Das erste Personenlexikon über Täter, Gehilfen und Opfer in Auschwitz Niemand hat so viele NS-Täter und ihre Nachkriegskarrieren dokumentiert wie Ernst Klee, der diese Aufgabe zu seinem Lebenswerk gemacht hat. Nun legt er ein neues, einzigartiges biographisches Nachschlagewerk vor. In fast 4.000 Biographien stellt er das gesamte Personal des Vernichtungslagers Auschwitz dar, von den mordenden Tätern bis hin zu Häftlingen, die zu Hilfsdiensten gezwungen wurden. Auch ihren Verbleib nach 1945 deckt er soweit wie möglich auf. Darüber hinaus werden die einzelnen Personen durch Aussagen von Zeitzeugen charakterisiert. Zum ersten Mal wird hier die gesamte Belegschaft eines Konzentrationslagers erfasst - eine unschätzbar wertvolle Pionierarbeit und ein Meilenstein der NS-Forschung, der auf Jahrzehnte Bestand haben wird. »Ein engagierter Publizist, der sich nie gescheut hat, Tabuthemen aufzugreifen.« Die Jury zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 1997
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Alphabet und Biogramm
Ernst Klees "Auschwitz", eine Heterotopie
L, M, N, O. Nichts ist, alphabetisch verbürgt, folgerichtiger. Doch Lasker, Mengele, Niethammer, Opfal? Ist es ein Skandalon, sie in eine Reihe zusammenzuzwingen? Denn was dürften Menschen wie: die nicht einmal dem Schulalter Entwachsene, die alltäglich zum mehrmaligen Spiel des Cellos am Haupttor von Auschwitz genötigt wird, und: der erbbiologisch Promovierte, der an den dort Gefangenen medizinische Versuche vollführt, was dürften: der Ornithologe, der aufgrund des "großen Verständnisses" des Lagerkommandanten Vogelkunde in diesem "noch gänzlich unbearbeiteten neuen deutschen Ostgebiete" betreibt, und: die aus Frankreich Deportierte, die in einer gynäkologischen Experimentierstätte Opfer angeblich operationsloser Sterilisationsmaßnahmen wird, miteinander gemein haben? Man erinnere sich nur der Empörung, mit der Anita Lasker-Wallfisch kommentiert, dass Irma Grese, Aufseherin in Auschwitz und Bergen-Belsen, ihr im Angesicht der Befreiung ein verschwisterndes Wir nahelegte: "Sie gebrauchte das Wort 'wir' (ich und sie), als ob wir der gleichen Art angehörten."
Und man möchte folgern: Für die Opfer und Täter unausdenklicher Verbrechen ist post crimen gerechterdings kein gemeinsamer Raum statthaft - ein Dilemma heutiger Gedenkstätten: Wo und in welchem Ausmaß ist den einstigen Tätern dort Raum einzuräumen? -, es sei denn der von "Heterotopien": Diese sind, frei nach Michel Foucaults Abhandlung "Die Ordnung der Dinge" und deren legendärer Analyse einer von Jorge Luis Borges erdichteten "Chinesischen Enzyklopädie", allein sprachlich geschaffene, im Eigentlichen unmögliche und letzthin bis zum Verstummen aller Syntax verstörende Orte. Das Wagnis des Skandalons hat daher das letzte Werk Ernst Klees eingehen können, des Sozialpädagogen und Autors quellenhistorisch fundierter Studien und Personenlexika zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, dessen Nachlass mit 110 Aktenordnern und einem sechs voluminöse Metallschubladen umfassenden Hängemappenregister in die Gedenkstätte Hadamar überführt worden ist.
2013, im Jahr seines Todes, im S. Fischer Verlag erschienen, "registriert" Ernst Klees Buch "Auschwitz" mit dem Untertitel "Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde" weit mehr als viertausend Personen zur "Beschreibung" dessen, so der Autor, was Auschwitz gewesen sei. Anders als die zugestandenermaßen "umfangreichste und detaillierteste" Vorgängerarbeit zu den Tatopfern und den Tätern, anders als Hermann Langbeins Kompendium "Menschen in Auschwitz" (Wien 1972), wo gut 200 Seiten über "Die Gefangenen" - systematisch - von ebenso vielen über "Die Bewacher" geschieden werden, reiht Klee seine Einträge in denkbar nüchternster Form aneinander. Es sind kurzbiographische, gelegentlich mit Auszügen aus Gerichtsprotokollen oder persönlichen Einschätzungen versehene Einträge, von drei Zeilen bis zu fünf Spalten umfassend, geordnet allein nach der alphabetischen Folge ihrer Eigennamen. Weitaus überwiegend gelten sie Personen, wie es im Vorwort heißt, die "als Täter zu bezeichnen oder zum Umfeld der Täter zu rechnen sind". Ohne Umstände aber, die Rezensenten vielfach befremdend (so Werner Renz in der "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" 2015) und in willkürlicher Auswahl (warum etwa Anita, nicht aber deren Schwester Renate Lasker, die spätere BBC-Autorin und Ehefrau von Klaus Harpprecht?), sind zu einem Zehntel auch Biogramme der an deren Macht und Gewalt Leidtragenden in das Alphabet eingefügt.
Auf die instrumentelle Vernunft, die im organisierten Massenmord konkret wurde, reagiert also Klees Auschwitz-Lexikon spiegelverkehrt buchhalterisch. Wo Deportierte namenlos und unzählbar zu Objekten geworden waren, scheint historiographisch die Täterbiographistik dominant geworden zu sein. Sie individualisiert, wie sie zugleich anklagend indiziert. Das wiederum ist das Verdienst der Biogramme: dass ihre Informationen über Werdegänge und über Tathergänge, ob anekdotisch überliefert oder prozessual ermittelt, unnachgiebig Verantwortlichkeit zuschreiben können. Ernst Klee war hier bisweilen von subjektivem Furor geleitet, bisweilen aber objektiv auch so weit gegangen, dass bereits die Zugehörigkeit zu spezifischen Berufsgruppen und Tätigkeitsbereichen, beispielsweise zu der Lkw-Staffel, die den Transport der am Güterbahnhof eingetroffenen Gefangenen zu den Gaskammern übernahm, Tatverantwortung involviert - ein Maßstab, der zugleich aus der hiesigen Rechtsprechung mit den Sobibor- und Stutthof-Prozessen gegen Mitglieder des Wachdienstes oder des Lagersekretariates vertraut geworden war.
Im Vergleich zur Arbeit des Chronisten erweist sich die Arbitrarität des Alphabets als die Chance des Lexikographen: Nicht einem sich Tag für Tag entfaltenden Narrativ bis hin zum dénouement von Tötung und Befreiung, von Inhaftierung und Urteil hat er zu gehorchen. Sondern Name für Name lässt er immer von Neuem die Ungeheuerlichkeit erspüren, die verschiedenste, im Grunde inkommensurable Lebenswege an den Stätten der Massenvernichtung zusammengeführt hat. HENDRIK FEINDT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ernst Klees "Auschwitz", eine Heterotopie
L, M, N, O. Nichts ist, alphabetisch verbürgt, folgerichtiger. Doch Lasker, Mengele, Niethammer, Opfal? Ist es ein Skandalon, sie in eine Reihe zusammenzuzwingen? Denn was dürften Menschen wie: die nicht einmal dem Schulalter Entwachsene, die alltäglich zum mehrmaligen Spiel des Cellos am Haupttor von Auschwitz genötigt wird, und: der erbbiologisch Promovierte, der an den dort Gefangenen medizinische Versuche vollführt, was dürften: der Ornithologe, der aufgrund des "großen Verständnisses" des Lagerkommandanten Vogelkunde in diesem "noch gänzlich unbearbeiteten neuen deutschen Ostgebiete" betreibt, und: die aus Frankreich Deportierte, die in einer gynäkologischen Experimentierstätte Opfer angeblich operationsloser Sterilisationsmaßnahmen wird, miteinander gemein haben? Man erinnere sich nur der Empörung, mit der Anita Lasker-Wallfisch kommentiert, dass Irma Grese, Aufseherin in Auschwitz und Bergen-Belsen, ihr im Angesicht der Befreiung ein verschwisterndes Wir nahelegte: "Sie gebrauchte das Wort 'wir' (ich und sie), als ob wir der gleichen Art angehörten."
Und man möchte folgern: Für die Opfer und Täter unausdenklicher Verbrechen ist post crimen gerechterdings kein gemeinsamer Raum statthaft - ein Dilemma heutiger Gedenkstätten: Wo und in welchem Ausmaß ist den einstigen Tätern dort Raum einzuräumen? -, es sei denn der von "Heterotopien": Diese sind, frei nach Michel Foucaults Abhandlung "Die Ordnung der Dinge" und deren legendärer Analyse einer von Jorge Luis Borges erdichteten "Chinesischen Enzyklopädie", allein sprachlich geschaffene, im Eigentlichen unmögliche und letzthin bis zum Verstummen aller Syntax verstörende Orte. Das Wagnis des Skandalons hat daher das letzte Werk Ernst Klees eingehen können, des Sozialpädagogen und Autors quellenhistorisch fundierter Studien und Personenlexika zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, dessen Nachlass mit 110 Aktenordnern und einem sechs voluminöse Metallschubladen umfassenden Hängemappenregister in die Gedenkstätte Hadamar überführt worden ist.
2013, im Jahr seines Todes, im S. Fischer Verlag erschienen, "registriert" Ernst Klees Buch "Auschwitz" mit dem Untertitel "Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde" weit mehr als viertausend Personen zur "Beschreibung" dessen, so der Autor, was Auschwitz gewesen sei. Anders als die zugestandenermaßen "umfangreichste und detaillierteste" Vorgängerarbeit zu den Tatopfern und den Tätern, anders als Hermann Langbeins Kompendium "Menschen in Auschwitz" (Wien 1972), wo gut 200 Seiten über "Die Gefangenen" - systematisch - von ebenso vielen über "Die Bewacher" geschieden werden, reiht Klee seine Einträge in denkbar nüchternster Form aneinander. Es sind kurzbiographische, gelegentlich mit Auszügen aus Gerichtsprotokollen oder persönlichen Einschätzungen versehene Einträge, von drei Zeilen bis zu fünf Spalten umfassend, geordnet allein nach der alphabetischen Folge ihrer Eigennamen. Weitaus überwiegend gelten sie Personen, wie es im Vorwort heißt, die "als Täter zu bezeichnen oder zum Umfeld der Täter zu rechnen sind". Ohne Umstände aber, die Rezensenten vielfach befremdend (so Werner Renz in der "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" 2015) und in willkürlicher Auswahl (warum etwa Anita, nicht aber deren Schwester Renate Lasker, die spätere BBC-Autorin und Ehefrau von Klaus Harpprecht?), sind zu einem Zehntel auch Biogramme der an deren Macht und Gewalt Leidtragenden in das Alphabet eingefügt.
Auf die instrumentelle Vernunft, die im organisierten Massenmord konkret wurde, reagiert also Klees Auschwitz-Lexikon spiegelverkehrt buchhalterisch. Wo Deportierte namenlos und unzählbar zu Objekten geworden waren, scheint historiographisch die Täterbiographistik dominant geworden zu sein. Sie individualisiert, wie sie zugleich anklagend indiziert. Das wiederum ist das Verdienst der Biogramme: dass ihre Informationen über Werdegänge und über Tathergänge, ob anekdotisch überliefert oder prozessual ermittelt, unnachgiebig Verantwortlichkeit zuschreiben können. Ernst Klee war hier bisweilen von subjektivem Furor geleitet, bisweilen aber objektiv auch so weit gegangen, dass bereits die Zugehörigkeit zu spezifischen Berufsgruppen und Tätigkeitsbereichen, beispielsweise zu der Lkw-Staffel, die den Transport der am Güterbahnhof eingetroffenen Gefangenen zu den Gaskammern übernahm, Tatverantwortung involviert - ein Maßstab, der zugleich aus der hiesigen Rechtsprechung mit den Sobibor- und Stutthof-Prozessen gegen Mitglieder des Wachdienstes oder des Lagersekretariates vertraut geworden war.
Im Vergleich zur Arbeit des Chronisten erweist sich die Arbitrarität des Alphabets als die Chance des Lexikographen: Nicht einem sich Tag für Tag entfaltenden Narrativ bis hin zum dénouement von Tötung und Befreiung, von Inhaftierung und Urteil hat er zu gehorchen. Sondern Name für Name lässt er immer von Neuem die Ungeheuerlichkeit erspüren, die verschiedenste, im Grunde inkommensurable Lebenswege an den Stätten der Massenvernichtung zusammengeführt hat. HENDRIK FEINDT
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