Hoch oben im Norden Norwegens spielt diese Geschichte, kurz vor der Jahrtausendwende. Der junge Henrik Vankel arbeitet hier als Aushilfslehrer. Selbsthass, Einsamkeit und Schamgefühle bestimmen sein Leben. Schon lange ist er aus der Welt gefallen, schon lange versteht er die Zeichen seiner Mitmenschen nicht mehr – schon lange verschwimmen ihm Traum und Realität. Bis ihm eines Tages klar wird, dass er sich verliebt hat. In eine seiner Schülerinnen. Eine eigentlich unmögliche Liebesgeschichte. Ist dies wirklich die Rettung – oder der Auftakt zum endgültigen Zusammenbruch?
„Aus der Welt“, das gefeierte Romandebüt von Karl Ove Knausgård, hat viele Facetten. Von Sprach- und Verbindungslosigkeit ist darin die Rede, vom verzweifelten Versuch, sich einen Sinn zu erschaffen in einem rätselhaften Dasein. Es erzählt die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Norwegen der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in einer Familie und einer Welt, in der Scham und Schuldgefühle zu den stärksten Triebfedern überhaupt gehören. Es ist das sprachmächtige Debüt eines jungen Schriftstellers, eine erbarmungslose Erkundung des männlichen Egos und der Selbstzerstörung, aber auch eine literarische Feier von überbordender Phantasie.
„Aus der Welt“, das gefeierte Romandebüt von Karl Ove Knausgård, hat viele Facetten. Von Sprach- und Verbindungslosigkeit ist darin die Rede, vom verzweifelten Versuch, sich einen Sinn zu erschaffen in einem rätselhaften Dasein. Es erzählt die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Norwegen der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in einer Familie und einer Welt, in der Scham und Schuldgefühle zu den stärksten Triebfedern überhaupt gehören. Es ist das sprachmächtige Debüt eines jungen Schriftstellers, eine erbarmungslose Erkundung des männlichen Egos und der Selbstzerstörung, aber auch eine literarische Feier von überbordender Phantasie.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensent Peter Praschl liest den Debütroman von Karl Ove Knausgard mit gemischten Gefühlen. Einerseits neugierig auf die Erlebnisse des jungen Erzählers bzw. späteren Bestseller-Autors K. (die Trennung fällt Praschl offensichtlich schwer), andererseits leicht überfordert vom schieren Umfang des Buches, den vielen Abschweifungen und vor allem der Geschichte um das Verhältnis eines Mannes zu einer seiner Schülerinnen, lässt sich Praschl auf den Text ein. Die Verharmlosung von Pädophilie oder doch bloß Fiktion? Praschl hadert mit dem alles andere auslöschenden männlichen Bewusstsein im Text. Für ihn hat es auf jeden Fall "etwas Gewalttätiges", das Knausgards Leserinnen und Leser aushalten müssen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.10.2020Risse im Wahren
Die Begierde nach der 13-Jährigen: Karl Ove Knausgårds Debütroman „Aus der Welt“
ist auf Deutsch erschienen. Er muss und kann skandalös bleiben
VON JOHANNA-CHARLOTTE HORST
Nichts wäre leichter, als aus Karl Ove Knausgårds Debütroman „Aus der Welt“ einen literarischen Skandal zu machen. Das Buch beginnt mit der Geschichte des 26 Jahre alten Aushilfslehrers Henrik Vankel, der sich in eine 13-jährige Schülerin verliebt. Sein sexuelles Begehren macht ihm zwar Sorgen, von Annäherungsversuchen halten sie ihn jedoch nicht ab. Das ungleiche Paar schläft schließlich miteinander und findet es auch noch schön.
Dass der Autor berühmt dafür ist, mit der Identität von Erzähler und Autor zu kokettieren, macht das Ganze zusätzlich brisant. Wer Knausgårds sechsbändige Lebensbeschreibung („Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“, „Träumen“, „Kämpfen“) gelesen hat, weiß, wie augenfällig hier die vielen Überschneidungen zwischen erzähltem und erzählendem Leben sind. Bekennt sich der sechsfache Vater Knausgård in „Aus der Welt“ etwa zu seinen pädophilen Vorlieben? Wenn sich dies nicht ausschließen lässt, wie konnte dem norwegischen Schriftsteller der wichtigste Literaturpreis seines Heimatlandes verliehen werden? Hat denn beim Erscheinen des Buchs 1998 niemand darüber nachgedacht, dieses Debüt samt Autor zu canceln? Zumal das Cover ein nacktes Mädchen zeigte, vor allem dessen kindlich schmalen Po.
Aber das wissen wir doch schon alles, winken die deutschen Knausgård-Leser ab. Nicht nur das unsittliche Begehren, auch die Wahl des Buchcovers kennen sie bereits aus Knausgårds verschriftlichtem Lebenskampf, der Jahre vor dem Debüt übersetzt wurde. Aber das macht alles ja nur noch schlimmer!, empören sich die Kritiker: Dann schlägt der Autor gleich mehrmals Kapital aus seinen schlechten Eigenschaften!
„Aus der Welt“ ist vor über 20 Jahren erschienen. Den Skandal gab es, als der Roman 2015 ins Schwedische übersetzt wurde. Das Klima in der Debatte um künstlerische Freiheit und Verantwortung ist hitziger geworden. Die Existenz einer Cancel Culture wird im Kulturbetrieb je nach Positionierung bejaht oder verneint. Wenn es sie geben sollte, dann besteht ihre Funktion vor allem darin, für das Gute und gegen das Böse in der Kunst zu kämpfen. Knausgård hat zu dieser Diskussion als Autor und Essayist einiges beigetragen. Besorgt spricht er von einem neuen Moralismus, der die Freiheit der Kunst infrage stelle. Dabei, so Knausgård in einem Vortrag über das Böse und die Literatur, sei die Literatur doch gerade der Ort „wo das Wahre und das Ganze Risse bekommen“. Wer das Erzählen von Problematischem, Nicht-Konformem, ja Skandalösem als Meinungsäußerung des Autors begreife, übergehe fahrlässig den Abstand zwischen „Kunst und Dasein“. Knausgård provoziert in seinem Werk die Annäherung beider Sphären und wird dementsprechend oft nach ihnen befragt. Dann besteht er meist auf den feinen Unterschieden zwischen Text und Welt. Gern würde man ihm glauben und von verbotenen Lieben ohne moralische Bedenken gegenüber dem Autor lesen. Sie sind schließlich doch interessanter als vorbildliche Ehefindungen, die mit unzweideutigen Jaworten happy enden.
So einfach ist es aber leider nicht. Gegen den Vorwurf des Immoralismus empört Knausgård sich ausgerechnet mit Verweis auf sein eigenes Leben: „Ich habe mein Leben beschrieben, und eine Kritikerin sagt, mein Leben sei nicht gut genug.“ Also doch alles ein autobiografisches Bekenntnis? Aber selbst wenn man diese Worte ernster nimmt als die Forderung nach der Unterscheidung zwischen Literatur und Wirklichkeit, ist der Leserschaft eine andere Differenzierungsleistung zumutbar: Erzählen ist nicht das Gleiche wie Gutheißen. Nicht nur die Bekenntnisliteratur, geradezu der gesamte literarische Kanon wäre seiner Pointen beraubt, wollte man nicht mehr von obszönen Begierden hören. Zumal wenn mit ihnen gerungen wird, und die Scham das Weiterleben bestimmt.
Geht es um das eigene Begehren, dann liegt derzeit die Rede von Autofiktion nicht fern. Knausgård hat einen Verlag in Norwegen gegründet, in dem unter anderem einer der meist diskutierten autofiktionalen Texte, Maggie Nelsons „Die Argonauten“, erschienen ist. Autofiktion zeichnet sich durch die Vermischung autobiografischer, essayistischer und theoretischer Elemente aus. In dieser Hinsicht wird Knausgård zu Recht als einer ihrer Vertreter gehandelt, lassen sich doch alle seine Bücher als Gattungshybride beschreiben.
Meist überwiegt das kaum lektorierte, punktuell mit theoretischen Reflexionen gespickte Protokollieren des eigenen Lebens. „Aus der Welt“ ist raffinierter konstruiert. Einzelne Episoden reagieren wie Echos aufeinander. So spiegelt zum Beispiel das Lehrer-Schülerin-Paar die Liebesgeschichte der Eltern Henriks. Diesen zeitlich unterschiedenen Erzählebenen fügen sich fantastische Träume à la Jorge Luis Borges ein, die mit der erzählten Wirklichkeit durch derartig pointierte Assoziationen verbunden sind, dass dem Erzähler die eine oder andere Freud-Lektüre unterstellt werden muss. Zudem lassen sich die zwischengeschalteten literaturhistorischen Exkurse als mitgelieferte Poetikvorlesung begreifen.
Offensichtlicher als die anderen Bücher Knausgårds ist „Aus der Welt“ von schwergewichtigen Intertexten durchwoben. Der poetologisch wirkmächtigste ist Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Im Sinne des französischen Großromanciers begreift Knausgårds Erzähler sein Leben als Ablagerung verschiedener Zeitschichten. Sie sind so durchlässig, dass die Vergangenheit unwillkürlich an die Oberfläche der Gegenwart aufsteigt. Allerdings nur dann, wenn man sich nicht absichtsvoll auf die Suche nach ihnen macht. „Sie erwachen nur durch Berührung von außen zum Leben“, durch zufällige Erfahrungen, die unverhofft eine Brücke in die Vergangenheit schlagen. Diese Formulierung Knausgårds ist ein literarisches Revival der Proust’schen Madeleine, die sprichwörtlich für die „mémoire involontaire“, das unwillkürliche Erinnern steht: „Eigenartig. Madeleine, warum denke ich jetzt daran? An Madeleines? Doch, warte, jetzt habe ich es: Flaubert hat doch dieses Buch über die Zeit geschrieben! Aber das ist wirklich lange her! Kein Wunder, dass ich das vergessen habe.“ Gustave Flaubert ist hier an die Stelle Prousts gerutscht, und wenige Zeilen später taucht auch noch ein Verwandter namens Gustav auf. Ein poetischer Witz, der vorführt, wie die metonymische Gedächtnisapparatur funktioniert. Sie lässt es auch zu, dass die Lektüre Prousts neben diejenige pornografischer Hefte gestellt wird. Allein der Lautähnlichkeit der Wörter „ Proust“ und „Porno“ ist diese ungewöhnliche Nachbarschaft geschuldet. Begeistert ruft da der Erzähler aus: „Hohes und Niedriges, wie schön, tolle Idee!“ Ja, wirklich tolle Idee, muss man rückblickend zugeben. Was in ihr angelegt ist, bleibt für die vielen tausend Seiten des bisher erschienenen Werks fruchtbar. Das autobiografische Material, die Auseinandersetzung mit dem Tod, die Faszination für Alltägliches, der plaudernde Ton sowie die theoretischen Abschweifungen bilden das Fundament aller folgenden Bücher. Wer möchte, kann das Debüt gleichermaßen als Trailer und als Making-Off für alles Folgende lesen.
In „Aus der Welt“ findet sich eine poetologische Passage, in der die Romanform vor 1900 als „ausbalanciert und formvollendet“, nach der Jahrhundertwende dagegen als roh und unfertig beschrieben wird. Eine Beobachtung, die an Georg Lukács’ ästhetische Geschichtsphilosophie erinnert: Die Ursache des Umbruchs sah der ungarische Philosoph in der transzendentalen Obdachlosigkeit der Autoren, sie fühlten sich in der Welt nicht mehr sicher.
Knausgård beschreibt sein eigenes Werk als roh und setzt es damit in den Fluchtpunkt der Lukács’schen Perspektive. Die Gefahr, aus der Welt zu fallen, ist bei ihm allgegenwärtig. Mit dem persönlich Kleinen steht immer auch das große Ganze auf dem Spiel, kurzum: Es geht ums Existieren. Henriks sexuelles Vergehen katapultiert ihn aus der Welt, in der er gerade noch gelebt hat. Seine Geschichte handelt von der Liebe zu einem 13-jährigen Mädchen und gleichzeitig von der universalen Angst, in existenzielle Obdachlosigkeit zu geraten. In einer Art Verteidigungsschrift schreibt Knausgård, Literatur könne den Aus-der-Welt-Fallenden nahekommen. Alles Menschliche habe in ihr eine Berechtigung, „da die Literatur, indem sie frei ist, auch frei von Moral ist, das heißt, frei von Verdammung.“ Das darf, kann, das muss skandalös bleiben.
Karl Ove Knausgård: Aus der Welt. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berg. Luchterhand, München 2020. 928 Seiten, 26 Euro.
„Eigenartig. Madeleine,
warum denke ich jetzt daran?
An Madeleines?“
Allgegenwärtig ist
die Gefahr, aus der Welt
zu fallen
Karl Ove Knausgård auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2019.
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Die Begierde nach der 13-Jährigen: Karl Ove Knausgårds Debütroman „Aus der Welt“
ist auf Deutsch erschienen. Er muss und kann skandalös bleiben
VON JOHANNA-CHARLOTTE HORST
Nichts wäre leichter, als aus Karl Ove Knausgårds Debütroman „Aus der Welt“ einen literarischen Skandal zu machen. Das Buch beginnt mit der Geschichte des 26 Jahre alten Aushilfslehrers Henrik Vankel, der sich in eine 13-jährige Schülerin verliebt. Sein sexuelles Begehren macht ihm zwar Sorgen, von Annäherungsversuchen halten sie ihn jedoch nicht ab. Das ungleiche Paar schläft schließlich miteinander und findet es auch noch schön.
Dass der Autor berühmt dafür ist, mit der Identität von Erzähler und Autor zu kokettieren, macht das Ganze zusätzlich brisant. Wer Knausgårds sechsbändige Lebensbeschreibung („Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“, „Träumen“, „Kämpfen“) gelesen hat, weiß, wie augenfällig hier die vielen Überschneidungen zwischen erzähltem und erzählendem Leben sind. Bekennt sich der sechsfache Vater Knausgård in „Aus der Welt“ etwa zu seinen pädophilen Vorlieben? Wenn sich dies nicht ausschließen lässt, wie konnte dem norwegischen Schriftsteller der wichtigste Literaturpreis seines Heimatlandes verliehen werden? Hat denn beim Erscheinen des Buchs 1998 niemand darüber nachgedacht, dieses Debüt samt Autor zu canceln? Zumal das Cover ein nacktes Mädchen zeigte, vor allem dessen kindlich schmalen Po.
Aber das wissen wir doch schon alles, winken die deutschen Knausgård-Leser ab. Nicht nur das unsittliche Begehren, auch die Wahl des Buchcovers kennen sie bereits aus Knausgårds verschriftlichtem Lebenskampf, der Jahre vor dem Debüt übersetzt wurde. Aber das macht alles ja nur noch schlimmer!, empören sich die Kritiker: Dann schlägt der Autor gleich mehrmals Kapital aus seinen schlechten Eigenschaften!
„Aus der Welt“ ist vor über 20 Jahren erschienen. Den Skandal gab es, als der Roman 2015 ins Schwedische übersetzt wurde. Das Klima in der Debatte um künstlerische Freiheit und Verantwortung ist hitziger geworden. Die Existenz einer Cancel Culture wird im Kulturbetrieb je nach Positionierung bejaht oder verneint. Wenn es sie geben sollte, dann besteht ihre Funktion vor allem darin, für das Gute und gegen das Böse in der Kunst zu kämpfen. Knausgård hat zu dieser Diskussion als Autor und Essayist einiges beigetragen. Besorgt spricht er von einem neuen Moralismus, der die Freiheit der Kunst infrage stelle. Dabei, so Knausgård in einem Vortrag über das Böse und die Literatur, sei die Literatur doch gerade der Ort „wo das Wahre und das Ganze Risse bekommen“. Wer das Erzählen von Problematischem, Nicht-Konformem, ja Skandalösem als Meinungsäußerung des Autors begreife, übergehe fahrlässig den Abstand zwischen „Kunst und Dasein“. Knausgård provoziert in seinem Werk die Annäherung beider Sphären und wird dementsprechend oft nach ihnen befragt. Dann besteht er meist auf den feinen Unterschieden zwischen Text und Welt. Gern würde man ihm glauben und von verbotenen Lieben ohne moralische Bedenken gegenüber dem Autor lesen. Sie sind schließlich doch interessanter als vorbildliche Ehefindungen, die mit unzweideutigen Jaworten happy enden.
So einfach ist es aber leider nicht. Gegen den Vorwurf des Immoralismus empört Knausgård sich ausgerechnet mit Verweis auf sein eigenes Leben: „Ich habe mein Leben beschrieben, und eine Kritikerin sagt, mein Leben sei nicht gut genug.“ Also doch alles ein autobiografisches Bekenntnis? Aber selbst wenn man diese Worte ernster nimmt als die Forderung nach der Unterscheidung zwischen Literatur und Wirklichkeit, ist der Leserschaft eine andere Differenzierungsleistung zumutbar: Erzählen ist nicht das Gleiche wie Gutheißen. Nicht nur die Bekenntnisliteratur, geradezu der gesamte literarische Kanon wäre seiner Pointen beraubt, wollte man nicht mehr von obszönen Begierden hören. Zumal wenn mit ihnen gerungen wird, und die Scham das Weiterleben bestimmt.
Geht es um das eigene Begehren, dann liegt derzeit die Rede von Autofiktion nicht fern. Knausgård hat einen Verlag in Norwegen gegründet, in dem unter anderem einer der meist diskutierten autofiktionalen Texte, Maggie Nelsons „Die Argonauten“, erschienen ist. Autofiktion zeichnet sich durch die Vermischung autobiografischer, essayistischer und theoretischer Elemente aus. In dieser Hinsicht wird Knausgård zu Recht als einer ihrer Vertreter gehandelt, lassen sich doch alle seine Bücher als Gattungshybride beschreiben.
Meist überwiegt das kaum lektorierte, punktuell mit theoretischen Reflexionen gespickte Protokollieren des eigenen Lebens. „Aus der Welt“ ist raffinierter konstruiert. Einzelne Episoden reagieren wie Echos aufeinander. So spiegelt zum Beispiel das Lehrer-Schülerin-Paar die Liebesgeschichte der Eltern Henriks. Diesen zeitlich unterschiedenen Erzählebenen fügen sich fantastische Träume à la Jorge Luis Borges ein, die mit der erzählten Wirklichkeit durch derartig pointierte Assoziationen verbunden sind, dass dem Erzähler die eine oder andere Freud-Lektüre unterstellt werden muss. Zudem lassen sich die zwischengeschalteten literaturhistorischen Exkurse als mitgelieferte Poetikvorlesung begreifen.
Offensichtlicher als die anderen Bücher Knausgårds ist „Aus der Welt“ von schwergewichtigen Intertexten durchwoben. Der poetologisch wirkmächtigste ist Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Im Sinne des französischen Großromanciers begreift Knausgårds Erzähler sein Leben als Ablagerung verschiedener Zeitschichten. Sie sind so durchlässig, dass die Vergangenheit unwillkürlich an die Oberfläche der Gegenwart aufsteigt. Allerdings nur dann, wenn man sich nicht absichtsvoll auf die Suche nach ihnen macht. „Sie erwachen nur durch Berührung von außen zum Leben“, durch zufällige Erfahrungen, die unverhofft eine Brücke in die Vergangenheit schlagen. Diese Formulierung Knausgårds ist ein literarisches Revival der Proust’schen Madeleine, die sprichwörtlich für die „mémoire involontaire“, das unwillkürliche Erinnern steht: „Eigenartig. Madeleine, warum denke ich jetzt daran? An Madeleines? Doch, warte, jetzt habe ich es: Flaubert hat doch dieses Buch über die Zeit geschrieben! Aber das ist wirklich lange her! Kein Wunder, dass ich das vergessen habe.“ Gustave Flaubert ist hier an die Stelle Prousts gerutscht, und wenige Zeilen später taucht auch noch ein Verwandter namens Gustav auf. Ein poetischer Witz, der vorführt, wie die metonymische Gedächtnisapparatur funktioniert. Sie lässt es auch zu, dass die Lektüre Prousts neben diejenige pornografischer Hefte gestellt wird. Allein der Lautähnlichkeit der Wörter „ Proust“ und „Porno“ ist diese ungewöhnliche Nachbarschaft geschuldet. Begeistert ruft da der Erzähler aus: „Hohes und Niedriges, wie schön, tolle Idee!“ Ja, wirklich tolle Idee, muss man rückblickend zugeben. Was in ihr angelegt ist, bleibt für die vielen tausend Seiten des bisher erschienenen Werks fruchtbar. Das autobiografische Material, die Auseinandersetzung mit dem Tod, die Faszination für Alltägliches, der plaudernde Ton sowie die theoretischen Abschweifungen bilden das Fundament aller folgenden Bücher. Wer möchte, kann das Debüt gleichermaßen als Trailer und als Making-Off für alles Folgende lesen.
In „Aus der Welt“ findet sich eine poetologische Passage, in der die Romanform vor 1900 als „ausbalanciert und formvollendet“, nach der Jahrhundertwende dagegen als roh und unfertig beschrieben wird. Eine Beobachtung, die an Georg Lukács’ ästhetische Geschichtsphilosophie erinnert: Die Ursache des Umbruchs sah der ungarische Philosoph in der transzendentalen Obdachlosigkeit der Autoren, sie fühlten sich in der Welt nicht mehr sicher.
Knausgård beschreibt sein eigenes Werk als roh und setzt es damit in den Fluchtpunkt der Lukács’schen Perspektive. Die Gefahr, aus der Welt zu fallen, ist bei ihm allgegenwärtig. Mit dem persönlich Kleinen steht immer auch das große Ganze auf dem Spiel, kurzum: Es geht ums Existieren. Henriks sexuelles Vergehen katapultiert ihn aus der Welt, in der er gerade noch gelebt hat. Seine Geschichte handelt von der Liebe zu einem 13-jährigen Mädchen und gleichzeitig von der universalen Angst, in existenzielle Obdachlosigkeit zu geraten. In einer Art Verteidigungsschrift schreibt Knausgård, Literatur könne den Aus-der-Welt-Fallenden nahekommen. Alles Menschliche habe in ihr eine Berechtigung, „da die Literatur, indem sie frei ist, auch frei von Moral ist, das heißt, frei von Verdammung.“ Das darf, kann, das muss skandalös bleiben.
Karl Ove Knausgård: Aus der Welt. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berg. Luchterhand, München 2020. 928 Seiten, 26 Euro.
„Eigenartig. Madeleine,
warum denke ich jetzt daran?
An Madeleines?“
Allgegenwärtig ist
die Gefahr, aus der Welt
zu fallen
Karl Ove Knausgård auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2019.
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»So verstörend wie packend. Letzteres liegt am Rhythmus von Knausgårds Sprache, die widersprüchliche Emotionen und unzählige Nuancen in sich birgt und immer in Bewegung bleibt.« Martina Läubli / NZZ am Sonntag