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Gudrun Seidenauers Roman "Aufgetrennte Tage"
Ob Hermann unter der Last eines Nachtschränkchens die Treppe hinuntergestürzt ist oder ob seine Frau Marianne ihn mit lange unterdrückter Wut gestoßen hat - Friederike, die Tochter, wird die Wahrheit nicht erfahren. Der Vater hat sich das Genick gebrochen, und die zeitweise verwirrte Mutter ist eine Meisterin der Verdrängung und verweigert jedes Eingeständnis. Marianne wird den Rest ihres Lebens im Pflegeheim verbringen.
Während die Tochter das verlassene Haus, in dem sie aufwuchs, ausräumt, hat sie viel Zeit, sich an ihre freudlose Kindheit zu erinnern. Aber sie kommt auch an das Leben ihrer Eltern so nah heran wie nie zuvor. Hinter der glatten Fassade bürgerlicher Gediegenheit verbargen sich Enttäuschung, Kälte und das Unvermögen, miteinander zu reden. Auf den ersten vierzig Seiten beschreibt Gudrun Seidenauer mit der Distanz einer Chronistin Mariannes allmähliches Abgleiten in die Demenz: Bruchstücke der Vergangenheit lassen sich nicht mehr zusammenfügen, und das Vergessen alltäglicher Dinge ist auch mit den vielen beschriebenen Zetteln nicht aufzuhalten. Das Kindheitstrauma, Außenseiter in Südtirol zu sein, später die Umsiedlung in den "Reichsgau Ostsudeten" und auch da wieder ein Fremdling, schließlich von dort aus die Flucht im letzten Kriegsjahr - das alles wird wieder quälend gegenwärtig. Gegen den sozialen Abstieg und den Ehemann, der ihren Ansprüchen nicht genügte, aber ein Haus zu bauen verstand, hat Marianne ihre fanatische Ordnungsliebe und ihre kunstfertigen Handarbeiten gesetzt. Sie hat ihren Mann verachtet, doch sie hat ihn ausgehalten all die Jahre.
Aber dann lässt Gudrun Seidenauer in einem langen, durch Erinnerungsfetzen der Mutter unterbrochenen Monolog Friederike sprechen. Es ist eine Selbsterforschung und zugleich der verspätete Versuch, den Eltern gerecht zu werden. Miteinander gelebt haben die beiden niemals, stellt die Tochter rückblickend fest. Zu groß war offenbar das Gefälle zwischen dem tüchtigen Handwerker und seiner nach Zärtlichkeit suchenden Frau. Mutter und Tochter sind sich fremd geblieben. Jetzt, da es zu spät ist, ist eine Annäherung kaum noch möglich, aber es kommt doch so etwas wie Mitleid auf. Das meiste Verständnis bringt der sanfte Jakob für seine Schwiegermutter und schließlich auch für Friederike auf. Ihm, dem Musiker und toleranten Ehemann, ist es zu verdanken, dass diese Familiengeschichte nicht mit einer gnadenlosen Abrechnung endet. Behutsam beschreibt Gudrun Seidenauer das komplizierte Geflecht familiärer Beziehungen. Diese "Aufgetrennten Tage", in denen der Lebensfaden abgespult wird, ist mehr als die Talentprobe einer jungen Schriftstellerin, die mit ihrem virtuosen Debüt "Der Kunstmann" überzeugte.
MARIA FRISÉ
Gudrun Seidenauer: "Aufgetrennte Tage". Roman. Residenz Verlag, St. Pölten, Salzburg 2009. 264 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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