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Menschenraub und Mord im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit
In Diktaturen kann es jeden Tag passieren: Menschen verschwinden spurlos. Sie werden aus politischen Gründen entführt, geraubt, ermordet. "Vorsicht! Bei Gesprächen (Spitzelgefahr) bei Einladungen (Menschenraub) im Schriftverkehr nach der Ostzone", warnte ein Schild im Notaufnahmelager Berlin-Marienfeld im Jahr 1959 nicht ohne Grund. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) schreckte vor nichts zurück. In mehreren hundert Fällen wurden Menschen aus West-Berlin und der Bundesrepublik in die DDR verschleppt, inhaftiert und hingerichtet. Selbst nach der Wiedervereinigung stritten hohe MfS-Mitarbeiter solche Verbrechen ab oder suchten ihr Vorgehen als legal im Sinne des DDR-Rechts zu verteidigen.
Erstmals liegt eine aktengestützte Untersuchung über die Entführungspraktiken der Stasi und die Erforschung der Täter vor. Anhand von Personal- und Operativakten des MfS, Prozess- und Polizeiunterlagen, vornehmlich aus den 1950er Jahren, werden Planung, Tathergang und Ermittlungen in 50 Fällen durchleuchtet, aber auch Rekrutierungsmuster, Motive und Weltbilder der Entführer hinterfragt, warum sie Erfüllungsgehilfen des SED-Regimes wurden. Im Kampf der Systeme schienen im geteilten Deutschland und Berlin alle Mittel recht, Widersacher des Arbeiter- und Bauernstaates zu bekämpfen. Mit gezielten Repressalien, Täuschungsmanövern, brutalen Überfällen und Verschleppungen am helllichten Tage bis hin zu Mordszenarien, die Stasi-Chef Erich Mielke persönlich genehmigte, meinte das MfS die Destabilisierung der DDR verhindern zu müssen.
In Rückkoppelung mit den sowjetischen Besatzern und dem KGB wollte man nach bewährten stalinistischen Methoden Regimekritiker verunsichern, einschüchtern und mundtot machen. Obgleich genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind, registrierte die West-Berliner Polizei von April 1949 bis März 1962 rund 250 Opfer, dazu 80 versuchte Entführungen oder Verschleppungen und 240 Tatverdächtige. Bis Oktober 1972 stieg die Zahl auf etwa 400 Fälle. Zudem wurden Anfang der 1950er Jahre rund 1000 deutsche Zivilisten nach Moskau verbracht und Todesurteile vollstreckt.
Zur Opfergruppe gehörten Überläufer aus den eigenen Reihen, Volkspolizisten und Soldaten der Nationalen Volksarmee. Sie galten als Verräter der kommunistischen Ideale, mit denen man keine Nachsicht duldete. Ins Visier des MfS gerieten auch Bundesbürger wie der Rechtsanwalt Walter Linse, der Publizist Karl Wilhelm Fricke oder der Gewerkschaftler Heinz Brandt. Sie engagierten sich in antikommunistischen Organisationen wie dem Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ), der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) oder arbeiteten in den Ostbüros westdeutscher Parteien, die das MfS als westliche Agentenzentralen ansah. Führende Köpfe sollten für ihre Verhaltensweisen bestraft oder eliminiert werden. Die Organisationen wären dadurch in ihrem Widerstand gegen die DDR geschwächt und diskreditiert. Betroffen waren auch Fluchthelfer und Flüchtlinge. Sie wurden in Notaufnahmelagern regelmäßig vom BND befragt und standen in Verdacht, für die Gegenseite zu arbeiten.
Die Verfasserin weist anhand vieler Details nach, wie sich die Stasi "Ermöglichungsräume" für eigenmächtige Entführungen und körperliche Gewaltanwendungen gegen Klassenfeinde schuf. Rechtliche und staatliche Grenzen missachtend, demonstrierte das MfS damit seine Macht im Staate, befand sich aber dennoch in einem Dilemma. Einerseits scheute man die Öffentlichkeit. Denn jede bekanntgewordene Entführung rief bundesdeutsche Ermittlungsbehörden auf den Plan und erforderte die Leugnung der Tatbeteiligung. Andererseits wollte die Stasi als Urheber wahrgenommen werden, um abzuschrecken. Entführungen hatten indes nur begrenzte Wirkung, wenn Haftentlassene durch Freikauf der Bundesregierung, eine seit 1963/64 einsetzende Praxis, wieder in den Westen gelangten und weiter gegen die DDR agitierten. Zwar nahmen die Entführungen im Zuge der Entspannungspolitik ab, hörten aber bis 1989 nie auf.
Die Analyse der Täterprofile, ihre Charaktere, Beweggründe und Anschauungen geben tiefe Einblicke in Abgründe menschlichen Verhaltens. Keineswegs entstammten die Entführer einer homogenen Alterskohorte mit gleichen Jugendprägungen in der NS-Zeit, Kriegs- und Nachkriegserfahrungen. Trotz des hohen Anteils an Wehrmachtsangehörigen fanden sich darunter nur wenige frühere Gestapo-Leute oder aktive kommunistische Untergrundkämpfer. Vielmehr gab es drei, von Führungsoffizieren geleitete Tätergruppen. Das MfS unterhielt etwa fünfzig hauptamtliche Informelle Mitarbeiter (IM), die für das operative Geschäft zuständig waren. Sie mussten wegen ihres Westeinsatzes besonders systemtreu und zu kompromisslosem Vorgehen bereit sein. Als Täter wurden zudem gezielt DDR-Bürger ausgesucht, die wegen Vergehen erpresst werden konnten und zur Mitarbeit gezwungen wurden. Anwerben ließen sich auch Westdeutsche, oft aus finanziellen Nöten. Entführungsspezialisten, meist Vorbestrafte mit hoher Gewaltbereitschaft, rekrutierte die Stasi vornehmlich aus dem kriminellen Milieu in West-Berlin. Manche boten ihre Tätigkeit auch selbst an, denunzierten aus Rachsucht unliebsame Konkurrenten, um sie kaltstellen zu können. Entführer waren nicht nur ein Rädchen in der Maschinerie. Einige trieben mit der Stasi ihr eigenes Spiel, zögerten Aktionen hinaus und forderten mehr Geld.
Freiheitsberaubung, Verschleppungen und Auftragsmorde wurden zwar strafrechtlich verfolgt. Doch Strafansprüche gegen Entführer verjährten nach 1990, wenn diese nicht gegen DDR-Recht verstoßen hatten. Nur ein geringer Teil der beteiligten IM landete vor Gericht und wurde zu Freiheitsstrafen, die Hälfte unter zwei Jahren auf Bewährung oder zu Geldstrafen verurteilt. Wer noch Zweifel hegt, dass SED und MfS in der DDR eine menschenverachtende Diktatur ausübten, findet dafür in dieser wichtigen Studie genügend Beweise.
HANNS JÜRGEN KÜSTERS.
Susanne Muhle: Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015. 678 S., 49,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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