Jeder Schritt vor die Tür ein Spießrutenlauf, jede Begegnung mit der Polizei eine Schikane, jeder Blickkontakt ein Todesrisiko: Die Favelas von Rio de Janeiro sind harte Orte. Hier herrschen Armut und Brutalität. Hier leben die Ohnmächtigen und Verdammten. Und hier leben junge Menschen - sind sie Täter? Opfer? -, die mit all dem klarkommen müssen und sich ihre alltägliche Fragen stellen: Die Schusswaffen des Vaters mal ausprobieren? Wie kriegt man eine Frau rum? Wie wird man eine Leiche los? Wie rettet man eine Hexe? Wohin mit den Drogen, wenn eine Sondereinheit das Haus stürmt?
Kindheit und Jugend im Zeichen von Gewalt und Diskriminierung - in dreizehn dichten, autobiographisch grundierten Geschichten von heikler Schönheit erschließt uns Geovani Martins das Leben in den Favelas. Und eine irritierende Welt, von der wir bislang kaum etwas wussten.
Kindheit und Jugend im Zeichen von Gewalt und Diskriminierung - in dreizehn dichten, autobiographisch grundierten Geschichten von heikler Schönheit erschließt uns Geovani Martins das Leben in den Favelas. Und eine irritierende Welt, von der wir bislang kaum etwas wussten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2020Mann, sind wir perfekt und einzigartig!
Schwarze Komik bei aller Tragik: Geovani Martins' Erzählungen aus den brasilianischen Favelas
Wann wird es hierzulande, zum Beispiel in Berlin, die ersten Favelas geben? Die Voraussetzungen dafür scheinen ja mittlerweile gegeben. Wie sich das Leben in solchen improvisierten Stadtvierteln anfühlt, kann uns schon einmal der 1991 in Rio de Janeiro geborene Schriftsteller Geovani Martins vermitteln.
In Brasilien hat sein Debüt "Aus dem Schatten" Furore gemacht, was umso bemerkenswerter ist, als es sich nicht um einen saftigen Roman, sondern um eine Sammlung von dreizehn Kurzgeschichten handelt. Martins wuchs in Rocinha auf, der berühmtesten (wenn auch inzwischen nicht mehr ganz so berüchtigten) Favela Brasiliens, in der sich 100 000 Menschen auf einem pittoresken Hügel oberhalb von Copacabana drängen. Der Weg hinunter zum Meer führt durch entgegengesetzte Welten. "Wenn du durch die engen Gassen läufst, zwischen Unmengen von Rohren die Treppen runtersteigst, über offene Abwasserrinnen springst, den Ratten ins Auge guckst, den Kopf einziehst, um Stromleitungen auszuweichen, siehst, wie alte Kindheitsfreunde schwer bewaffnet durch die Gegend laufen, und dann eine Viertelstunde später vor einem Haus stehst, wo die Gitterzäune mit Zierpflanzen geschmückt sind und du zuschaust, wie Jugendliche privaten Tennisunterricht bekommen, kann das ganz schön hart sein."
Es gibt viele atmosphärische Schnappschüsse des Favela-Lebens in diesen Geschichten. Ihre Protagonisten sind oft Kinder und Jugendliche. Von schrecklichen Mutproben auf der Schultoilette wird erzählt und von Großmüttern, die Macumba betreiben - alte afrobrasilianische Rituale und Totenkulte. In einer Geschichte beobachtet ein Neunjähriger, wie sich ein prächtiger Schmetterling in die Küche verirrt, dort in einen Topf mit altem Pommes-Frites-Öl fällt und stirbt. Es ist eine Allegorie auf das Erwachsenwerden in der Favela. Umstandslos gehen die Träume und Sehnsüchte der Kindheit in die blutige Realität der Gang-Kämpfe über. "Was würde er wohl mit zwanzig machen? Wäre er Geschäftsmann, Fußballer, Fallschirmspringer?", fragt sich die junge Hauptfigur einer Geschichte. Wahrscheinlicher, dass er dann für die Drogenmafia unterwegs ist.
Drogenbeschaffung ist ein ständiges Thema, und groß ist die Enttäuschung, wenn das Marihuana wieder von der Sorte "Esel-Tee" oder "pures Stroh" ist. "Eine Woche ohne Drogen, und in Rio geht gar nichts mehr. Keine Ärzte mehr, keine Busfahrer, keine Anwälte, keine Polizei, keine Müllmänner, nichts. Alle am Durchdrehen, weil sie auf Entzug sind. Kokain, Rivotril, LSD, Crack, Gras, Novalgin, egal was, Mann, Drogen sind der Treibstoff dieser Stadt" - so beschreibt jemand die Lage. Die Kunst der Erzählung besteht aber im darauf folgenden Satz: "Alan liebte es, so zu reden, und wir liebten es, ihm dabei zuzuhören." So bleibt der Befund in der Schwebe. Ist es bloß das selbstgefällige Gerede eines Süchtigen?
Wenn das eigene Leben so schmal ist, will man wenigstens breit sein. "Der Trip" handelt von einem Silvesterausflug einiger junger Leute, die alle verfügbaren Substanzen quer durcheinander nehmen. Die lechzende Vorfreude des Genusses wird beschrieben - es hat etwas von einem Schlemmerbericht. Schließlich sind alle versorgt und voller Zustimmung zur Welt: "Neugierig bewunderte ich die Form meiner Finger und dachte: Scheiße, Mann, wir sind perfekt und einzigartig." Selten ist die Mischung aus Grandiosität und Verblödung im Drogenrausch so treffend beschrieben worden. Der Ich-Erzähler ist hingerissen "von den Tausenden von Blautönen, die ein einziger Nachmittag haben konnte", und bestaunt die Dünen: "Es fühlte sich unglaublich an, über diese Hügel aus weißem Sand zu laufen. Seit wann lagen die Körner hier wohl auf einem Haufen?" Dann aber kippt die Euphorie unversehens um in Paranoia, und der Tag nimmt eine üble Wendung.
Allerdings sind die Figuren längst nicht so hartgekocht, wie sie sich geben. Ihre Gefühle fahren Achterbahn, und genau darin besteht der Reiz der besten Geschichten wie "Durch die Favela". Sie handelt von einem untergeordneten Gangmitglied namens Beto. Versehentlich hat er einen Drogenkäufer "mit einer ganzen Salve durchlöchert". Nun ist er beim Boss unten durch und versteht die Welt nicht mehr. Die Leiche soll er unauffällig auf einer Müllhalde am anderen Ende der Stadt entsorgen. Beto hat allen Grund, über diesen heiklen Auftrag und sein mieses Leben zu klagen. Wo seine Mutter doch eigentlich wollte, dass er Priester wird. Auf Pump kauft er einen alten Kadett für den Totentransport. "Der Typ in der Werkstatt versicherte ihm, dass die Karre es bis zur Müllkippe schaffen würde. Beto verzweifelte langsam. Es war genau die Art Auto, das die Bullen dauernd anhielten." Es kommt noch schlimmer: Beto bleibt mit dem Schrottwagen und der Leiche auf dem Territorium einer verfeindeten Gang liegen. Als er am Ende aber als Geächteter aus seiner Favela verstoßen wird, erscheint ihm das wie die Vertreibung aus dem Paradies.
Drogen, Gewalt und Gangs - davon reimen und damit prahlen auch zahllose Rapper, so dass man diese Themen und Motive inzwischen als Realklischees empfinden kann. "Durch die Favela" bekommt ihre eigentliche Würze jedoch durch die schwarze Komik und eine Verschmitztheit des Tons, wie sie im Hiphop undenkbar wären. Dadurch ergibt sich auch ein Kontrast zur Slang-Authentizität der Sprache, die in der ansonsten geschmeidigen deutschen Übersetzung an manchen Stellen etwas forciert wirkt. Zum Glück ist Geovani Martins ein Erzähler, der über mehr als eine Tonlage verfügt. Er kann gute Dialoge schreiben, und vor allem ist er ein ebenso einfühlsamer wie kluger Menschenbeobachter. Die frische Neugier, mit der er seinen Figuren in die dunklen Windungen ihrer verengten Lebensläufe folgt, lässt einem dieses Buch von Geschichte zu Geschichte sympathischer werden.
WOLFGANG SCHNEIDER
Geovani Martins: "Aus dem Schatten". Stories.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 130 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schwarze Komik bei aller Tragik: Geovani Martins' Erzählungen aus den brasilianischen Favelas
Wann wird es hierzulande, zum Beispiel in Berlin, die ersten Favelas geben? Die Voraussetzungen dafür scheinen ja mittlerweile gegeben. Wie sich das Leben in solchen improvisierten Stadtvierteln anfühlt, kann uns schon einmal der 1991 in Rio de Janeiro geborene Schriftsteller Geovani Martins vermitteln.
In Brasilien hat sein Debüt "Aus dem Schatten" Furore gemacht, was umso bemerkenswerter ist, als es sich nicht um einen saftigen Roman, sondern um eine Sammlung von dreizehn Kurzgeschichten handelt. Martins wuchs in Rocinha auf, der berühmtesten (wenn auch inzwischen nicht mehr ganz so berüchtigten) Favela Brasiliens, in der sich 100 000 Menschen auf einem pittoresken Hügel oberhalb von Copacabana drängen. Der Weg hinunter zum Meer führt durch entgegengesetzte Welten. "Wenn du durch die engen Gassen läufst, zwischen Unmengen von Rohren die Treppen runtersteigst, über offene Abwasserrinnen springst, den Ratten ins Auge guckst, den Kopf einziehst, um Stromleitungen auszuweichen, siehst, wie alte Kindheitsfreunde schwer bewaffnet durch die Gegend laufen, und dann eine Viertelstunde später vor einem Haus stehst, wo die Gitterzäune mit Zierpflanzen geschmückt sind und du zuschaust, wie Jugendliche privaten Tennisunterricht bekommen, kann das ganz schön hart sein."
Es gibt viele atmosphärische Schnappschüsse des Favela-Lebens in diesen Geschichten. Ihre Protagonisten sind oft Kinder und Jugendliche. Von schrecklichen Mutproben auf der Schultoilette wird erzählt und von Großmüttern, die Macumba betreiben - alte afrobrasilianische Rituale und Totenkulte. In einer Geschichte beobachtet ein Neunjähriger, wie sich ein prächtiger Schmetterling in die Küche verirrt, dort in einen Topf mit altem Pommes-Frites-Öl fällt und stirbt. Es ist eine Allegorie auf das Erwachsenwerden in der Favela. Umstandslos gehen die Träume und Sehnsüchte der Kindheit in die blutige Realität der Gang-Kämpfe über. "Was würde er wohl mit zwanzig machen? Wäre er Geschäftsmann, Fußballer, Fallschirmspringer?", fragt sich die junge Hauptfigur einer Geschichte. Wahrscheinlicher, dass er dann für die Drogenmafia unterwegs ist.
Drogenbeschaffung ist ein ständiges Thema, und groß ist die Enttäuschung, wenn das Marihuana wieder von der Sorte "Esel-Tee" oder "pures Stroh" ist. "Eine Woche ohne Drogen, und in Rio geht gar nichts mehr. Keine Ärzte mehr, keine Busfahrer, keine Anwälte, keine Polizei, keine Müllmänner, nichts. Alle am Durchdrehen, weil sie auf Entzug sind. Kokain, Rivotril, LSD, Crack, Gras, Novalgin, egal was, Mann, Drogen sind der Treibstoff dieser Stadt" - so beschreibt jemand die Lage. Die Kunst der Erzählung besteht aber im darauf folgenden Satz: "Alan liebte es, so zu reden, und wir liebten es, ihm dabei zuzuhören." So bleibt der Befund in der Schwebe. Ist es bloß das selbstgefällige Gerede eines Süchtigen?
Wenn das eigene Leben so schmal ist, will man wenigstens breit sein. "Der Trip" handelt von einem Silvesterausflug einiger junger Leute, die alle verfügbaren Substanzen quer durcheinander nehmen. Die lechzende Vorfreude des Genusses wird beschrieben - es hat etwas von einem Schlemmerbericht. Schließlich sind alle versorgt und voller Zustimmung zur Welt: "Neugierig bewunderte ich die Form meiner Finger und dachte: Scheiße, Mann, wir sind perfekt und einzigartig." Selten ist die Mischung aus Grandiosität und Verblödung im Drogenrausch so treffend beschrieben worden. Der Ich-Erzähler ist hingerissen "von den Tausenden von Blautönen, die ein einziger Nachmittag haben konnte", und bestaunt die Dünen: "Es fühlte sich unglaublich an, über diese Hügel aus weißem Sand zu laufen. Seit wann lagen die Körner hier wohl auf einem Haufen?" Dann aber kippt die Euphorie unversehens um in Paranoia, und der Tag nimmt eine üble Wendung.
Allerdings sind die Figuren längst nicht so hartgekocht, wie sie sich geben. Ihre Gefühle fahren Achterbahn, und genau darin besteht der Reiz der besten Geschichten wie "Durch die Favela". Sie handelt von einem untergeordneten Gangmitglied namens Beto. Versehentlich hat er einen Drogenkäufer "mit einer ganzen Salve durchlöchert". Nun ist er beim Boss unten durch und versteht die Welt nicht mehr. Die Leiche soll er unauffällig auf einer Müllhalde am anderen Ende der Stadt entsorgen. Beto hat allen Grund, über diesen heiklen Auftrag und sein mieses Leben zu klagen. Wo seine Mutter doch eigentlich wollte, dass er Priester wird. Auf Pump kauft er einen alten Kadett für den Totentransport. "Der Typ in der Werkstatt versicherte ihm, dass die Karre es bis zur Müllkippe schaffen würde. Beto verzweifelte langsam. Es war genau die Art Auto, das die Bullen dauernd anhielten." Es kommt noch schlimmer: Beto bleibt mit dem Schrottwagen und der Leiche auf dem Territorium einer verfeindeten Gang liegen. Als er am Ende aber als Geächteter aus seiner Favela verstoßen wird, erscheint ihm das wie die Vertreibung aus dem Paradies.
Drogen, Gewalt und Gangs - davon reimen und damit prahlen auch zahllose Rapper, so dass man diese Themen und Motive inzwischen als Realklischees empfinden kann. "Durch die Favela" bekommt ihre eigentliche Würze jedoch durch die schwarze Komik und eine Verschmitztheit des Tons, wie sie im Hiphop undenkbar wären. Dadurch ergibt sich auch ein Kontrast zur Slang-Authentizität der Sprache, die in der ansonsten geschmeidigen deutschen Übersetzung an manchen Stellen etwas forciert wirkt. Zum Glück ist Geovani Martins ein Erzähler, der über mehr als eine Tonlage verfügt. Er kann gute Dialoge schreiben, und vor allem ist er ein ebenso einfühlsamer wie kluger Menschenbeobachter. Die frische Neugier, mit der er seinen Figuren in die dunklen Windungen ihrer verengten Lebensläufe folgt, lässt einem dieses Buch von Geschichte zu Geschichte sympathischer werden.
WOLFGANG SCHNEIDER
Geovani Martins: "Aus dem Schatten". Stories.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 130 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der Autor kennt sich aus. Kein Wunder also dass beim Lesen eine authentische Stimme aus den Favelas zu vernehmen ist. Und eine originelle.« Maik Söhler taz. die tageszeitung 20190914