Mit "Aufbruch in den Abgrund" (1918-1945) liegt jetzt die Fortsetzung des Buches "Fortschritt und Fiasko" (1810-1918) vor. Im zweiten Band seiner Literaturgeschichte der deutschen Science Fiction rückt Hans Frey die SF der Weimarer Republik und die unter der Nazi-Diktatur in den Fokus. Erneut hat der Autor tief gegraben und viele Beispiele einer weitgehend vergessenen Literatur ans Licht geholt. So werden anhand der Genreentwicklung Schicksalsjahre der deutschen Geschichte lebendig. Die Weimarer SF war durch politisch-ideologische Kämpfe, technokratische Fantasien und dystopische Albträume, aber auch durch einige große Zukunftsentwürfe gekennzeichnet. Im Nazi-Regime war die SF, wenn sie nicht sofort verboten wurde, nur als Randliteratur und im Zwangskorsett engster Technikvorstellungen geduldet. Das reich illustrierte Sachbuch "Aufbruch in den Abgrund" ist das Gegenteil verstaubter Geschichtsaufarbeitung. Lesefreundlich, unterhaltsam und spannend vermittelt der Autor fundiertes Wissen und erhellende Einsichten. Hans Frey: "Auch diesmal hat meine Arbeit aktuelle Bezüge, die gewollt und nicht zufällig sind."
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2020Freigelegte Wurzelknoten
Wie die deutsche Science-Fiction in den Abgrund fiel, zeigt Hans Frey im zweiten Teil seiner Pionierarbeit zur Geschichte des Genres.
Eine seit etwa den Siebzigern leidlich lebendige linksliberale Zeitströmung im Kulturbetrieb nimmt die Literaturgattung "Science Fiction" überwiegend aus weltanschaulicher Perspektive wahr: Warnungen vor schlechteren Gesellschaften und Entwürfe schönerer sollen die Substanz des Genres sein. Es gibt genügend Beispieltexte der Gattung, die das stützen, zwischen Feminismus (Ursula K. LeGuin), Antirassismus (N. K. Jemisin), Ökosozialdemokratie (Kim Stanley Robinson) und Netzkonzernkritik (Cory Doctorow). Übergehen muss diese Lesart der Science Fiction freilich radikale Marktliberale (Ayn Rand), strenggläubige Katholiken (John C. Wright) oder Mormonen (Orson Scott Card), superpatriotische Amerikanerinnen (Sarah Hoyt) und Faschisten (Theodore Beale alias Vox Day), die es im Genre eben auch gibt.
Wer sie ausklammert, versperrt nicht nur die Sicht auf die Gegenwart der Science Fiction, sondern auch den Weg zu den Quellen. Zumindest für den deutschen Sprachraum jedoch ist dieser Weg anders und klüger nachgezeichnet worden, denn es gibt einen Menschen namens Hans Frey, der 2018 die großartige Studie "Fortschritt und Fiasko - Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs, 1810-1918" vorgelegt und diese Leistung nun mit einem noch besseren zweiten Band übertroffen hat: "Aufbruch in den Abgrund - Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur. Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur, 1919-1945".
Das zweite Buch zeigt noch deutlicher als das erste, wie kompliziert der Wurzelknoten war, aus dem die Literatur der Zukunft und der Alternativhistorie zu ihrer heutigen Gestalt heranwuchs: Deutsche, die während der Zeit der Weimarer Republik gesellschaftlich ins Mittelalter oder noch weiter zurückwollten, konnten sich trotzdem in die damals modernste Technik verlieben. So etwa ein Autor namens Condor (manchmal auch: Kondor), bei dem es laut Frey "Wundergefährte" gab, die "sowohl U-Boote als auch Flugmaschinen" waren, während ein Franz-Josef Sontag unterm Pseudonym "Junius Alter" eine Utopie schrieb, in der ein Bündnis aus Reichswehr, DNVP und NSDAP eine neue zentraleuropäische Welt ermöglicht.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gab es vor der Naziherrschaft selbst in populär geschriebenen Texten seltsame Berührungen zwischen programmatisch-propagandistischer Nüchternheit einerseits und den seinerzeit gültigen Feldzeichen des ästhetischen Avantgardismus andererseits: Der Roman "Die KPD regiert" zum Beispiel, den ein Walter Müller unterm Decknamen Konrad Giesecke 1931 publizierte, ist zwar sachlich-kühl aus fiktiven Zeitungsberichten und anderen kunstlosen Dokumentarbehauptungen komponiert, hat aber zugleich eine Zentralfigur namens "Malik", was an einen der bedeutendsten literarischen Verlage der Ära denken lässt. Bei aller Freude an der Archäologie politischer Haltungen, die er da treibt, übersieht Frey nie die ästhetischen Qualitäten oder Makel seiner Funde, zu denen nicht wenige Werke zählen, die sich in Parteikoordinatensysteme nur mit Mühe oder gar nicht eintragen lassen.
Wer Alfred Döblins "Berge Meere und Giganten" (1924) schätzt oder Franz Werfels "Stern der Ungeborenen" (1946), wird für Freys Hinweis auf den expressionistischen Roman "Baltasar Tipho" (1919) von Hans Flesch dankbar sein, in dem man "posthumanen" Themen begegnet, die in der angloamerikanischen Science Fiction erst zur Zeit von Bruce Sterlings "Schismatrix" (1985) zentral wurden. Ein Opus namens "Die Fahrt in die Zukunft" (1922) von Hans Christoph fällt nicht allein thematisch (als Zeitreisegeschichte, die es zwischen den Weltkriegen auf Deutsch selten gab) aus dem Rahmen, sondern auch als Versuch, kühne diegetische Konsequenzen aus Einsteins Relativitätstheorie zu ziehen.
Fast alle Texte, an die Frey erinnert oder die er vorstellt, sind für sein Publikum schwer zu beschaffen bis gänzlich unerlangbar; insbesondere das finstere Zeug, das man unter Hitler las, will man aber ohnehin nicht unbedingt studieren müssen. Frey erkennt die Verantwortung an, die ihm dadurch zuwächst, dass sein Publikum sich auf sein Wort verlassen muss: Durchgängig hält er die Bewertungskriterien transparent; man kann, wenn man unter anderen Gesichtspunkten liest und wertet als den seinen, gewissermaßen alle Kursnotierungen umrechnen. Georg Wilhelm Friedrich Hegels höhnisches Urteil, die deutsche Literatur sehe "wie eine reiche Wiese aus, bei der einer sagte, dass er den Wunsch habe, eine Kuh zu sein, um es sich in ihr schmecken zu lassen", darf man dank Freys Forschungen zumindest abmildern: Ein paar phantastische Orchideen, die sich nicht als Viehfutter eignen, wachsen hierzulande denn doch auch.
DIETMAR DATH.
Hans Frey: "Aufbruch in den Abgrund". Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur. Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur, 1918-1945.
Memoranda Verlag, Berlin 2020. 523 S., br., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie die deutsche Science-Fiction in den Abgrund fiel, zeigt Hans Frey im zweiten Teil seiner Pionierarbeit zur Geschichte des Genres.
Eine seit etwa den Siebzigern leidlich lebendige linksliberale Zeitströmung im Kulturbetrieb nimmt die Literaturgattung "Science Fiction" überwiegend aus weltanschaulicher Perspektive wahr: Warnungen vor schlechteren Gesellschaften und Entwürfe schönerer sollen die Substanz des Genres sein. Es gibt genügend Beispieltexte der Gattung, die das stützen, zwischen Feminismus (Ursula K. LeGuin), Antirassismus (N. K. Jemisin), Ökosozialdemokratie (Kim Stanley Robinson) und Netzkonzernkritik (Cory Doctorow). Übergehen muss diese Lesart der Science Fiction freilich radikale Marktliberale (Ayn Rand), strenggläubige Katholiken (John C. Wright) oder Mormonen (Orson Scott Card), superpatriotische Amerikanerinnen (Sarah Hoyt) und Faschisten (Theodore Beale alias Vox Day), die es im Genre eben auch gibt.
Wer sie ausklammert, versperrt nicht nur die Sicht auf die Gegenwart der Science Fiction, sondern auch den Weg zu den Quellen. Zumindest für den deutschen Sprachraum jedoch ist dieser Weg anders und klüger nachgezeichnet worden, denn es gibt einen Menschen namens Hans Frey, der 2018 die großartige Studie "Fortschritt und Fiasko - Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs, 1810-1918" vorgelegt und diese Leistung nun mit einem noch besseren zweiten Band übertroffen hat: "Aufbruch in den Abgrund - Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur. Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur, 1919-1945".
Das zweite Buch zeigt noch deutlicher als das erste, wie kompliziert der Wurzelknoten war, aus dem die Literatur der Zukunft und der Alternativhistorie zu ihrer heutigen Gestalt heranwuchs: Deutsche, die während der Zeit der Weimarer Republik gesellschaftlich ins Mittelalter oder noch weiter zurückwollten, konnten sich trotzdem in die damals modernste Technik verlieben. So etwa ein Autor namens Condor (manchmal auch: Kondor), bei dem es laut Frey "Wundergefährte" gab, die "sowohl U-Boote als auch Flugmaschinen" waren, während ein Franz-Josef Sontag unterm Pseudonym "Junius Alter" eine Utopie schrieb, in der ein Bündnis aus Reichswehr, DNVP und NSDAP eine neue zentraleuropäische Welt ermöglicht.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gab es vor der Naziherrschaft selbst in populär geschriebenen Texten seltsame Berührungen zwischen programmatisch-propagandistischer Nüchternheit einerseits und den seinerzeit gültigen Feldzeichen des ästhetischen Avantgardismus andererseits: Der Roman "Die KPD regiert" zum Beispiel, den ein Walter Müller unterm Decknamen Konrad Giesecke 1931 publizierte, ist zwar sachlich-kühl aus fiktiven Zeitungsberichten und anderen kunstlosen Dokumentarbehauptungen komponiert, hat aber zugleich eine Zentralfigur namens "Malik", was an einen der bedeutendsten literarischen Verlage der Ära denken lässt. Bei aller Freude an der Archäologie politischer Haltungen, die er da treibt, übersieht Frey nie die ästhetischen Qualitäten oder Makel seiner Funde, zu denen nicht wenige Werke zählen, die sich in Parteikoordinatensysteme nur mit Mühe oder gar nicht eintragen lassen.
Wer Alfred Döblins "Berge Meere und Giganten" (1924) schätzt oder Franz Werfels "Stern der Ungeborenen" (1946), wird für Freys Hinweis auf den expressionistischen Roman "Baltasar Tipho" (1919) von Hans Flesch dankbar sein, in dem man "posthumanen" Themen begegnet, die in der angloamerikanischen Science Fiction erst zur Zeit von Bruce Sterlings "Schismatrix" (1985) zentral wurden. Ein Opus namens "Die Fahrt in die Zukunft" (1922) von Hans Christoph fällt nicht allein thematisch (als Zeitreisegeschichte, die es zwischen den Weltkriegen auf Deutsch selten gab) aus dem Rahmen, sondern auch als Versuch, kühne diegetische Konsequenzen aus Einsteins Relativitätstheorie zu ziehen.
Fast alle Texte, an die Frey erinnert oder die er vorstellt, sind für sein Publikum schwer zu beschaffen bis gänzlich unerlangbar; insbesondere das finstere Zeug, das man unter Hitler las, will man aber ohnehin nicht unbedingt studieren müssen. Frey erkennt die Verantwortung an, die ihm dadurch zuwächst, dass sein Publikum sich auf sein Wort verlassen muss: Durchgängig hält er die Bewertungskriterien transparent; man kann, wenn man unter anderen Gesichtspunkten liest und wertet als den seinen, gewissermaßen alle Kursnotierungen umrechnen. Georg Wilhelm Friedrich Hegels höhnisches Urteil, die deutsche Literatur sehe "wie eine reiche Wiese aus, bei der einer sagte, dass er den Wunsch habe, eine Kuh zu sein, um es sich in ihr schmecken zu lassen", darf man dank Freys Forschungen zumindest abmildern: Ein paar phantastische Orchideen, die sich nicht als Viehfutter eignen, wachsen hierzulande denn doch auch.
DIETMAR DATH.
Hans Frey: "Aufbruch in den Abgrund". Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur. Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur, 1918-1945.
Memoranda Verlag, Berlin 2020. 523 S., br., 26,90 [Euro].
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