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Des Teufels Chemiker: Stephan H. Lindner rekonstruiert einen besonders umstrittenen Nürnberger Nachfolgeprozess
Dass "die Wirtschaft" nicht nur Hitlers Aufstieg befördert, sondern auch seine Diktatur bis zum Vernichtungskrieg unterstützt hat, war vor 1945 eine moralische und politische Anklage. Im Mai 1947 wurde daraus Völkerstrafrecht. Vor einem amerikanischen Militärgericht in Nürnberg wurde das Verfahren gegen vierundzwanzig führende Männer der I.G. Farbenindustrie AG, zwischenzeitlich der größte Chemiekonzern der Welt, eröffnet. Es gehörte zu den zwölf Nachfolgeprozessen in Nürnberg. Das Buch des Münchner Wirtschaftshistorikers Stephan H. Lindner rekonstruiert diesen besonders umstrittenen Prozess bis zu seinem Urteil.
Schon während des Zweiten Weltkriegs entstanden Listen, auf denen Namen mutmaßlicher Kriegsverbrecher gesammelt wurden. Nach 1945 begann die Ahndung. Sie war aus vielfältigen Gründen schwierig: Die Alliierten mussten kooperieren, obwohl sie sich weniger denn je politisch einig waren, und die seit langem vorhandenen unterschiedlichen ideologischen Grundsätze verstärkten sich im eskalierenden Kalten Krieg. Zudem standen ganz verschiedene nationale Rechtskulturen im Hintergrund. Im I.G.-Farben-Prozess beispielsweise beeinflusste das amerikanische Recht das Verständnis von Tatbeständen wie "Verschwörung", prägte rechtsdogmatische Konstruktionen über Tatbeteiligung und führte zu spezifischen Vorstellungen über individuelle Schuld.
Überhaupt war schon der prinzipielle Einsatz von Völkerstrafrecht keineswegs unumstritten - und zwar auch innerhalb der Siegernation Amerika. Es ist kein Zufall, dass gerade dieser Prozess gegen die Wirtschaftsmanager besonders schwer Akzeptanz fand. War schon das Völkerstrafrecht als solches eine relativ junge Erfindung, richtete sich die Anklage hier nochmals in neuer, aber auch präzedenzloser Weise gegen Bürger eines besiegten Staates, die davor kaum je strafrechtlich belangt worden wären.
Denn angeklagt wurden eben nicht politische Repräsentanten oder militärische Befehlshaber. Es waren die angestellten Manager eines Privatunternehmens, die auf der Anklagebank Platz nahmen, und sie ähnelten damit jener Figur, in der sich eine abgründige Banalität des Bösen verdichten konnte Sie waren Schreibtischtäter. Keinen Mord hatten sie eigenhändig begangen, niemanden erschlagen oder erschossen. Dennoch galten sie schon manchen Zeitgenossen - unter anderem dem Chefankläger - als "Des Teufels Chemiker". Denn die I.G. Farben nahm im NS-Regime einen kometenhaften Aufstieg, zwischen 1933 und 1943 stiegen ihre Gewinne um das Fünffache. Sie versorgte die Wehrmacht umfassend und kooperierte mit dem Regime bis hin zum Buna-Werk in Auschwitz. Im Jahr 1945 waren von den 333 000 Beschäftigten die Hälfte Fremd- und Zwangsarbeiter sowie KZ-Häftlinge. Eine Tochtergesellschaft der I.G. Farben und der Degussa produzierte Zyklon B. War der individuelle Unrechtsgehalt dieser "Verstrickung" in das NS-Regime juristisch zu fassen?
Fünf Anklagepunkte wurden den I.G.-Farben-Managern zur Last gelegt: (I) Planung und Durchführung von Angriffskriegen; (II) Plünderung privaten und öffentlichen Eigentums in von deutschen Truppen besetzten Ländern; (III) Versklavung und Deportation ziviler Bevölkerungsgruppen in den besetzten Ländern sowie Versklavung von ausländischen und deutschen KZ-Häftlingen; (IV) Mitgliedschaft in der SS als verbrecherischer Organisation; (V) Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden.
Als Wirtschaftshistoriker betont Lindner die aktive Beteiligung der I.G. Farben in Aufrüstung, Ausbeutung und auch Auschwitz. Lindner schildert den Prozess ab seiner Vorbereitung, referiert Anklageerhebung sowie Hauptverhandlung und schließt kurz mit seiner Nachgeschichte. Über weite Strecken wechseln Wortlaut-Zitate mit Wiedergaben im Konjunktiv. Das schafft hohe Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Zugleich vermisst man aber regelmäßig Stellungnahmen, Thesen und Analysen des Verfassers, die eine Einordnung so mancher steilen Behauptung leisten könnten. In der Theoriebildung bleibt das Buch erst recht schwach.
Denn das Verfahren bewältigte nicht alle Schwierigkeiten, die ihm strukturell mitgegeben waren, gleichermaßen gut. Die schiere Menge von Aktenmaterial war für alle Beteiligten eine Herausforderung, und zugleich waren benötigte Beweismittel schwer zu beschaffen oder einzusehen. Die Nürnberger Richter kamen überwiegend von Obersten Gerichten amerikanischer Bundesstaaten und waren unerfahren im Umgang mit Völkerstrafrecht, deutscher Geschichte und Politik. Demgegenüber arbeiteten die "besten Leute" für die Anklagebehörde der Industrieprozesse, was zu Spannungen zwischen Anklage und Richtern führte.
Die Verteidigung, vielfach brillante deutsche Wirtschaftsjuristen, bemühte sich um eine "solidarische" Linie für alle Angeklagten. Für sie arbeitete der Umstand, dass die Anklagebehörde zu wenige konkrete Beweise der Tatbeteiligung in den Anklagepunkten (I) und (V) vorlegen konnte, obwohl sie sich besondere Mühe gab, gerade diese Defizite auszugleichen. Prozessökonomisch und strategisch ging dies zu Lasten der eigentlich viel besseren Belegbarkeit konkreter Verbrechen wie Plünderungen oder Menschenversuche in Konzentrationslagern.
Demgegenüber waren die Verteidiger erpicht, hinsichtlich der Angeklagten strikt zwischen Person, Funktion und Verantwortung zu unterscheiden. Der Angeklagte Hans Kühne, Vorstandsmitglied und ehemaliger Leiter des Werks Leverkusen, gab zu Protokoll, sie hätten "als Techniker, Wissenschaftler und Kaufleute unsere ganze Arbeitskraft unserem Unternehmen gewidmet" und sich dabei - leider - (zu) wenig um Politik gekümmert. In letzter Linie griff man zum "Befehlsnotstand": Die Verteidiger bezeichneten ihre Mandanten als "Sündenböcke" in einer neuen Zeit, zogen ebenso explizit wie schamlos eine Parallele zur Rolle der Juden im NS-Staat und behaupteten, die Angeklagten hätten gar nicht anders handeln können.
Als im Juli 1948 das Urteil gesprochen wurde, war es bereits keine Überraschung mehr, dass bei den Anklagepunkten (I) und (V) Freisprüche für alle Angeklagten ergingen. Alle drei Richter sahen den Nachweis einer Beteiligung am Angriffskrieg als nicht erwiesen an. Ferner wurden zehn Manager von allen Anklagepunkten freigesprochen. Dreizehn Manager wurden zu Haftstrafen zwischen eineinhalb und acht Jahren wegen Verbrechen unter den Anklagepunkten (II) und (III) verurteilt. Das Verfahren gegen einen weiteren war schon früh abgetrennt worden. Spätestens 1951 war der letzte Verurteilte wieder auf freiem Fuß.
In der Urteilsbegründung, die durchsetzt von Alltagstheorien war, klang viel Verständnis für deutschen Opportunismus, fehlgeleiteten Patriotismus und (angeblichen) NS-Befehlsnotstand durch: die Angeklagten seien "Mitläufer, nicht Führer" gewesen. Und eine Verantwortlichkeit für strafbare Taten ergebe sich nicht aus der bloßen Tatsache der Mitgliedschaft im Vorstand. "Strafen wie für Hühnerdiebe", schimpfte der Chefankläger Josiah DuBois 1952. Dennoch sahen manche Verurteilte darin ein "politisches Urteil", sie blieben erfüllt von Hass, Selbstmitleid und auch Antisemitismus. Über die Täter und ihre Klagen, dass sie unter den Haftbedingungen während des Prozesses physisch und psychisch gelitten hätten, erfährt der Leser viel. An der prinzipiellen Rechtsstaatlichkeit bestand aber kein Zweifel. Die Opfer, im Prozess nicht gehört, kommen auch im Buch nicht zu Wort.
MILOS VEC
Stephan H. Lindner:
"Aufrüstung -
Ausbeutung - Auschwitz". Eine Geschichte des I.G.-Farben-Prozesses.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 339 S., geb., Abb., 36,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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