Péter Nádas gehört zu den großen Autoren unserer Zeit. Nunmehr ergänzt er sein gewaltiges Romanwerk durch seine Lebenserinnerungen, ein ebenso persönliches wie zeitgeschichtliches Dokument von durchschlagender erzählerischer Kraft. Während Nádas' Mutter am 14. Oktober 1942 in Budapest mit der Straßenbahn zur Entbindung fährt, liquidiert ein Einsatzkommando das Ghetto in Misotsch, Anne Frank zeichnet das Gewicht jedes Familienmitglieds auf, Jan Karski übermittelt in den Pyrenäen der polnischen Exilregierung Nachrichten des Widerstands, und Victor Klemperer erhält in Dresden kein Brot. Jedes Ereignis, so Nádas, wirkt auf alle anderen Ereignisse ein - ob in der Politik oder der privaten Lebensgeschichte. Es sind jene Momente, die Geschichte fassbar machen und Erinnerung konstituieren - eben die «aufleuchtenden Details». Deren weitgespannten Verflechtungen folgen Péter Nádas' Memoiren nicht chronologisch, sondern assoziativ, wie in seinen großen Romanen. Und durch jede einzelne Episode zieht sich die geheime Frage: Wie bin ich zu dem geworden, der ich bin, wenn jede persönliche Erinnerung, jede Prägung, untrennbar mit Geschichte verstrickt ist? Wenn jeder Moment des Lebens nur die Spitze eines Eisbergs ist? In die finsteren Tiefen des 20. Jahrhunderts wirft, so Nádas, auch die europäische Aufklärung kaum noch Licht. Und so erzählt dieses Buch nicht zuletzt davon, wie Identität unter schwierigen Bedingungen wächst, während sie sich permanent im Strom der Zeit zu verlieren droht. Einer der größten europäischen Erzähler blickt hier zurück auf sein Leben, das bis ins kleinste, leuchtende Detail verbunden ist mit den großen Schicksalswendungen eines Kontinents im gewaltsamen Umbruch.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2017Sprache überlebt den Krieg
Péter Nádas' "Aufleuchtende Details" sind Familiengeschichte und Chronik des 20. Jahrhunderts
Gertrude Stein hat einmal gesagt, dass es hundert Jahre, nämlich drei Generationen, dauere, um eine Sache zu verändern, und einen Krieg, um allen bewusst zu machen, dass die Dinge aufgehört hätten, die gleiche Bedeutung zu haben, die sie zuvor hatten. Und erklärt werden könne dies dadurch, dass eben die erzählte Erinnerung in den Familien nach drei Generationen abbreche, dass die Großeltern den Enkeln noch erzählen könnten, was sie gesehen und erlebt und gefühlt hatten, danach aber werde es, weil die sinnliche Erfahrung verloren sei, zu Geschichte: wie sich ein Kleidungsstück angefühlt, eine Speise geschmeckt, ein Badezimmer gerochen, eine Stimme geklungen, ein Schmerz gebrannt habe, weiß dann niemand mehr. Bewahrt werden kann nur das Beschreibbare, nicht aber das individuelle Erleben, das, was nicht Sprache ist.
Ein Schriftsteller, der dasselbe wie die erzählenden Großeltern versucht, nur in einem Ausmaß und mit einer Wucht, die das mündliche Erzählen niemals erlaubte, ist der Ungar Péter Nádas. In seinen kurz vor seinem 75. Geburtstag am 14. Oktober auf Deutsch erschienenen, mit "Memoiren eines Schriftstellers" untertitelten "Aufleuchtenden Details" erzählt er uns, seinen imaginierten Kindern und Enkeln, die mit dem monströsen 20. Jahrhundert verzahnte Geschichte seiner Familie. Die Eltern, sind glühende Kommunisten (der Vater zudem Jude), die in der Illegalität, mit falschen Papieren und in ständiger Gefahr, verhaftet, gefoltert, ermordet zu werden, Faschismus und deutsche Besatzung in Budapest überstehen. Nach dem Krieg unterstützen sie die Errichtung des kommunistischen Regimes, geraten in die Mühlen von Verdächtigung und Verleumdung, werden durch die Geheimdienste bespitzelt, der Vater wird schließlich von den eigenen Genossen angeklagt und in einem Schauprozess verurteilt. Die Mutter stirbt an Krebs. Der Vater nimmt sich das Leben. Péter Nádas ist vierzehn Jahre alt.
Was die Eltern dem Kind, das Péter Nádas bis zu ihrem Tode war oder zu sein versuchte, an Selbstdisziplin, Aufopferung für andere und Verzicht abverlangten, grenzt an seelische Folter. Man wundert sich, wie er da herauskam, nicht heil, aber doch immerhin imstande, ein eigenständiges Leben zu führen, ein Schriftsteller zu werden. Der Geschichte der Eltern und deren Eltern, der Tanten, Onkel, Freunde nachzuspüren und aufzuschreiben, was sie erzählt haben; zu erforschen, welche anderen als die unzuverlässigen mündlichen Zeugnisse es gibt; was sich an Wohnungsinventar und Kleidungsstücken, an Aufzeichnungen und Arbeitszeugnissen wiederfinden lässt - das ist die eine große, sich assoziativ verästelnde Erzählung des Péter Nádas.
Die andere ist die vom liberalen bürgerlichen Zeitalter und seinem Untergang, dem bürgerlichen häuslichen Leben mit seinen fürchterlichen Anstrengungen und den festgeschriebenen Rollen von Mann und Frau, Eltern und Kindern, Dienstboten und Herrschaft. Was für eine allwöchentliche Strapaze die "Große Wäsche" war, erfährt man hier. Und wer es gelesen hat, fragt hoffentlich nie mehr danach, womit bloß die Frauen all ihre "Mußestunden" gefüllt haben, während ihre genialen Männer komponierten oder studierten oder die Staatsgeschäfte betrieben. Die bürgerliche Familiengeschichte ist wiederum eingeschrieben in die der jüdischen Emanzipation, des ungarischen Nationalismus, der sozialen Bewegung, der kommunistischen Konversion.
Unwillkürlich beginnt man beim Lesen, die eigene Familiengeschichte parallel zu schalten - die Erinnerungen an die Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel. Und wer Kinder hat, erschauert vor der verantwortungsvollen Aufgabe, sie in dieser Welt, ohne dass sie Schaden nehmen, zu verankern. Es erscheint einem unmöglich, sie vor den eigenen Unzulänglichkeiten zu schützen, den Verschrobenheiten der Verwandten, den Halbwahrheiten und Lügen, der alles grundierenden Gewalt, die keinesfalls, das macht Nádas auf fast 1300 Seiten deutlich, nur als eine physische Unheil stiftet, sondern vor allem in und durch die Sprache.
Wir sind aus Sprache gemacht. Aus Erzähltem, Verbotenem, aus Liedern und Gebeten, aus Redensarten und Floskeln, aus Schwüren, Meineiden, Geständnissen, Befehlen, aus ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen Gedanken. Die Sprache geht den Ereignissen voraus, und sie folgt ihnen, sie hat die Macht, die Geschehnisse auszulösen und sie, sind sie eingetreten, umzuschreiben, umzudeuten, zu bemänteln, zu verharmlosen oder, im Gegenteil, aufzublähen, anzuklagen, zu erpressen. Wenn Nádas über seine Familie und ihre Verstrickung in die Geschicke des 19. und 20. Jahrhunderts schreibt, so immer im Bewusstsein der Macht und gleichzeitig der Unzulänglichkeit der Sprache. Wie die Wörter in seine kindliche Welt drangen, wie er aufmerksam war auf Klang, Nuancen der Formulierung, verschiedene Ausdrücke für ein und dasselbe je nachdem, wer sprach, wo man war; wie die Wörter sein Denken und Verstehen prägten und auch verdunkelten - all das nimmt viel Raum ein in Erzählung und Reflexion. Es bestimmt das ganze Buch, denn dieses besteht ja aus nichts anderem als: Sprache.
Neben dem Besitz, der im Krieg unter Bomben verschwand oder auf dem Schwarzmarkt eingetauscht wurde gegen Kartoffeln und Bohnen, ein paar Eier oder etwas Fleisch, ist die Sprache der immaterielle Reichtum des Bürgertums. Für eine Sache nicht ein Wort zu haben, sondern zwei, fünf, zehn; Gefühle ausdrücken, Ansichten vertreten, über sie nachdenken zu können, Fremdsprachen zu sprechen; philosophische und juristische Begriffe zur Verfügung zu haben, das ist ein Schatz, den Péter Nádas geerbt hat, auch wenn seine Eltern sonst nichts mehr besaßen. Und er nutzt dieses Erbe, um zu erzählen, wie er geworden ist, der er ist. Das Erbe, das es ihm ermöglichte, Schriftsteller zu werden, will er, der Kinderlose, weitergeben, an uns. Und weil das nur geht, indem er es vor uns ausbreitet, erzählt er von dem alten, vergangenen Leben, von Besuchen und Gewohnheiten, den alltäglichen Verrichtungen, von Herrschafts- und Arbeits- und Wohnverhältnissen, von Berufen, der Kindererziehung, den Mahlzeiten und Gerichten. Von Empfindungen, Gefühlen, Verletzungen, Schönheiten.
Nádas ist ein rasant die Brennweiten, Belichtungszeiten und Geschwindigkeiten wechselnder Erzähler. Er zoomt, zitiert, parodiert, reflektiert, kommentiert, rekonstruiert, montiert. Er ist vier Jahre alt und dann zehn und vierzehn, dann wieder der Endzwanziger, der zu verstehen beginnt, und der über Siebzigjährige, dem klar ist, dass er nur noch dieses eine Werk hat, um zu sagen, zu bewahren, was mit seinem Tod für immer verschwunden sein wird.
Anders als bei dem 2012 erschienenen Mammutwerk "Parallelgeschichten", spürt man: Hier ist nichts nur angelesen und auf der Suche nach Kontrasten konstruiert, nein, hier ist jede Szene im Leben, im Schreiben empfunden, durchlitten. Das, was Nádas erzählt, geht ihn an: Als Teil, als Letzter in einem Zweig der Familie, auf die er stolz ist und die er verabscheut, deren Mitglieder er liebt und hasst. Und als Chronist eines Jahrhunderts, das so monströs und groß und brutal und voller Brüche war wie kein anderes menschliches Jahrhundert zuvor. Ein Jahrhundert, das noch immer nicht vergangen ist, in uns, seinen Leserinnen und Lesern, sondern erst in unseren Kindern, die mit Krieg und Nachkrieg nichts Lebendiges mehr verbindet, Vergangenheit, Geschichte geworden sein wird.
Es ist ein großes Buch. Es hätte ein ganz großes Buch werden können. Aber es hat zwei Schwächen. Die eine betrifft die Komposition. Das Buch kombiniert Nahaufnahme und Totale oft in einem Satz, verschränkt Zitat und Erzählung und Reflexion. Das ist die ersten 500 Seiten großartig durchgeführt. Dann beginnen die Wiederholungen, die nicht Variationen sind, die ein anderes Licht auf dieselbe, schon einmal erzählte Begebenheit werfen, eine neue Perspektive eröffnen, sondern leider nur schwacher zweiter Durchgang durch das bereits Ausgebreitete. Ungeheuerlich beim ersten Erzählen, wie, was dem Vater in der faschistischen Folter geschah, erst verschwiegen, dann doch noch, ja, verraten wird. Beim zweiten, nüchtern wiederholenden Bericht, wird nicht nur die emotionale Bewegung der ersten Erzählung neutralisiert, durch die Wiederholung erscheint der Vater auch plötzlich als der gar nicht Schweigsame, Bescheidene, bescheiden sein Leiden Verbergende, als der er einem zuvor auf Hunderten von Seiten präsentiert wurde. Absicht, um ihn zu entlarven? Oder doppelbödige Strategie, um den Erzähler zu kompromittieren?
Es ist nicht die einzige Szene, die durch die Wiederholung an Wirkung verliert. Auf den zweiten achthundert Seiten gibt es etliche Themen und Begebenheiten, von denen bereits sehr ausführlich die Rede war. Lustlosigkeit macht sich breit beim Lesen, auch weil die Raffinesse der Montage die des Anfangs nicht mehr erreicht. Ermüdender ist allerdings Nádas' zweite Schwäche: Gern reiht er drei Adjektive aneinander, lässt Verben in langer Reihe aufeinander folgen, die dasselbe bedeuten und die Aussage immer nur verwässern: "Ihre Lektorin verteidigte sie nicht mehr, sondern ließ sie (. . .) im Regen stehen, verriet sie, fiel ihr in den Rücken (. . .)."
Bei einem Schriftsteller, dem die Präzision des Erzählens so ungeheuer wichtig ist, dass er sie auf fast jeder Seite thematisiert, der die Unzulänglichkeiten der anderen gern bespöttelt, erstaunt das Fehlen der kritischen Distanz zum eigenen Text. Ist es Unvermögen? Ironie? Arroganz? Vielleicht alles zusammen. Vielleicht aber auch nur das von Verzweiflung grundierte Festklammern am Familienerbe, der Sprache, die wie Möbel und Bilder am Verschwinden ist.
BETTINA HARTZ
Péter Nádas: "Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers". Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt-Verlag, 1280 Seiten, 39,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Péter Nádas' "Aufleuchtende Details" sind Familiengeschichte und Chronik des 20. Jahrhunderts
Gertrude Stein hat einmal gesagt, dass es hundert Jahre, nämlich drei Generationen, dauere, um eine Sache zu verändern, und einen Krieg, um allen bewusst zu machen, dass die Dinge aufgehört hätten, die gleiche Bedeutung zu haben, die sie zuvor hatten. Und erklärt werden könne dies dadurch, dass eben die erzählte Erinnerung in den Familien nach drei Generationen abbreche, dass die Großeltern den Enkeln noch erzählen könnten, was sie gesehen und erlebt und gefühlt hatten, danach aber werde es, weil die sinnliche Erfahrung verloren sei, zu Geschichte: wie sich ein Kleidungsstück angefühlt, eine Speise geschmeckt, ein Badezimmer gerochen, eine Stimme geklungen, ein Schmerz gebrannt habe, weiß dann niemand mehr. Bewahrt werden kann nur das Beschreibbare, nicht aber das individuelle Erleben, das, was nicht Sprache ist.
Ein Schriftsteller, der dasselbe wie die erzählenden Großeltern versucht, nur in einem Ausmaß und mit einer Wucht, die das mündliche Erzählen niemals erlaubte, ist der Ungar Péter Nádas. In seinen kurz vor seinem 75. Geburtstag am 14. Oktober auf Deutsch erschienenen, mit "Memoiren eines Schriftstellers" untertitelten "Aufleuchtenden Details" erzählt er uns, seinen imaginierten Kindern und Enkeln, die mit dem monströsen 20. Jahrhundert verzahnte Geschichte seiner Familie. Die Eltern, sind glühende Kommunisten (der Vater zudem Jude), die in der Illegalität, mit falschen Papieren und in ständiger Gefahr, verhaftet, gefoltert, ermordet zu werden, Faschismus und deutsche Besatzung in Budapest überstehen. Nach dem Krieg unterstützen sie die Errichtung des kommunistischen Regimes, geraten in die Mühlen von Verdächtigung und Verleumdung, werden durch die Geheimdienste bespitzelt, der Vater wird schließlich von den eigenen Genossen angeklagt und in einem Schauprozess verurteilt. Die Mutter stirbt an Krebs. Der Vater nimmt sich das Leben. Péter Nádas ist vierzehn Jahre alt.
Was die Eltern dem Kind, das Péter Nádas bis zu ihrem Tode war oder zu sein versuchte, an Selbstdisziplin, Aufopferung für andere und Verzicht abverlangten, grenzt an seelische Folter. Man wundert sich, wie er da herauskam, nicht heil, aber doch immerhin imstande, ein eigenständiges Leben zu führen, ein Schriftsteller zu werden. Der Geschichte der Eltern und deren Eltern, der Tanten, Onkel, Freunde nachzuspüren und aufzuschreiben, was sie erzählt haben; zu erforschen, welche anderen als die unzuverlässigen mündlichen Zeugnisse es gibt; was sich an Wohnungsinventar und Kleidungsstücken, an Aufzeichnungen und Arbeitszeugnissen wiederfinden lässt - das ist die eine große, sich assoziativ verästelnde Erzählung des Péter Nádas.
Die andere ist die vom liberalen bürgerlichen Zeitalter und seinem Untergang, dem bürgerlichen häuslichen Leben mit seinen fürchterlichen Anstrengungen und den festgeschriebenen Rollen von Mann und Frau, Eltern und Kindern, Dienstboten und Herrschaft. Was für eine allwöchentliche Strapaze die "Große Wäsche" war, erfährt man hier. Und wer es gelesen hat, fragt hoffentlich nie mehr danach, womit bloß die Frauen all ihre "Mußestunden" gefüllt haben, während ihre genialen Männer komponierten oder studierten oder die Staatsgeschäfte betrieben. Die bürgerliche Familiengeschichte ist wiederum eingeschrieben in die der jüdischen Emanzipation, des ungarischen Nationalismus, der sozialen Bewegung, der kommunistischen Konversion.
Unwillkürlich beginnt man beim Lesen, die eigene Familiengeschichte parallel zu schalten - die Erinnerungen an die Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel. Und wer Kinder hat, erschauert vor der verantwortungsvollen Aufgabe, sie in dieser Welt, ohne dass sie Schaden nehmen, zu verankern. Es erscheint einem unmöglich, sie vor den eigenen Unzulänglichkeiten zu schützen, den Verschrobenheiten der Verwandten, den Halbwahrheiten und Lügen, der alles grundierenden Gewalt, die keinesfalls, das macht Nádas auf fast 1300 Seiten deutlich, nur als eine physische Unheil stiftet, sondern vor allem in und durch die Sprache.
Wir sind aus Sprache gemacht. Aus Erzähltem, Verbotenem, aus Liedern und Gebeten, aus Redensarten und Floskeln, aus Schwüren, Meineiden, Geständnissen, Befehlen, aus ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen Gedanken. Die Sprache geht den Ereignissen voraus, und sie folgt ihnen, sie hat die Macht, die Geschehnisse auszulösen und sie, sind sie eingetreten, umzuschreiben, umzudeuten, zu bemänteln, zu verharmlosen oder, im Gegenteil, aufzublähen, anzuklagen, zu erpressen. Wenn Nádas über seine Familie und ihre Verstrickung in die Geschicke des 19. und 20. Jahrhunderts schreibt, so immer im Bewusstsein der Macht und gleichzeitig der Unzulänglichkeit der Sprache. Wie die Wörter in seine kindliche Welt drangen, wie er aufmerksam war auf Klang, Nuancen der Formulierung, verschiedene Ausdrücke für ein und dasselbe je nachdem, wer sprach, wo man war; wie die Wörter sein Denken und Verstehen prägten und auch verdunkelten - all das nimmt viel Raum ein in Erzählung und Reflexion. Es bestimmt das ganze Buch, denn dieses besteht ja aus nichts anderem als: Sprache.
Neben dem Besitz, der im Krieg unter Bomben verschwand oder auf dem Schwarzmarkt eingetauscht wurde gegen Kartoffeln und Bohnen, ein paar Eier oder etwas Fleisch, ist die Sprache der immaterielle Reichtum des Bürgertums. Für eine Sache nicht ein Wort zu haben, sondern zwei, fünf, zehn; Gefühle ausdrücken, Ansichten vertreten, über sie nachdenken zu können, Fremdsprachen zu sprechen; philosophische und juristische Begriffe zur Verfügung zu haben, das ist ein Schatz, den Péter Nádas geerbt hat, auch wenn seine Eltern sonst nichts mehr besaßen. Und er nutzt dieses Erbe, um zu erzählen, wie er geworden ist, der er ist. Das Erbe, das es ihm ermöglichte, Schriftsteller zu werden, will er, der Kinderlose, weitergeben, an uns. Und weil das nur geht, indem er es vor uns ausbreitet, erzählt er von dem alten, vergangenen Leben, von Besuchen und Gewohnheiten, den alltäglichen Verrichtungen, von Herrschafts- und Arbeits- und Wohnverhältnissen, von Berufen, der Kindererziehung, den Mahlzeiten und Gerichten. Von Empfindungen, Gefühlen, Verletzungen, Schönheiten.
Nádas ist ein rasant die Brennweiten, Belichtungszeiten und Geschwindigkeiten wechselnder Erzähler. Er zoomt, zitiert, parodiert, reflektiert, kommentiert, rekonstruiert, montiert. Er ist vier Jahre alt und dann zehn und vierzehn, dann wieder der Endzwanziger, der zu verstehen beginnt, und der über Siebzigjährige, dem klar ist, dass er nur noch dieses eine Werk hat, um zu sagen, zu bewahren, was mit seinem Tod für immer verschwunden sein wird.
Anders als bei dem 2012 erschienenen Mammutwerk "Parallelgeschichten", spürt man: Hier ist nichts nur angelesen und auf der Suche nach Kontrasten konstruiert, nein, hier ist jede Szene im Leben, im Schreiben empfunden, durchlitten. Das, was Nádas erzählt, geht ihn an: Als Teil, als Letzter in einem Zweig der Familie, auf die er stolz ist und die er verabscheut, deren Mitglieder er liebt und hasst. Und als Chronist eines Jahrhunderts, das so monströs und groß und brutal und voller Brüche war wie kein anderes menschliches Jahrhundert zuvor. Ein Jahrhundert, das noch immer nicht vergangen ist, in uns, seinen Leserinnen und Lesern, sondern erst in unseren Kindern, die mit Krieg und Nachkrieg nichts Lebendiges mehr verbindet, Vergangenheit, Geschichte geworden sein wird.
Es ist ein großes Buch. Es hätte ein ganz großes Buch werden können. Aber es hat zwei Schwächen. Die eine betrifft die Komposition. Das Buch kombiniert Nahaufnahme und Totale oft in einem Satz, verschränkt Zitat und Erzählung und Reflexion. Das ist die ersten 500 Seiten großartig durchgeführt. Dann beginnen die Wiederholungen, die nicht Variationen sind, die ein anderes Licht auf dieselbe, schon einmal erzählte Begebenheit werfen, eine neue Perspektive eröffnen, sondern leider nur schwacher zweiter Durchgang durch das bereits Ausgebreitete. Ungeheuerlich beim ersten Erzählen, wie, was dem Vater in der faschistischen Folter geschah, erst verschwiegen, dann doch noch, ja, verraten wird. Beim zweiten, nüchtern wiederholenden Bericht, wird nicht nur die emotionale Bewegung der ersten Erzählung neutralisiert, durch die Wiederholung erscheint der Vater auch plötzlich als der gar nicht Schweigsame, Bescheidene, bescheiden sein Leiden Verbergende, als der er einem zuvor auf Hunderten von Seiten präsentiert wurde. Absicht, um ihn zu entlarven? Oder doppelbödige Strategie, um den Erzähler zu kompromittieren?
Es ist nicht die einzige Szene, die durch die Wiederholung an Wirkung verliert. Auf den zweiten achthundert Seiten gibt es etliche Themen und Begebenheiten, von denen bereits sehr ausführlich die Rede war. Lustlosigkeit macht sich breit beim Lesen, auch weil die Raffinesse der Montage die des Anfangs nicht mehr erreicht. Ermüdender ist allerdings Nádas' zweite Schwäche: Gern reiht er drei Adjektive aneinander, lässt Verben in langer Reihe aufeinander folgen, die dasselbe bedeuten und die Aussage immer nur verwässern: "Ihre Lektorin verteidigte sie nicht mehr, sondern ließ sie (. . .) im Regen stehen, verriet sie, fiel ihr in den Rücken (. . .)."
Bei einem Schriftsteller, dem die Präzision des Erzählens so ungeheuer wichtig ist, dass er sie auf fast jeder Seite thematisiert, der die Unzulänglichkeiten der anderen gern bespöttelt, erstaunt das Fehlen der kritischen Distanz zum eigenen Text. Ist es Unvermögen? Ironie? Arroganz? Vielleicht alles zusammen. Vielleicht aber auch nur das von Verzweiflung grundierte Festklammern am Familienerbe, der Sprache, die wie Möbel und Bilder am Verschwinden ist.
BETTINA HARTZ
Péter Nádas: "Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers". Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt-Verlag, 1280 Seiten, 39,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2017LITERATURFEST
Erinnern und
nicht vergessen
Péter Nádas kennt eine Menge
„Aufleuchtende Details“
Nein, nein, auf Psycho-Bohrungen lässt sich Péter Nádas nicht ein. Sein Schreiben sei eine Frage des Sitzfleischs. Seine Selbstanalyse, orientiert an den Antagonisten Sigmund Freud und C.G. Jung, habe er bereits im Alter von 24 Jahren absolviert und dabei gelernt, zu unterscheiden zwischen Fantasie und Erinnerung: „Meine Arbeit ist es, das Originale herauszufinden und von den Phantasmen zu trennen.“ Andreas Breitenstein von der NZZ, sein unbedingt ebenbürtiger Gesprächspartner im Literaturhaus, muss immer wieder solch korrigierende Breitseiten einstecken.
Anlass ist das Reden über „Aufleuchtende Details“, die 1276-seitigen Memoiren des ungarischen Romanciers und Weltendenkers Péter Nádas, die erkenntnissatte Frucht von zehn Lebensjahren. In der ersten Phase seiner Erinnerungen widmet er sich den Erfahrungen, die er während der 102 Tage der Belagerung Budapests im Winter 1944, also in einer „Welt in Trümmern“, machte. Da war der Sohn großbürgerlicher, intellektueller Juden und glühender Kommunisten zwei Jahre alt. Er liest vor, wie seine Mutter schreiend und schlagend gegen die Lynchjustiz des Mobs protestiert. Dennoch schämt sich der für jegliche Utopie Unempfängliche für sie: „Sie prügelte missionarisch, messianisch.“
Péter Nádas räumt auf: Er erlaube sich nach 50 Jahren fiktionalen Schreibens die Suche nach der Realität, assoziativ eingebettet in die dramatischen Zeitläufte zwischen seinem Geburtsjahr 1942 bis zum Volksaufstand 1956. Es erzählt ein 75-Jähriger, der bereits mit elf Jahren ein Erzähler sein wollte, zunächst von den vorsprachlichen Erinnerungen in Bildern ohne Ton eines knapp Dreijährigen, dann eines 14-Jährigen, der die „Ermordung der Demokratie“ in der Revolution bereits hinter sich hatte. Er seziert die „Aporie des Menschseins“ (Breitenstein) gnadenlos, aber gleichwohl empathisch in einem „Wahrheitsfuror“ und hätte das Buch auch anders schreiben können – als eines über das Vergessen. „Das Vergessen ist ein Schutz“, sagt er.
EVA-ELISABETH FISCHER
Péter Nádas erklärt das Animalische im Menschen anhand der Katastrophen Ungarns, die er selbst erlitt.
Foto: imago/gezett
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Erinnern und
nicht vergessen
Péter Nádas kennt eine Menge
„Aufleuchtende Details“
Nein, nein, auf Psycho-Bohrungen lässt sich Péter Nádas nicht ein. Sein Schreiben sei eine Frage des Sitzfleischs. Seine Selbstanalyse, orientiert an den Antagonisten Sigmund Freud und C.G. Jung, habe er bereits im Alter von 24 Jahren absolviert und dabei gelernt, zu unterscheiden zwischen Fantasie und Erinnerung: „Meine Arbeit ist es, das Originale herauszufinden und von den Phantasmen zu trennen.“ Andreas Breitenstein von der NZZ, sein unbedingt ebenbürtiger Gesprächspartner im Literaturhaus, muss immer wieder solch korrigierende Breitseiten einstecken.
Anlass ist das Reden über „Aufleuchtende Details“, die 1276-seitigen Memoiren des ungarischen Romanciers und Weltendenkers Péter Nádas, die erkenntnissatte Frucht von zehn Lebensjahren. In der ersten Phase seiner Erinnerungen widmet er sich den Erfahrungen, die er während der 102 Tage der Belagerung Budapests im Winter 1944, also in einer „Welt in Trümmern“, machte. Da war der Sohn großbürgerlicher, intellektueller Juden und glühender Kommunisten zwei Jahre alt. Er liest vor, wie seine Mutter schreiend und schlagend gegen die Lynchjustiz des Mobs protestiert. Dennoch schämt sich der für jegliche Utopie Unempfängliche für sie: „Sie prügelte missionarisch, messianisch.“
Péter Nádas räumt auf: Er erlaube sich nach 50 Jahren fiktionalen Schreibens die Suche nach der Realität, assoziativ eingebettet in die dramatischen Zeitläufte zwischen seinem Geburtsjahr 1942 bis zum Volksaufstand 1956. Es erzählt ein 75-Jähriger, der bereits mit elf Jahren ein Erzähler sein wollte, zunächst von den vorsprachlichen Erinnerungen in Bildern ohne Ton eines knapp Dreijährigen, dann eines 14-Jährigen, der die „Ermordung der Demokratie“ in der Revolution bereits hinter sich hatte. Er seziert die „Aporie des Menschseins“ (Breitenstein) gnadenlos, aber gleichwohl empathisch in einem „Wahrheitsfuror“ und hätte das Buch auch anders schreiben können – als eines über das Vergessen. „Das Vergessen ist ein Schutz“, sagt er.
EVA-ELISABETH FISCHER
Péter Nádas erklärt das Animalische im Menschen anhand der Katastrophen Ungarns, die er selbst erlitt.
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Péter Nádas ist der große Vermesser der europäischen Seelenlandschaften des 20. Jahrhunderts. (...) eben noch atemberaubend mikrokopisch, ein Fest der Details und Nuancen, im nächsten Augenblick epochal und essayistisch (...) ein unüberbietbares Kunstwerk (...). Iris Radisch Die Zeit