und die des "neuen sozialistischen Menschen", dazu die Auseinandersetzung mit einer Wiederbewaffnung und der Umgang mit der sich entwickelnden Pluralität im Westen und der geforderten Einheitlichkeit im Osten; sodann die Zeit vom Mauerfall bis zum Jahr 2022, als die Deutschen wieder zusammenfinden mussten und damit sehr viel größere Probleme hatten als erwartet; und schließlich, gewissermaßen als Konklusion, die Mentalität des Gut-sein-Wollens, unter der Trentmann die Wirtschaftsmentalität der Sparsamkeit versteht, dazu die soziale Mentalität des gesellschaftlichen Zusammenhalts beziehungsweise die Klage über dessen Erosion, das Schwinden von Solidarität und Gemeinsinn, nicht zuletzt die Besorgnis um die Natur, die Rettung des Waldes, zumal des "deutschen Waldes", die Abkehr von der Atomenergie im eigenen Land und die Skepsis gegenüber einigen technologischen Entwicklungen.
Bei all dem fällt auf, dass die Ähnlichkeiten mit den europäischen Nachbarn umso größer werden, je weiter der Zweite Weltkrieg zurückliegt. Inhaltlich machen die Deutschen mit einiger Zeitverzögerung mehrheitlich alles mit, was auch für die Amerikaner und die westlichen sowie südlichen Nachbarn in Europa typisch war und ist. Was sie von diesen jedoch unterscheidet, ist eine das Selbstbild durchgehend begleitende Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung, die Herausstellung des moralischen Fortschritts, das Haschen nach der Anerkennung durch die anderen und, darauf aufbauend, ein mitunter aufdringliches Bedürfnis, diese darüber zu belehren, worin ein moralisch richtiges Leben besteht und wie man dahin gelangt.
Ein ums andere Mal konterkariert Trentmann diese Selbstbilder, indem er zeigt, in welchem Maße schnöde Interessen die Stützpfeiler der moralischen Fassaden sind und welche Selbsttäuschungen mit den jeweiligen Selbstbildern verbunden waren und sind. Was Trentmann nicht thematisiert, sind die politischen Kosten dieser Selbsttäuschungen: das Defizit an strategischer Klarheit des politischen Blicks und der mittelfristigen Umsetzung des als richtig Angesehenen. Das Gut-sein-Wollen kann auch als Wille zur politischen Kurzsichtigkeit verstanden werden - aber das ist ein anderes Thema als das von Trentmann bearbeitete. HERFRIED MÜNKLER
Frank Trentmann: "Aufbruch des Gewissens". Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute.
Aus dem Englischen von H. Dedekind u. a.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023. 1036 S., geb., 48,- Euro.
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