Werner Renz zeichnet in diesem Band die NS-Prozesse nach, angefangen mit dem ersten Auschwitz-Prozess unter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Frankfurt am Main über die Frankfurter Nachfolgeprozesse bis hin zu den jüngsten Verfahren gegen Demjanjuk, Hanning und Gröning. Dabei analysiert er die jeweilige Rechtsauffassung und die Rechtspraxis dieser Prozesse und deren Resonanz in der Öffentlichkeit. So hatte eine uneinheitliche Rechtsprechung in den vergangenen Jahrzehnten eine inkonsequente Justizpraxis zur Folge. Freisprüche und Verfahrenseinstellungen liefen für manche Kritiker auf Strafvereitelung hinaus. Zahllose Holocaust-Täter blieben unbehelligt. Insgesamt kann bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen das Versagen nicht nur der Justiz, sondern auch der Politik, der Strafrechtswissenschaft, der Zeitgeschichtsforschung und der deutschen Öffentlichkeit festgestellt werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2018Das atomisierte Verbrechen
Die deutsche Justiz und ihre Schwierigkeiten bei der Verfolgung von KZ-Personal
Die Geschichte taugt zur Legende. 13 Jahre nach Kriegsende geht bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft die Anzeige eines mehrfach vorbestraften Häftlings aus der Landesstrafanstalt Bruchsal ein. Sie richtet sich gegen einen gewissen Wilhelm Boger, kaufmännischer Angestellter der Firma Heinkel Motorenwerke in Zuffenhausen. Boger soll als SS-Mann in dem der Öffentlichkeit bis dahin kaum bekannten Vernichtungslager Auschwitz gewesen sein und unzählige Menschen gefoltert und willkürlich getötet haben. Die Strafverfolger ermitteln nur zögerlich - bis der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der selbst während der NS-Zeit als Jude verfolgt worden war, knapp ein Jahr später von einem Journalisten ein Bündel Dokumente über Verbrechen in Auschwitz erhält, die ein Überlebender in den Nachkriegswirren als "Andenken" mitgenommen hatte. Bauer erwirkt beim Bundesgerichtshof den Beschluss, sämtliche Ermittlungen zum Lager Auschwitz in seiner Behörde zusammenzuziehen. Mit einer Handvoll junger, unbelasteter Staatsanwälte schafft er es, gegen alle Widerstände das Menschheitsverbrechen Auschwitz vor Gericht zu bringen: Der große Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965, mit dem die junge Bundesrepublik der Weltöffentlichkeit zeigen konnte, dass sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellt.
Die historische Dimension des Frankfurter Auschwitz-Prozesses steht außer Frage. Und doch hat die Legende in den vergangenen Jahren Risse bekommen, als mit den Verfahren gegen greise SS-Männer wie Oskar Gröning klar wurde, dass gerade in dem Urteil des Frankfurter Landgerichts auch ein Grund dafür liegt, weshalb so viele Verbrechen in den Vernichtungslagern ungesühnt blieben. "Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung" lautet der Untertitel eines Buches von Werner Renz, das den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess und seine fünf kleinen Folgeverfahren nachzeichnet und nach einer Antwort auf die Frage sucht, weshalb der Verfolgungseifer der Justiz so bald wieder erlahmte, bis Jahrzehnte später ein paar wenige, noch lebende alte Männer vor Gericht gezerrt wurden.
Mit einer beinahe lexikalischen Fülle an Details führt Renz, der bis 2016 das Archiv des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts leitete, auf den ersten hundert Seiten durch den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess, nennt den Inhalt der Anklage und erläutert dem Leser die rechtlichen Fragen, vor denen die Richter standen. Am folgenreichsten war die Entscheidung des Landgerichts, sich gegen Fritz Bauers Rechtsauffassung zu stellen, der das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz rechtlich als eine "einheitliche" Tat bewerten wollte. Die Richter gingen einen anderen Weg und "atomisierten" das Geschehen in unzählige Einzeltaten. Für eine Verurteilung der Täter genügte daher nicht deren schlichte Mitwirkung an der arbeitsteiligen Vernichtungsmaschinerie Auschwitz. Stattdessen mussten jedem einzelnen Angeklagten konkrete eigene Mordtaten nachgewiesen werden, was schon damals, 20 Jahre nach Befreiung des Lagers, in vielen Fällen nicht mehr gelang und die Verfolgung der Verbrechen in den folgenden Jahrzehnten fast unmöglich machte. Erst mit seinem Revisionsurteil gegen Oskar Gröning im Herbst 2016 räumte der Bundesgerichtshof mit dieser Rechtsauffassung auf.
Aber Renz belässt es nicht bei der Beschreibung dieses in den vergangenen Jahren oft zitierten Problems. Interessant wird sein Buch vor allem, wo es zu den Nachfolgeprozessen kommt und zur Rezeption der Urteile in der damaligen Zeit. In den Jahren bis 1981 gab es in Frankfurt fünf weitere, von der Öffentlichkeit kaum beachtete Auschwitz-Prozesse. Vor Gericht standen unter anderem die Angehörigen der Fahrbereitschaft der SS, die die Deportierten zu den Gaskammern brachten, Ärzte und deren Helfer, die Juden töteten, um deren Skelette für eine anatomische Sammlung zu gewinnen, oder einzelne SS-Männer wie Rudolf Sawatzki, der unter anderem dabei gewesen sein soll, als 400 Kinder in eine Verbrennungsgrube neben dem Krematorium IV gekippt wurden und darüber hinaus bei Selektionen mitwirkte. Die meisten Verfahren endeten mit Einstellungen oder Freisprüchen. Entweder wurden die Zeugenaussagen nach so langer Zeit nicht mehr als belastbar angesehen, oder das Urteil im ersten Auschwitz-Prozess wurde herangezogen, das mit seiner Milde "Maßstäbe" gesetzt habe, nach denen die Schuld der "Handlanger" als gering anzusehen sei.
Mit seinem Blick in die Debatten jener Jahre arbeitet Renz heraus, wie pragmatisch damals mit dieser Rechtspraxis umgegangen wurde, mit der die kleinen Täter davonkamen, obwohl sie bei nüchterner Anwendung des Rechts wegen Beihilfe zum vielfachen Mord hätten verurteilt werden müssen. Schon 1964 sagte Fritz Bauer in der Gesprächsrunde "Heute Abend Kellerklub" im Hessischen Rundfunk, die Angeklagten im ersten Prozess seien nur die "ausgewählten Sündenböcke", die "nach unserer Meinung die schlimmsten waren". Bauer wusste, dass eine umfassende Verfolgung aller NS-Verbrechen schon aufgrund der schieren Zahl nicht möglich war. Renz zitiert auch den früheren Verfassungsrichter Ernst Friesenhahn, der 1966 zu der Konzentration der Justiz auf die Exzesstäter sagte: "So bedenklich diese Praxis der Strafverfolgungsbehörden angesichts des Legalitätsprinzips und des Gleichheitssatzes erscheint, so ist sie doch unausweichlich, wenn die Strafverfolgungsbehörden die Arbeit überhaupt noch bewältigen sollen." Rund 8000 SS-Männer waren allein in Auschwitz tätig - ein Großteil von ihnen hatte an den Mordabläufen mitgewirkt. Und das "Problem Auschwitz", wie es Bauer formulierte, begann "nicht erst an den Toren von Auschwitz und Birkenau".
Überfordert sei nicht nur die Justiz gewesen, schreibt Renz, sondern auch die deutsche Gesellschaft, die eine Verfolgung Zigtausender in der Bundesrepublik gut integrierter NS-Verbrecher aus ihrer Mitte nicht zugelassen hätte. Und so nahm die Justiz die dogmatische Rechtfertigung, die das Urteil im ersten Auschwitz-Prozess mit seiner Fixierung auf die Einzeltaten geliefert hatte, dankbar an, aus der Wissenschaft kam kein Widerspruch. Erst Jahrzehnte später stellten die Gerichte mit ihren jüngsten Urteilen gegen die wenigen noch lebenden Greise der SS klar, dass sich fast jeder in Auschwitz strafbar gemacht hatte - aber das kam zu einer Zeit, in der es die Gesellschaft nichts mehr kostete.
ALEXANDER HANEKE
Werner Renz: Auschwitz vor Gericht. Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2018. 291 S., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die deutsche Justiz und ihre Schwierigkeiten bei der Verfolgung von KZ-Personal
Die Geschichte taugt zur Legende. 13 Jahre nach Kriegsende geht bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft die Anzeige eines mehrfach vorbestraften Häftlings aus der Landesstrafanstalt Bruchsal ein. Sie richtet sich gegen einen gewissen Wilhelm Boger, kaufmännischer Angestellter der Firma Heinkel Motorenwerke in Zuffenhausen. Boger soll als SS-Mann in dem der Öffentlichkeit bis dahin kaum bekannten Vernichtungslager Auschwitz gewesen sein und unzählige Menschen gefoltert und willkürlich getötet haben. Die Strafverfolger ermitteln nur zögerlich - bis der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der selbst während der NS-Zeit als Jude verfolgt worden war, knapp ein Jahr später von einem Journalisten ein Bündel Dokumente über Verbrechen in Auschwitz erhält, die ein Überlebender in den Nachkriegswirren als "Andenken" mitgenommen hatte. Bauer erwirkt beim Bundesgerichtshof den Beschluss, sämtliche Ermittlungen zum Lager Auschwitz in seiner Behörde zusammenzuziehen. Mit einer Handvoll junger, unbelasteter Staatsanwälte schafft er es, gegen alle Widerstände das Menschheitsverbrechen Auschwitz vor Gericht zu bringen: Der große Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965, mit dem die junge Bundesrepublik der Weltöffentlichkeit zeigen konnte, dass sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellt.
Die historische Dimension des Frankfurter Auschwitz-Prozesses steht außer Frage. Und doch hat die Legende in den vergangenen Jahren Risse bekommen, als mit den Verfahren gegen greise SS-Männer wie Oskar Gröning klar wurde, dass gerade in dem Urteil des Frankfurter Landgerichts auch ein Grund dafür liegt, weshalb so viele Verbrechen in den Vernichtungslagern ungesühnt blieben. "Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung" lautet der Untertitel eines Buches von Werner Renz, das den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess und seine fünf kleinen Folgeverfahren nachzeichnet und nach einer Antwort auf die Frage sucht, weshalb der Verfolgungseifer der Justiz so bald wieder erlahmte, bis Jahrzehnte später ein paar wenige, noch lebende alte Männer vor Gericht gezerrt wurden.
Mit einer beinahe lexikalischen Fülle an Details führt Renz, der bis 2016 das Archiv des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts leitete, auf den ersten hundert Seiten durch den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess, nennt den Inhalt der Anklage und erläutert dem Leser die rechtlichen Fragen, vor denen die Richter standen. Am folgenreichsten war die Entscheidung des Landgerichts, sich gegen Fritz Bauers Rechtsauffassung zu stellen, der das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz rechtlich als eine "einheitliche" Tat bewerten wollte. Die Richter gingen einen anderen Weg und "atomisierten" das Geschehen in unzählige Einzeltaten. Für eine Verurteilung der Täter genügte daher nicht deren schlichte Mitwirkung an der arbeitsteiligen Vernichtungsmaschinerie Auschwitz. Stattdessen mussten jedem einzelnen Angeklagten konkrete eigene Mordtaten nachgewiesen werden, was schon damals, 20 Jahre nach Befreiung des Lagers, in vielen Fällen nicht mehr gelang und die Verfolgung der Verbrechen in den folgenden Jahrzehnten fast unmöglich machte. Erst mit seinem Revisionsurteil gegen Oskar Gröning im Herbst 2016 räumte der Bundesgerichtshof mit dieser Rechtsauffassung auf.
Aber Renz belässt es nicht bei der Beschreibung dieses in den vergangenen Jahren oft zitierten Problems. Interessant wird sein Buch vor allem, wo es zu den Nachfolgeprozessen kommt und zur Rezeption der Urteile in der damaligen Zeit. In den Jahren bis 1981 gab es in Frankfurt fünf weitere, von der Öffentlichkeit kaum beachtete Auschwitz-Prozesse. Vor Gericht standen unter anderem die Angehörigen der Fahrbereitschaft der SS, die die Deportierten zu den Gaskammern brachten, Ärzte und deren Helfer, die Juden töteten, um deren Skelette für eine anatomische Sammlung zu gewinnen, oder einzelne SS-Männer wie Rudolf Sawatzki, der unter anderem dabei gewesen sein soll, als 400 Kinder in eine Verbrennungsgrube neben dem Krematorium IV gekippt wurden und darüber hinaus bei Selektionen mitwirkte. Die meisten Verfahren endeten mit Einstellungen oder Freisprüchen. Entweder wurden die Zeugenaussagen nach so langer Zeit nicht mehr als belastbar angesehen, oder das Urteil im ersten Auschwitz-Prozess wurde herangezogen, das mit seiner Milde "Maßstäbe" gesetzt habe, nach denen die Schuld der "Handlanger" als gering anzusehen sei.
Mit seinem Blick in die Debatten jener Jahre arbeitet Renz heraus, wie pragmatisch damals mit dieser Rechtspraxis umgegangen wurde, mit der die kleinen Täter davonkamen, obwohl sie bei nüchterner Anwendung des Rechts wegen Beihilfe zum vielfachen Mord hätten verurteilt werden müssen. Schon 1964 sagte Fritz Bauer in der Gesprächsrunde "Heute Abend Kellerklub" im Hessischen Rundfunk, die Angeklagten im ersten Prozess seien nur die "ausgewählten Sündenböcke", die "nach unserer Meinung die schlimmsten waren". Bauer wusste, dass eine umfassende Verfolgung aller NS-Verbrechen schon aufgrund der schieren Zahl nicht möglich war. Renz zitiert auch den früheren Verfassungsrichter Ernst Friesenhahn, der 1966 zu der Konzentration der Justiz auf die Exzesstäter sagte: "So bedenklich diese Praxis der Strafverfolgungsbehörden angesichts des Legalitätsprinzips und des Gleichheitssatzes erscheint, so ist sie doch unausweichlich, wenn die Strafverfolgungsbehörden die Arbeit überhaupt noch bewältigen sollen." Rund 8000 SS-Männer waren allein in Auschwitz tätig - ein Großteil von ihnen hatte an den Mordabläufen mitgewirkt. Und das "Problem Auschwitz", wie es Bauer formulierte, begann "nicht erst an den Toren von Auschwitz und Birkenau".
Überfordert sei nicht nur die Justiz gewesen, schreibt Renz, sondern auch die deutsche Gesellschaft, die eine Verfolgung Zigtausender in der Bundesrepublik gut integrierter NS-Verbrecher aus ihrer Mitte nicht zugelassen hätte. Und so nahm die Justiz die dogmatische Rechtfertigung, die das Urteil im ersten Auschwitz-Prozess mit seiner Fixierung auf die Einzeltaten geliefert hatte, dankbar an, aus der Wissenschaft kam kein Widerspruch. Erst Jahrzehnte später stellten die Gerichte mit ihren jüngsten Urteilen gegen die wenigen noch lebenden Greise der SS klar, dass sich fast jeder in Auschwitz strafbar gemacht hatte - aber das kam zu einer Zeit, in der es die Gesellschaft nichts mehr kostete.
ALEXANDER HANEKE
Werner Renz: Auschwitz vor Gericht. Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2018. 291 S., 25,- [Euro].
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