Während in den Wochen nach dem Fall der Mauer in Berlin die internationale Politik ihre Wende nimmt, stellen sich Richard und Gunter in der kleinsten WG von Charlottenburg Zukunftsfragen. Gunter will sein Taxifahrer-Kollektiv hinter sich lassen und mit einer Imbissbar im städtischen Dschungel der Gastronomie Fuß fassen. Seine aktuelle Freundin Johanna beharrt indes auf ihrer Unabhängigkeit, sowohl in ihrem Beruf als auch in ihren Gefühlen. Zeitgleich muss Richard einsehen, dass er mit seinem Job als Aushilfskraft in einem linken Verlag nicht mehr lange vorankommen wird. Aufgewühlt von der Nachricht, dass Mona, seine große Liebe aus den Jahren der Revolte, wieder in Europa, ja in Berlin lebt, stellt er sich den Erinnerungen an die Zeit der Kämpfe in den Hörsälen und auf der Hauptstraße von Heidelberg. Trotz seines Wiedersehens mit Mona wehrt sich Richard gegen die Ansicht, dass man nur einmal den einzig richtigen Menschen treffen und mit ihm glücklich werden könne- denn da gibt es noch die alleinerziehende Beatrice und nicht zuletzt Johanna. Am Ende einer selbstverschuldet langen Jugend sitzt er erneut vor dem Schreibheft im Café Bleibtreu und nimmt sich vor, die Muse zu umarmen, statt aus der Ferne auf ihren Kuss zu hoffen. Aus nächster Nähe erzählt Geschichten von der Liebe in politisch bewegten Jahren, davon, warum sie nicht sein soll und doch nicht endet. Der Roman zeichnet das Porträt des Künstlers als nicht mehr ganz jungem Mann nach und fragt, weshalb sich die Geschicke der Einzelnen den Kämpfen ihrer Epoche weder entziehen noch ganz in ihnen aufgehen können.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Ulrich Rüdenauer schätzt Jürgen Theobaldy seit seinen Gedichten der Neuen Subjektivität in den siebziger Jahren und ist nun auch ganz begeistert von seinem neuen Roman "Aus nächster Nähe". Er folgt hier zwei mittelalten Veteranen aus den politisierten Siebzigern durch den Berliner Winter des Wendejahres und erlebt, wie bei beiden Männern Midlife-Crisis und politische Desillusionierung zusammenfallen. Während Gunter mit einem exklusiven Pasta-Lokal Profit machen möchte, ist es vor allem der poetisch-verträumte Richard, der den Kritiker fasziniert. Rüdenauer liest, wie sich Richard in lyrischen, teils "geschwollenen" und völlig ironiefreien Sätzen seiner romantischen Sehnsucht, den Erinnerungen an seine Vergangenheit und den eigenen Befindlichkeiten hingibt und sich in alten und neuen Liebesbeziehungen verfängt. Ein "leiser, altmodischer" Roman, dessen Lektüre sich lohnt, meint der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2013Geglückte Tage, vertane Chancen
Ein Romantiker im Berlin der Wendezeit: Jürgen Theobaldys Roman „Aus nächster Nähe“
Wenn die Midlife-Crisis des Mannes mit einer weltgeschichtlichen Zäsur zusammenfällt, kann das zu einer ernsten, ans Eingemachte gehenden Angelegenheit werden. In Jürgen Theobaldys neuem Roman „Aus nächster Nähe“ stolpern zwei mittelalte Veteranen aus den politisierten siebziger Jahren durchs Berlin der Wendezeit, genauer: durch Charlottenburg und Kreuzberg, was wichtig ist zu erwähnen, weil sich hier vielleicht das etwas schlaff gewordene linke Bewusstsein am besten durch die ersten zwei Legislaturperioden Helmut Kohls bugsieren ließ.
Der Kiez von anno dazumal rückt einem in Theobaldys Recherche einer verlorenen Zeit gefährlich auf die Pelle. Man sieht die leicht abgestandenen Typen förmlich am Tresen des Café Bleibtreu oder der Dicken Wirtin kleben – verstaubte Gestalten, „über die alte Rocknummern ganze Wannen voll lau gewordener Gefühle schwemmten“. Die Lauheit des Gefühls, das ist es, was Richard und Gunter unbedingt vermeiden wollen, aber nur ungenügend können. Der eine verdingt sich in einem Sachbuchverlag; das Lektorat diskutiert gerne am Mittagstisch über den Stand der Revolution und redet den eigenen Weg vom Barrikadenkämpfer zum distinguierten Rotweintrinker schön.
Der andere möchte nun auch ein Stück vom Kuchen abbekommen und macht Pläne für ein exklusives Pasta-Lokal. Die beiden teilen sich eine Wohnung, aber sonst nicht allzu viel, und wo sich bei Richard die politische Desillusionierung ins Poetische wendet, richtet sich Gunter an profanen Profitwünschen aus.
Der inzwischen 69-jährige Jürgen Theobaldy, der in den siebziger Jahren mit Gedichten an der Neuen Subjektivität mittat, einige schöne, wenngleich erfolglose Prosatexte veröffentlicht hat, kehrt noch einmal zurück in eine Epoche, in der zwar vieles, aber noch nicht alles verloren schien. In Richard, von seinen Freunden Riko genannt und aus der Erzählung „Sonntags-Kino“ von 1978 vage bekannt, könnte man ein Alter ego Theobaldys erkennen – ein Träumer mehr als ein Realist, ein Randsteher mehr als ein Akteur.
Den Versprechen der Ideologen haben Theobaldy und sein Held Richard schon immer misstraut, letzterer erkundet denn auch lieber sein wahres Ich. „Wie immer er es drehen und wenden wollte, die Liebe blieb für ihn die eigentliche Bestätigung, die Anerkennung an sich, und selbst Abstriche und Vorbehalte, auch eigennützige Motive, wie sie dazu dienten, sich einer Beziehung zu versichern, fochten sie nicht an.“ In dieser Manier, einem durchaus hohen, zuweilen auch – um aus dem Roman zu zitieren – „geschwollenen“ Ton, seziert Richard seine Innenwelt, während draußen die Weltordnung auf den Kopf gestellt wird. Es ist eine romantische Sehnsucht, die dahinter spürbar wird, eine existenzielle Dringlichkeit, der Sprache des Herzens unbedingt folgen zu wollen. Und die lockt ihn über gewundene Erinnerungswege zurück zu einer Liebesgeschichte mit der Studentin Mona. Lange ist das her, aber doch ganz präsent. „Denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort“, wird Nietzsche ins Feld geführt. „Wir selber sind ja nichts als das, was wir von diesem Strom in jedem Augenblick empfinden.“
Um solche Empfindungen geht es Theobaldy, in lyrischen Sätzen fließt die Vergangenheit durch Richard, diesen späten Nachfahren der Romantiker. Sie spült ihn fast fort. Richard hängt seiner alten Liebe Mona nach, als wäre durch ihre Wiederbelebung die Lösung aller irdischen Probleme gewährleistet. Zugleich verheddert er sich in eine neue Liebschaft mit Gunters Ex-Freundin Johanna. Das Leben lässt sich eben nicht planen. Seiner Sehnsucht mag man treu bleiben, aber schließlich findet sich doch etwas ganz anderes, an dem man sich auch festhalten kann. Es ist sympathisch, wie Theobaldy seinen Richard durch den Berliner Winter des Wendejahres taumeln lässt; es ist auch ein bisschen aus der Zeit, wie die Beschäftigung mit den eigenen Befindlichkeiten so ganz ironiefrei ausgetragen wird.
Die ehemaligen Liebenden Richard und Mona begegnen sich noch einmal, zufällig und kurz, und dieses Aufeinandertreffen ermöglicht einen versöhnlichen Abschied von gestern. Der vielleicht schönste Satz dieses leisen, altmodischen Romans findet sich fast am Ende, als Richard bereit ist zum Aufbruch in ein neues Leben: „Also gab es eine Wahrheit, auf die man viel später stieß, im Nachhinein geglückter Tage und vertaner Chancen, allein schon deshalb musste man sein Leben bis zuletzt durchstehen und durfte es nicht selbst beenden wollen.“
ULRICH RÜDENAUER
Jürgen Theobaldy: Aus nächster Nähe. Roman. Wunderhorn Verlag. Heidelberg 2013. 183 Seiten. 19,80 Euro.
Richard kommt dem Leser
aus „Sonntags Kino“ von 1978
flüchtig bekannt vor
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Ein Romantiker im Berlin der Wendezeit: Jürgen Theobaldys Roman „Aus nächster Nähe“
Wenn die Midlife-Crisis des Mannes mit einer weltgeschichtlichen Zäsur zusammenfällt, kann das zu einer ernsten, ans Eingemachte gehenden Angelegenheit werden. In Jürgen Theobaldys neuem Roman „Aus nächster Nähe“ stolpern zwei mittelalte Veteranen aus den politisierten siebziger Jahren durchs Berlin der Wendezeit, genauer: durch Charlottenburg und Kreuzberg, was wichtig ist zu erwähnen, weil sich hier vielleicht das etwas schlaff gewordene linke Bewusstsein am besten durch die ersten zwei Legislaturperioden Helmut Kohls bugsieren ließ.
Der Kiez von anno dazumal rückt einem in Theobaldys Recherche einer verlorenen Zeit gefährlich auf die Pelle. Man sieht die leicht abgestandenen Typen förmlich am Tresen des Café Bleibtreu oder der Dicken Wirtin kleben – verstaubte Gestalten, „über die alte Rocknummern ganze Wannen voll lau gewordener Gefühle schwemmten“. Die Lauheit des Gefühls, das ist es, was Richard und Gunter unbedingt vermeiden wollen, aber nur ungenügend können. Der eine verdingt sich in einem Sachbuchverlag; das Lektorat diskutiert gerne am Mittagstisch über den Stand der Revolution und redet den eigenen Weg vom Barrikadenkämpfer zum distinguierten Rotweintrinker schön.
Der andere möchte nun auch ein Stück vom Kuchen abbekommen und macht Pläne für ein exklusives Pasta-Lokal. Die beiden teilen sich eine Wohnung, aber sonst nicht allzu viel, und wo sich bei Richard die politische Desillusionierung ins Poetische wendet, richtet sich Gunter an profanen Profitwünschen aus.
Der inzwischen 69-jährige Jürgen Theobaldy, der in den siebziger Jahren mit Gedichten an der Neuen Subjektivität mittat, einige schöne, wenngleich erfolglose Prosatexte veröffentlicht hat, kehrt noch einmal zurück in eine Epoche, in der zwar vieles, aber noch nicht alles verloren schien. In Richard, von seinen Freunden Riko genannt und aus der Erzählung „Sonntags-Kino“ von 1978 vage bekannt, könnte man ein Alter ego Theobaldys erkennen – ein Träumer mehr als ein Realist, ein Randsteher mehr als ein Akteur.
Den Versprechen der Ideologen haben Theobaldy und sein Held Richard schon immer misstraut, letzterer erkundet denn auch lieber sein wahres Ich. „Wie immer er es drehen und wenden wollte, die Liebe blieb für ihn die eigentliche Bestätigung, die Anerkennung an sich, und selbst Abstriche und Vorbehalte, auch eigennützige Motive, wie sie dazu dienten, sich einer Beziehung zu versichern, fochten sie nicht an.“ In dieser Manier, einem durchaus hohen, zuweilen auch – um aus dem Roman zu zitieren – „geschwollenen“ Ton, seziert Richard seine Innenwelt, während draußen die Weltordnung auf den Kopf gestellt wird. Es ist eine romantische Sehnsucht, die dahinter spürbar wird, eine existenzielle Dringlichkeit, der Sprache des Herzens unbedingt folgen zu wollen. Und die lockt ihn über gewundene Erinnerungswege zurück zu einer Liebesgeschichte mit der Studentin Mona. Lange ist das her, aber doch ganz präsent. „Denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort“, wird Nietzsche ins Feld geführt. „Wir selber sind ja nichts als das, was wir von diesem Strom in jedem Augenblick empfinden.“
Um solche Empfindungen geht es Theobaldy, in lyrischen Sätzen fließt die Vergangenheit durch Richard, diesen späten Nachfahren der Romantiker. Sie spült ihn fast fort. Richard hängt seiner alten Liebe Mona nach, als wäre durch ihre Wiederbelebung die Lösung aller irdischen Probleme gewährleistet. Zugleich verheddert er sich in eine neue Liebschaft mit Gunters Ex-Freundin Johanna. Das Leben lässt sich eben nicht planen. Seiner Sehnsucht mag man treu bleiben, aber schließlich findet sich doch etwas ganz anderes, an dem man sich auch festhalten kann. Es ist sympathisch, wie Theobaldy seinen Richard durch den Berliner Winter des Wendejahres taumeln lässt; es ist auch ein bisschen aus der Zeit, wie die Beschäftigung mit den eigenen Befindlichkeiten so ganz ironiefrei ausgetragen wird.
Die ehemaligen Liebenden Richard und Mona begegnen sich noch einmal, zufällig und kurz, und dieses Aufeinandertreffen ermöglicht einen versöhnlichen Abschied von gestern. Der vielleicht schönste Satz dieses leisen, altmodischen Romans findet sich fast am Ende, als Richard bereit ist zum Aufbruch in ein neues Leben: „Also gab es eine Wahrheit, auf die man viel später stieß, im Nachhinein geglückter Tage und vertaner Chancen, allein schon deshalb musste man sein Leben bis zuletzt durchstehen und durfte es nicht selbst beenden wollen.“
ULRICH RÜDENAUER
Jürgen Theobaldy: Aus nächster Nähe. Roman. Wunderhorn Verlag. Heidelberg 2013. 183 Seiten. 19,80 Euro.
Richard kommt dem Leser
aus „Sonntags Kino“ von 1978
flüchtig bekannt vor
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