"Ich stellte mir vor, ich wäre der Hundesitter der Unterwelt, und Persephone hätte mich rufen lassen, damit ich den Zerberus spazieren führe. Wie sieht der dreiköpfige Wachhund des Hades aus? Wohin mit ihm Gassi gehen?" Mirko Bonné wählt die ganze Welt für seinen Spaziergang mit dem Höllenhund. Die Reise führt nach Südamerika und in die Antarktis, nach New York und Amsterdam, an die Orte seiner Kindheit und Familie, auf den Mond und zurück. Den drei Augenpaaren des Zerberus entgeht nichts: Detaillierte, poetische Reisebetrachtungen wechseln in diesen klugen und zugleich unterhaltsamen Beobachtungen ab mit Exkursionen in die Kunstgeschichte, Erinnerungen an Strandurlaube und Clubkonzerte mit Überlegungen zu Leben und Literatur. Unterwegs auf den Spuren von Trakl, Sebald, Camus und Whitman erzählt der Autor auch von der Entstehung seiner eigenen lyrischen Werke und Romane so geistreich wie leichthändig, so kritisch wie weltoffen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2010Die Fliege des Großonkels
Mirko Bonnés Essayband „Ausflug mit dem Zerberus”
Schon in seinem ersten Gedichtband, 1994 in einer Auflage von 250 Exemplaren in einem Hamburger Kleinverlag erschienen, ist es zu verfolgen. Mirko Bonné hat eine ganz bestimmte Poetologie im Kopf, eine Möglichkeit, das Wirkliche und seine fiktive Ausgestaltung nicht als Gegensatz wahrzunehmen, sondern als poetische Einheit. Jedes der damaligen 18 Gedichte, so schreibt Bonné heute, „widmet sich einem bestimmten Ort, Orten, an denen ich war, an denen ich gern gewesen wäre, Orten, an denen sich mein Großvater oder ein literarisches Vorbild aufhielt”.
Solche Orte bekommen sofort etwas Schlingerndes, eine Eigendynamik, und das hat der Autor 2009 in seinem schönen Roman „Wie wir verschwinden” genauso mitvollzogen wie in dem nun vorliegenden Essayband „Ausflug mit dem Zerberus”, von dem wir aber nicht wissen, ob es sich wirklich um einen Essayband handelt. Das Buch trägt mit Absicht keine Gattungsbezeichnung.
Dass Bonnés Orte ins Schlingern geraten, wird in einer literarischen Urszene beredt, auf die er immer wieder zurückkommt. Schon der Roman „Wie wir verschwinden” drehte sich darum: der Unfalltod von Albert Camus am 4. Januar 1960. Camus taucht auch jetzt in den verschiedensten Texten wieder auf, sie spielen in Amsterdam, in der Antarktis, auf Mallorca oder in New York. Seine Überlegungen zu den Möglichkeiten der Kunst werden öfter zitiert, und sie funktionieren auch als Übergang zu Bonnés Reflexionen über eigene Bücher und die eigene Geschichte. Ein Großonkel, der über Camus gearbeitet hat, changiert dabei am intensivsten zwischen den Eigenschaften einer Kunstfigur und einer Instanz biographischer Selbstvergewisserung.
Eine „Amsterdamer Epiphanie” beleuchtet solche Konstellationen auf modellhafte Weise. Der Großonkel agiert einerseits in den Kindheitserinnerungen der Ich-Figur, andererseits in einer Amsterdamer Spelunke, wo er einen holländischen Camus-Experten trifft und in eine filmisch anmutende Szenerie gerät. Wie in Woody Allens „Purple Rose of Cairo”, die einmal heraufbeschworen wird, treten die handelnden Personen von der Leinwand der Erinnerung in den Zuschauerraum und wieder zurück. Zudem verselbständigen sich literarische Figuren und Zitate: Die tote Fliege in Shakespeares „Titus Andronicus”, aus einer Lieblingsstelle des Großonkels, wird in dessen Leben real und anschließend in der Erzählung des Großneffen zur Kunst. So gibt der Text den Blick auf seine verschiedenen Ebenen frei und entzieht sich anschließend wieder.
Die Titelgeschichte geht ebenfalls von diesem Großonkel aus. Er hatte in seinem Arbeitszimmer das Bild eines großen, zähnefletschenden schwarzen Hundes mitten im Sprung hängen, der sich mit der Lektüre von Doyles „Hund der Baskervilles” verbindet und sich schließlich als philosophische Erkenntnis von Albert Camus erklärt, die für den Großonkel wie für den Erzähler existentielle Bedeutung gewinnt: „Das Tragische gehöre verworfen, nachdem man ihm ins Gesicht geblickt habe, nicht vorher, schreibt Albert Camus, der in diesem Auto starb, als es in dem kleinen Ort Villeblevin gegen einen Baum raste.”
Kunstvoll verknüpft Bonné dieses Motiv mit seinem eigenen Gedicht vom „Zerberus”, dem Höllenhund, dem er drei unterschiedliche Köpfe gibt und in New York ausführt: unaufdringlich, gleichsam organisch gehen die einzelnen Motive in diesem Text ineinander über und ergeben einen geheimnisvollen Assoziationsteppich.
Ausgangspunkt in diesem Buch sind oft tagebuchartige Notizen über Aufenthalte an besonderen Orten. Eine berühmte Fotografie mit dem Schatten des „Flatiron”-Gebäudes in Manhattan wird detailliert beschrieben und entwickelt sich langsam zu einer Folie für die moderne New-York-Erfahrung überhaupt. „Das Intangible, das so viele New Yorker an sich haben und von dem Coolness und Langeweile, Körperkult und Shoppingrausch nur Spielarten sind, scheint mir tiefer und weiter zu reichen”, notiert Bonné, nachdem er viele Einzelbeobachtungen und Wahrnehmungen festgehalten hat. Die Tiefe und Weite, um die es hier geht, wird detailliert umkreist – diese Texte betreiben eine Zeit- und Gesellschaftsdiagnostik, die die amerikanische Politik genauso umfassen kann wie zeitgenössische Architekturvorstellungen und Musikentwicklungen.
Der längste Text beschreibt eine Antarktis-Fahrt auf einem Kreuzfahrtschiff. Auch hier lockt der Text den Leser in mehrere Kinos gleichzeitig. Das Wasser in diesem Eiswinter kann unerwartet vielfältige Farben annehmen, so, „wie ich sie nur von sommerlichen Brombeerbüschen kenne. Es scheint schwarz, doch es ist tief dunkellila” – aber es zeigt auch sämtliche Spielarten von Türkis.
Doch daraus entsteht, etwa bei den Industrieruinen einer seit Jahrzehnten verlassenen alten Walfangstation, ein merkwürdiges Gemisch aus Orten und Zeiten. So gerät ein Wrack namens „Louise” in den Blick, das kaum noch die Konturen eines Schiffs hat, der Begleiter aber hat es „1995 noch nahezu intakt an der Pier liegen sehen”. Nicht von ungefähr liest der Erzähler auf dieser Reise unter anderem die „Mars-Chroniken” von Ray Bradbury, Vergangenheit und Zukunft tarnen sich und sind nicht exakt zu vermessen.
Das zeigt sich auch in einem Gedicht: es wurde in Buenos Aires begonnen, dem Ausgangspunkt der Reise, beschreibt einen verlorenen Nachmittag dort und taucht im Laufe des Textes rhythmisch wieder auf. Zunächst gibt es nur wenige Zeilen, im Fortlauf der Reise kommt es dann zu immer längeren, veränderten Fassungen, in denen einzelne Verse umgestellt oder gestrichen werden. Am Schluss der Antarktis-Prosa steht auch die Endfassung des Gedichts. Der Text stellt dadurch sein Verfertigtwerden immer wieder selbst aus und zeigt den Prozesscharakter der Phantasie.
Ab und zu gerät auch eine Amerikanerin ins Bild, die den Erzähler fasziniert – nur in wenigen Momenten taucht sie auf, als leitmotivische Sehnsucht auf der Antarktis-Reise, als nervöser Unter- und Hintergrund. Ihre Augen, stellt der Erzähler einmal fest, „sind gar nicht hellblau. Sie sind türkis, nur etwas heller als das Eiswasser in den Buchten”, aber dann fragt er sich unwillkürlich, „ob sie vielleicht gefärbte Kontaktlinsen trägt” und ist bei einer Stelle aus Bradburys Science-Fiction-Roman: „und manchmal, wenn sie hinauf zur Erde schaute, war in ihren Augen nur Farbe und nichts als Farbe”. Es bedarf einer spezifisch zeitgenössischen Artistik, solch flüchtige und doch zentrale Erfahrungen kunstvoll in der Schwebe zu halten. Bonnés Buch ist angenehm zeitlos und immer gegenwärtig.
„Ausflug mit dem Zerberus” beschreibt wie beiläufig die Verunsicherungen und Möglichkeiten literarischer Welten, so wie sie jeder in seinem Leben erfahren kann, wenn der Boden unter den eigenen Füßen sich unvermutet als doppelt oder gar dreifach erweist. Der Autor hält sich im Zweifelsfall an Camus, und das bietet auf paradoxe Weise Halt: für den Franzosen war die Kunst ebenfalls nicht eindeutig, „weder Ablehnung noch Zustimmung”, sondern „beides gleichzeitig, ein stets neues Hin-und Hergerissenwerden.” HELMUT BÖTTIGER
MIRKO BONNÉ: Ausflug mit dem Zerberus. Verlag Schöffling&Co., Frankfurt am Main 2010. 283 Seiten, 19,90 Euro.
„Das Tragische gehört verworfen, nachdem man ihm ins Gesicht geblickt hat, nicht vorher”
„Manchmal, wenn sie hinauf zur Erde schaute, war in ihren Augen nur Farbe und nichts als Farbe”
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Mirko Bonnés Essayband „Ausflug mit dem Zerberus”
Schon in seinem ersten Gedichtband, 1994 in einer Auflage von 250 Exemplaren in einem Hamburger Kleinverlag erschienen, ist es zu verfolgen. Mirko Bonné hat eine ganz bestimmte Poetologie im Kopf, eine Möglichkeit, das Wirkliche und seine fiktive Ausgestaltung nicht als Gegensatz wahrzunehmen, sondern als poetische Einheit. Jedes der damaligen 18 Gedichte, so schreibt Bonné heute, „widmet sich einem bestimmten Ort, Orten, an denen ich war, an denen ich gern gewesen wäre, Orten, an denen sich mein Großvater oder ein literarisches Vorbild aufhielt”.
Solche Orte bekommen sofort etwas Schlingerndes, eine Eigendynamik, und das hat der Autor 2009 in seinem schönen Roman „Wie wir verschwinden” genauso mitvollzogen wie in dem nun vorliegenden Essayband „Ausflug mit dem Zerberus”, von dem wir aber nicht wissen, ob es sich wirklich um einen Essayband handelt. Das Buch trägt mit Absicht keine Gattungsbezeichnung.
Dass Bonnés Orte ins Schlingern geraten, wird in einer literarischen Urszene beredt, auf die er immer wieder zurückkommt. Schon der Roman „Wie wir verschwinden” drehte sich darum: der Unfalltod von Albert Camus am 4. Januar 1960. Camus taucht auch jetzt in den verschiedensten Texten wieder auf, sie spielen in Amsterdam, in der Antarktis, auf Mallorca oder in New York. Seine Überlegungen zu den Möglichkeiten der Kunst werden öfter zitiert, und sie funktionieren auch als Übergang zu Bonnés Reflexionen über eigene Bücher und die eigene Geschichte. Ein Großonkel, der über Camus gearbeitet hat, changiert dabei am intensivsten zwischen den Eigenschaften einer Kunstfigur und einer Instanz biographischer Selbstvergewisserung.
Eine „Amsterdamer Epiphanie” beleuchtet solche Konstellationen auf modellhafte Weise. Der Großonkel agiert einerseits in den Kindheitserinnerungen der Ich-Figur, andererseits in einer Amsterdamer Spelunke, wo er einen holländischen Camus-Experten trifft und in eine filmisch anmutende Szenerie gerät. Wie in Woody Allens „Purple Rose of Cairo”, die einmal heraufbeschworen wird, treten die handelnden Personen von der Leinwand der Erinnerung in den Zuschauerraum und wieder zurück. Zudem verselbständigen sich literarische Figuren und Zitate: Die tote Fliege in Shakespeares „Titus Andronicus”, aus einer Lieblingsstelle des Großonkels, wird in dessen Leben real und anschließend in der Erzählung des Großneffen zur Kunst. So gibt der Text den Blick auf seine verschiedenen Ebenen frei und entzieht sich anschließend wieder.
Die Titelgeschichte geht ebenfalls von diesem Großonkel aus. Er hatte in seinem Arbeitszimmer das Bild eines großen, zähnefletschenden schwarzen Hundes mitten im Sprung hängen, der sich mit der Lektüre von Doyles „Hund der Baskervilles” verbindet und sich schließlich als philosophische Erkenntnis von Albert Camus erklärt, die für den Großonkel wie für den Erzähler existentielle Bedeutung gewinnt: „Das Tragische gehöre verworfen, nachdem man ihm ins Gesicht geblickt habe, nicht vorher, schreibt Albert Camus, der in diesem Auto starb, als es in dem kleinen Ort Villeblevin gegen einen Baum raste.”
Kunstvoll verknüpft Bonné dieses Motiv mit seinem eigenen Gedicht vom „Zerberus”, dem Höllenhund, dem er drei unterschiedliche Köpfe gibt und in New York ausführt: unaufdringlich, gleichsam organisch gehen die einzelnen Motive in diesem Text ineinander über und ergeben einen geheimnisvollen Assoziationsteppich.
Ausgangspunkt in diesem Buch sind oft tagebuchartige Notizen über Aufenthalte an besonderen Orten. Eine berühmte Fotografie mit dem Schatten des „Flatiron”-Gebäudes in Manhattan wird detailliert beschrieben und entwickelt sich langsam zu einer Folie für die moderne New-York-Erfahrung überhaupt. „Das Intangible, das so viele New Yorker an sich haben und von dem Coolness und Langeweile, Körperkult und Shoppingrausch nur Spielarten sind, scheint mir tiefer und weiter zu reichen”, notiert Bonné, nachdem er viele Einzelbeobachtungen und Wahrnehmungen festgehalten hat. Die Tiefe und Weite, um die es hier geht, wird detailliert umkreist – diese Texte betreiben eine Zeit- und Gesellschaftsdiagnostik, die die amerikanische Politik genauso umfassen kann wie zeitgenössische Architekturvorstellungen und Musikentwicklungen.
Der längste Text beschreibt eine Antarktis-Fahrt auf einem Kreuzfahrtschiff. Auch hier lockt der Text den Leser in mehrere Kinos gleichzeitig. Das Wasser in diesem Eiswinter kann unerwartet vielfältige Farben annehmen, so, „wie ich sie nur von sommerlichen Brombeerbüschen kenne. Es scheint schwarz, doch es ist tief dunkellila” – aber es zeigt auch sämtliche Spielarten von Türkis.
Doch daraus entsteht, etwa bei den Industrieruinen einer seit Jahrzehnten verlassenen alten Walfangstation, ein merkwürdiges Gemisch aus Orten und Zeiten. So gerät ein Wrack namens „Louise” in den Blick, das kaum noch die Konturen eines Schiffs hat, der Begleiter aber hat es „1995 noch nahezu intakt an der Pier liegen sehen”. Nicht von ungefähr liest der Erzähler auf dieser Reise unter anderem die „Mars-Chroniken” von Ray Bradbury, Vergangenheit und Zukunft tarnen sich und sind nicht exakt zu vermessen.
Das zeigt sich auch in einem Gedicht: es wurde in Buenos Aires begonnen, dem Ausgangspunkt der Reise, beschreibt einen verlorenen Nachmittag dort und taucht im Laufe des Textes rhythmisch wieder auf. Zunächst gibt es nur wenige Zeilen, im Fortlauf der Reise kommt es dann zu immer längeren, veränderten Fassungen, in denen einzelne Verse umgestellt oder gestrichen werden. Am Schluss der Antarktis-Prosa steht auch die Endfassung des Gedichts. Der Text stellt dadurch sein Verfertigtwerden immer wieder selbst aus und zeigt den Prozesscharakter der Phantasie.
Ab und zu gerät auch eine Amerikanerin ins Bild, die den Erzähler fasziniert – nur in wenigen Momenten taucht sie auf, als leitmotivische Sehnsucht auf der Antarktis-Reise, als nervöser Unter- und Hintergrund. Ihre Augen, stellt der Erzähler einmal fest, „sind gar nicht hellblau. Sie sind türkis, nur etwas heller als das Eiswasser in den Buchten”, aber dann fragt er sich unwillkürlich, „ob sie vielleicht gefärbte Kontaktlinsen trägt” und ist bei einer Stelle aus Bradburys Science-Fiction-Roman: „und manchmal, wenn sie hinauf zur Erde schaute, war in ihren Augen nur Farbe und nichts als Farbe”. Es bedarf einer spezifisch zeitgenössischen Artistik, solch flüchtige und doch zentrale Erfahrungen kunstvoll in der Schwebe zu halten. Bonnés Buch ist angenehm zeitlos und immer gegenwärtig.
„Ausflug mit dem Zerberus” beschreibt wie beiläufig die Verunsicherungen und Möglichkeiten literarischer Welten, so wie sie jeder in seinem Leben erfahren kann, wenn der Boden unter den eigenen Füßen sich unvermutet als doppelt oder gar dreifach erweist. Der Autor hält sich im Zweifelsfall an Camus, und das bietet auf paradoxe Weise Halt: für den Franzosen war die Kunst ebenfalls nicht eindeutig, „weder Ablehnung noch Zustimmung”, sondern „beides gleichzeitig, ein stets neues Hin-und Hergerissenwerden.” HELMUT BÖTTIGER
MIRKO BONNÉ: Ausflug mit dem Zerberus. Verlag Schöffling&Co., Frankfurt am Main 2010. 283 Seiten, 19,90 Euro.
„Das Tragische gehört verworfen, nachdem man ihm ins Gesicht geblickt hat, nicht vorher”
„Manchmal, wenn sie hinauf zur Erde schaute, war in ihren Augen nur Farbe und nichts als Farbe”
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2010Lesend leben lernen
Mirko Bonné sucht die Ursprünge der Dichtung
Es soll Leser geben, die sich nur auf das Phantasiereich eines literarischen Textes einlassen, darüber hinaus wollen sie nichts wissen vom Autor oder von der Genese eines Werks. Solche Leser stellte sich einmal eine Richtung der Literaturwissenschaft als die idealen vor. Die textimmanente Interpretation ist längst überholt. Ob ihre Anhänger in Reinform je existierten, ist fraglich. Gewiss aber gibt es solche Leser, zu denen auch der Schriftsteller Mirko Bonné zählt, die sich beflügeln lassen von literarischen Orten und Geschichten. In seinem neuen Buch folgt er den Spuren ihm am Herzen liegender Dichter wie John Keats und Walt Whitman. Und weil Bonné selbst Dichter ist, werden ihm die Ortsbegehungen wiederum zum Born eigener Lyrik. Dazu gesellen sich Reiseeindrücke, und es entsteht eine Mischgattung aus Reportage, lyrischem Ton und Erzählung, die ihresgleichen sucht.
Zuweilen könnte man die Texte auch für Poetikvorlesungen halten, haben sie doch in den letzten Jahren eine Sonderform ausgeprägt, die selbst wieder Erzählung ist, etwa bei Hugo Loetscher oder Monika Maron. Dem Leser Bonnés wird aber schnell klar, dass er hier etwas Eigenständiges vor sich hat. Der Eindruck schlägt gleich im ersten Text der Sammlung durch, der "Die Helianloggia" heißt. Selten hat man so die Verzauberung durch Lyrik nachempfunden wie in Bonnés Jugenderinnerung an eine Reise nach Mühlau am Inn - jenen Ort, an dem Trakls Gedicht "Helian" entstand. Der Reisende will herausfinden, was es bedeutet, "zu wandern / An den gelben Mauern des Sommers hin", und wo man solche Verse schreibt. Er trifft auf Gleichgesinnte, ein holländisches Paar: "So gingen wir vier Sommertage lang durch die Bilder und Aufzeichnungen von Trakls Tirol." Es entsteht ein Gespräch über den Zusammenhang von Physiognomie und Dichtung, der gerade beim Gedanken an die verstörenden Gesichtsausdrücke Trakls auf einigen Fotografien verführerisch scheint, womöglich aber doch in die Irre geht.
Wie lohnend es hingegen sein kann, hinter der Dichtung die sie hervorbringenden Menschen zu suchen, zeigen Bonnés assoziative Annäherungen immer wieder. Oft gelingen ihm dabei glänzende Beobachtungen und Aperçus, etwa wenn er in Keats nicht nur den großen Liebenden, sondern auch den großen Liegenden entdeckt, weil dieser einige seiner besten Gedichte, schwer von Tuberkulose gezeichnet, auf dem Sterbebett ersann.
Die Geschichten der Rezeption, die Bonné hier erzählt, sind untrennbar verbunden mit der Geschichte seiner eigenen Produktivität. Aus Leseerfahrung wird Lebenserfahrung, aus dichterischem Pilgertum neues Gedicht. Dazu gehört auch die Bereitschaft, laut "ich" zu sagen und an das eigene Werk zu glauben, wie Mirko Bonné es etwa in einem "unmöglichen Brief" an den verstorbenen Sänger Jeff Buckley tut. Auf Anhieb könnte dies für manche etwas anmaßend wirken. Bei Bonné aber ist dies durchaus angemessen.
JAN WIELE
Mirko Bonné: "Ausflug mit dem Zerberus". Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2010. 280 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mirko Bonné sucht die Ursprünge der Dichtung
Es soll Leser geben, die sich nur auf das Phantasiereich eines literarischen Textes einlassen, darüber hinaus wollen sie nichts wissen vom Autor oder von der Genese eines Werks. Solche Leser stellte sich einmal eine Richtung der Literaturwissenschaft als die idealen vor. Die textimmanente Interpretation ist längst überholt. Ob ihre Anhänger in Reinform je existierten, ist fraglich. Gewiss aber gibt es solche Leser, zu denen auch der Schriftsteller Mirko Bonné zählt, die sich beflügeln lassen von literarischen Orten und Geschichten. In seinem neuen Buch folgt er den Spuren ihm am Herzen liegender Dichter wie John Keats und Walt Whitman. Und weil Bonné selbst Dichter ist, werden ihm die Ortsbegehungen wiederum zum Born eigener Lyrik. Dazu gesellen sich Reiseeindrücke, und es entsteht eine Mischgattung aus Reportage, lyrischem Ton und Erzählung, die ihresgleichen sucht.
Zuweilen könnte man die Texte auch für Poetikvorlesungen halten, haben sie doch in den letzten Jahren eine Sonderform ausgeprägt, die selbst wieder Erzählung ist, etwa bei Hugo Loetscher oder Monika Maron. Dem Leser Bonnés wird aber schnell klar, dass er hier etwas Eigenständiges vor sich hat. Der Eindruck schlägt gleich im ersten Text der Sammlung durch, der "Die Helianloggia" heißt. Selten hat man so die Verzauberung durch Lyrik nachempfunden wie in Bonnés Jugenderinnerung an eine Reise nach Mühlau am Inn - jenen Ort, an dem Trakls Gedicht "Helian" entstand. Der Reisende will herausfinden, was es bedeutet, "zu wandern / An den gelben Mauern des Sommers hin", und wo man solche Verse schreibt. Er trifft auf Gleichgesinnte, ein holländisches Paar: "So gingen wir vier Sommertage lang durch die Bilder und Aufzeichnungen von Trakls Tirol." Es entsteht ein Gespräch über den Zusammenhang von Physiognomie und Dichtung, der gerade beim Gedanken an die verstörenden Gesichtsausdrücke Trakls auf einigen Fotografien verführerisch scheint, womöglich aber doch in die Irre geht.
Wie lohnend es hingegen sein kann, hinter der Dichtung die sie hervorbringenden Menschen zu suchen, zeigen Bonnés assoziative Annäherungen immer wieder. Oft gelingen ihm dabei glänzende Beobachtungen und Aperçus, etwa wenn er in Keats nicht nur den großen Liebenden, sondern auch den großen Liegenden entdeckt, weil dieser einige seiner besten Gedichte, schwer von Tuberkulose gezeichnet, auf dem Sterbebett ersann.
Die Geschichten der Rezeption, die Bonné hier erzählt, sind untrennbar verbunden mit der Geschichte seiner eigenen Produktivität. Aus Leseerfahrung wird Lebenserfahrung, aus dichterischem Pilgertum neues Gedicht. Dazu gehört auch die Bereitschaft, laut "ich" zu sagen und an das eigene Werk zu glauben, wie Mirko Bonné es etwa in einem "unmöglichen Brief" an den verstorbenen Sänger Jeff Buckley tut. Auf Anhieb könnte dies für manche etwas anmaßend wirken. Bei Bonné aber ist dies durchaus angemessen.
JAN WIELE
Mirko Bonné: "Ausflug mit dem Zerberus". Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2010. 280 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nein, das ist keine Anmaßung. Erklärt zumindest Jan Wiele, wenn er uns die assoziativen Annäherungen Mirko Bonnes an Dichter wie Georg Trakl oder John Keats oder Walt Whitman vorstellt. Im Gegenteil, gerade weil Bonne seine Rezeptionsgeschichten, etwa auf Trakls Spuren in Tirol, zum Ausgangspunkt für eigene Lyrik nimmt und so eine für Wiele einzigartige Mischgattung zwischen Reportage, Lyrik und Erzählung schafft, sieht der Rezensent Bonne im Recht. Nicht nur lässt sich die Verzauberung durch Lyrik laut Wiele so nachempfinden. Bonnes Beobachtungen findet er zum Teil einfach glänzend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Unaufdringlich, gleichsam organisch gehen die einzelnen Motive in diesem Text ineinander über und ergeben einen geheimnisvollen Assoziationsteppich.« Helmut Böttiger / Süddeutsche Zeitung