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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Rasierklingenscharf: Die Amerikanerin Megan Abbott durchleuchtet mit "Aus der Balance" die Kehrseite rosafarbener Ballettträume.
Hinter dem Bild größter Unschuld lauert manchmal der dunkelste Abgrund. Niemand wüsste das besser als Dara Durant, Leiterin einer Ballettschule irgendwo in einer amerikanischen Ostküstenkleinstadt. Ihre Schülerinnen sehen in den Tutus wie Engel aus, doch sobald es um die Besetzung der Hauptrollen in der jährlichen Nussknacker-Aufführung geht, schrecken die Teenager vor nichts zurück: Rasierklingen liegen plötzlich im Ballettschuh der Konkurrentin, tote Ratten fallen aus einem Umkleideschrank, und hinter dem Rücken der Favoritin wird viel zu laut über deren Gewicht gespottet. Mit diesen Minidramen kann Dara umgehen, hat sie ihr Leben lang doch nichts anderes getan.
Gemeinsam mit ihrer Schwester Marie ist sie in einem großen dunklen Haus unweit der Ballettschule aufgewachsen. Die Mutter, eine ehemalige Starballerina, hatte die Mädchen sehr früh ans Tanzen herangeführt, in beiden den Wunsch geschürt, den Körper für die Bühne zu stählen, und ihnen seltsame Geschichten über die Liebe erzählt. Wie jene über die italienisch-schwedische Ballerina Marie Taglioni, die zu Lebzeiten als Star des romantischen Balletts so sehr vom Publikum verehrt wurde, dass ihre Anhänger bis zu zweihundert Rubel für ein Paar ihrer ausrangierten Spitzenschuhe bezahlten. "Nach dem Erwerb kochten sie die Spitzenschuhe, richteten sie an und aßen sie mit einer besonderen Soße", erzählte die Mutter den Mädchen und schloss die Geschichte mit der Feststellung: Das sei wahre Liebe.
Es sind solche grotesken Anekdoten, mit denen die Schriftstellerin Megan Abbott in ihrem Thriller "Aus der Balance" den Abgrund andeutet, der hinter der idyllischen Kulisse aus Spitzentutus und rosafarbenen Strumpfhosen lauert. Von Liebe haben die beiden Schwestern also ein seltsames Bild vermittelt bekommen.
Zumal die Mutter mit dem dauerbetrunkenen Vater im ewigen Streit lebte, den die Kinder selbst im Doppelstockbett im obersten Geschoss des Hauses nicht überhören konnten. Doch dann kam der fatale Hochzeitstag, an dem die Mutter mit dem Vater ausgehen wollte. Die Fahrt endete für beide tödlich, das Auto kam von der Straße ab. Seitdem sind zehn Jahre vergangen, in denen Dara und Marie die Familientradition des Ballettstudios fortführen. Unterstützt durch Charlie, den ehemaligen Starschüler der Mutter, der irgendwann im Teenager-Alter bei der Familie im großen alten Haus einzog und mittlerweile mit Dara verheiratet ist.
Aus Kindheitstagen hat sich zwischen diesem Trio eine Dreiecksbeziehung ergeben, die von keiner und keinem der Beteiligten je hinterfragt wurde. Erst als ein Feuer im Ballettstudio den Bauunternehmer Derek in ihre Leben treten lässt, beginnt das Dreieck sich zu lösen, und alte Wunden brechen wieder auf.
Abbott lässt die Handlung ihres Romans über weite Strecken zwischen nur zwei Orten pendeln: dem großen, zugigen, langsam verfallenden Ballettstudio mit seinen Gerüchen nach "Schweiß und Pubertät, nach Füßen, Urin und Angst" und dem alten Haus der Familie, "mit den unebenen Decken und abgenutzten Böden und seitwärts absackenden Treppen und dem ewigen Duft von Blue Carnation, des Parfums ihrer Mutter". Schon solche Aufzählungen, die elegant Beobachtung und Sinneswahrnehmungen mit den dunklen Schatten der Vergangenheit verweben, zeigen die Stilelemente, derer Abbott sich gern bedient. Ein wenig Gothic-, ein wenig Noir-Verbeugung, aber immer im eigenen Ton, stets dem eigenen Stil anverwandelt.
Wenn bei ihr der Geruch der Mutter selbst zehn Jahre nach deren Tod noch im Haus hängt, dann hat das eine weitaus größere psychologische Komponente als nur den kurzen Grusel, den dieses Detail beim Lesen hervorrufen kann. Weder Dara noch Marie noch Charlie haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, alle drei leben noch immer im Schatten der Eltern, spielen die manipulativen Spiele weiter, die die Mutter begonnen hatte. Es ist diese Psychologie, die Abbott interessiert. Wie lange brauchen Menschen, bis sie Traumata überwunden haben? Was kann man verdrängen, wann bricht es wieder hervor? Und wodurch wird man tatsächlich erwachsen?
Dies ist der zehnte Roman der 1971 in Detroit geborenen Schriftstellerin. Nahmen Abbotts erste Bücher noch klassische Noir-Geschichten im Stil der Dreißiger- und Vierzigerjahre aus einer weiblichen Perspektive in den Blick, so hat sie sich seit "Das Ende der Unschuld", der 2012 als einziger ihrer Romane bislang auf Deutsch erschienen ist, komplett "weiblichen Themen" verschrieben, die sie als keineswegs harmlose, sondern sehr brutale Erfahrungsfelder entlarvt.
Ihre Bücher folgen Mädchen in die Konkurrenz des Cheerleader-Trainings, die Rivalitäten erwachender Sexualität, den Horror der Entführung der besten Freundin. Mit scharfem Blick hält sie fest, wie viel Druck auf den Teenagern liegt und wie hart Erwachsenwerden sein kann. Egal ob Cheerleading, Gymnastik oder Ballett, stets nimmt Abbott das Thema ernst, beleuchtet es aus allen Blickwinkeln. In diesem Roman nutzt sie zudem die immer wieder thematisierte Geschichte des "Nussknacker"-Balletts als Bild für die Sehnsüchte und Verführbarkeiten der Kinder; einmal beschreibt Dara es als "Traum eines Mädchens, das vom Abhang aus in die noch unbekannte Furche des Erwachsenseins späht und unbeschreibliche Wonnen entdeckt."
So zeigt "Aus der Balance" keine heile Ballett-Klischeewelt, sondern die Schmerzen, die Ausdauer und die geschundenen Körper, ebenso wie die Träume und das Versprechen auf Ruhm, dem schon kleine Mädchen und Jungen, vom Ehrgeiz ihrer Eltern getrieben, all zu oft verfallen. MARIA WIESNER
Megan Abbott: "Aus der Balance".
Aus dem Amerikanischen von Karen Gerwig und Angelika Müller.
Pulp Master Verlag, Berlin 2023.
416 S., br., 16.- Euro.
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