Ein anrührender Bildungsroman und ein detailreiches Sittengemälde der bundesdeutschen Mittsechziger, sprachübermütig und mit epischem Temperament erzählt.
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Literatur als Medium der Selbstbefreiung: Ulla Hahn setzt mit ihrem Panorama "Aufbruch" die Geschichte von Hildegard Palm fort.
Von Pia Reinacher
Und wieder blättert Ulla Hahn im Familienroman und begleitet Hildegard Palm, Heldin ihres ersten autobiographischen Romans "Das verborgene Wort" (2001), auf den archäologischen Grabungen in die Kindheit. Mit diesem ersten Buch über das Aufwachsen eines Mädchens in einem katholisch geprägten Dorf im Rheinland konnte die heute in Hamburg lebende Lyrikerin einen imposanten Publikumserfolg verbuchen.
"Aufbruch" ist nun die Geschichte der widerborstigen Emanzipation einer Frau aus den finsteren, kulturfeindlichen, repressiven Verhältnissen der jungen deutschen Bundesrepublik. Hildegard Palm nämlich verschafft sich gegen alle Widerstände den Zugang zum Gymnasium, weicht vom vorgespurten Leben ab, befreit sich aus der demütigenden Verbindung mit dem Freund aus wohlhabender Familie, zieht nach Köln zum Studium und bestimmt von diesem Moment an ihr Schicksal selbst.
Ulla Hahns Alter Ego Hilla, Tochter eines Hilfsarbeiters in einem katholischen Dorf in der Nähe von Köln, verweigert sich den einschnürenden Verhältnissen und "denkt" sich regelrecht aus ihnen "hinaus". Mit unglaublicher Stärke, zähem Ungehorsam, eigenwilliger Hellsichtigkeit und wilder Autonomie katapultiert sie sich aus der seit Generationen vorbestimmten Biographie einer Frau aus proletarischen Verhältnissen. Hilla Palm lernt die lateinische Sprache - mit der Unterstützung des Bruders. Latein wird mehr als alles andere, was sie sich mit eiserner Disziplin aneignet, zum Symbol für das unbekannte gesellschaftliche Alphabet, das sie von jetzt an durchbuchstabiert.
Die alte Sprache wird im Familienkreis schon bald zur Bedrohung. Eltern und die Großmutter verständigen sich nur im rheinländischen Dialekt. Die Geschwister aber parlieren auf Hochdeutsch und Lateinisch - abweichende Tonspuren, die den Ausbruch ankündigen. Goethe und Schiller, Lessing, Kleist und Mörike öffnen dem bildungshungrigen Mädchen die Türe zu einem überraschenden Universum. Der Buchhändler, in dessen Bücherstube es sich regelmäßig verkriecht, verwandelt sich zur symbolischen Führungsgestalt bei diesen "rites de passage". Mit jedem Reclambändchen, welches sie in die Hände bekommt, findet sie eine eigene Sprache und entdeckt Vorbilder zu einem anderen Leben.
"Aufbruch" ist eine Mischung aus Entwicklungsroman, Selbstbefragungsepos, Sozial- und Zeitgeschichte - wobei der leichte Hang zum Schmöker nicht unterschlagen werden soll. Vieles ist etwas geschönt, anderes stilisiert, eine ab und zu allzu wuchernde Erzählfreude trägt die Autorin in einigen Passagen beinahe unkontrolliert voran. Und doch wird eine verblichene Epoche Bild um Bild auf die Erinnerungsleinwand des Lesers geholt. Die genaue Milieuschilderung aber verdankt sich der handwerklichen Qualitäten der Schriftstellerin. Ulla Hahn hat ohne Zweifel ausgiebig recherchiert, eine Menge von ethnologischem, soziologischem und historischem Material zusammengetragen und in bildstarke Szenen übersetzt. Exemplarisch zeigt sich das in der Beschreibung von Mode und Kleidern.
Nicht verschwiegen sei, dass dieser sechshundertseitige Roman ein paar Kürzungen vertragen hätte. Die Konturen mancher Szenen wären dabei schärfer geworden, einiges geht im dahinplätschernden Romanfluss unter. Ein paar Szenen dieses Bildungs- und Schicksalsromans graben sich im Gedächtnis des Lesers allerdings nachhaltig ein. Dazu gehört die Vergewaltigung auf einer Waldlichtung. Hilla, die den letzten Bus verpasst, lässt sich von einem Autofahrer mitnehmen und wacht am anderen Morgen auf einer einsamen Waldlichtung auf, ohnmächtig, knapp dem Tod entronnen. Dass sie Jahre gebraucht habe, um die Erinnerung an das fatale Ereignis zuzulassen, verrät Ulla Hahn in einem Interview, aber auch, dass sie genau diese Passage immer und immer wieder umgeschrieben habe.
Imponierend löst sie aber auch das schwierige Thema der Aufarbeitung der Auschwitz-Prozesse und die Wiedervergegenwärtigung der Entnazifizierung: Deutschlehrer Rebmann verlangt von den Schülern, dass sie die Eltern nach ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg befragen und die Materialiensammlung für eine Jahresarbeit zum Thema Nationalsozialismus zusammentragen - eine Provokation, die ihm den Vorwurf des Brunnenvergifters und Nestbeschmutzers einträgt.
Ulla Hahn zeichnet mit diesen Szenen subtil und energisch die schmerzhaften Versuche der Elterngeneration, sich einem Gespräch über die Vergangenheit zu verweigern, und die hartnäckigen Forderungen der Kinder nach Erinnerung - auch das symptomatisch für die sechziger Jahre - und verschweigt dabei nicht, wie sich Eltern und Kinder dabei gegenseitig hilflos ausgeliefert waren.
Schließlich bleibt, als eindrückliche Leseerinnerung, das karge Porträt des Vaters haften, der sich der Tochter eine Kindheit lang nur dumpf und verschlossen zeigt, aber auf dem Höhepunkt des krisenhaften Ablösungsprozesses über sich selbst hinauswächst. Ausgerechnet er, der die Emanzipationsversuche des Kindes trotzig quittierte, räumt ihm jetzt den Weg an die Kölner Universität und damit in die neue Welt frei - damit sich sein eigenes Schicksal nicht wiederhole. An solchen Stellen offenbart sich das Verdienst dieses Schicksals- und Selbsterforschungsromans. "Aufbruch" ist Geschichtsschreibung von unten, eine Sozial- und Milieustudie aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, welche die Krisen und Chancen dieser Ära eindringlich vor Augen führt.
Ulla Hahn: "Aufbruch". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 586 S., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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