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Erregung statt Einsicht: Saskia Sassen vergeigt eine Kritik des Kapitalismus
Das Vermögen der weltweit reichsten Menschen ist trotz Finanzkrise in den vergangenen Jahren enorm gewachsen, während infolge von Sparpolitik und Krisenbewältigung Millionen Menschen ärmer geworden sind. Es ist in vielen Ländern schwerer geworden, mit normaler Arbeit den eigenen Wohlstand zu mehren oder auch nur seinen Lebensstandard zu halten. Und wer nicht schon wohlhabend ist, der ist ständig in Gefahr, sozial und finanziell abgehängt zu werden - oder sogar aus der zerstörten Umwelt seiner Heimat vertrieben zu werden, wenn er das Pech hat, in den globalen Extraktionszonen zu leben, in denen metallische oder agrarische Rohstoffe gewonnen werden.
Mit solchen wichtigen Umbrüchen beschäftigt sich das neue Buch der Soziologin Saskia Sassen von der Columbia-Universität. Der Kapitalismus, so Sassens Kernthese, verabschiede sich immer deutlicher von seinem ursprünglichen Versprechen, nicht nur wenigen, sondern breiten Bevölkerungsschichten Wohlstand und einen höheren Lebensstandard zu bringen. Stattdessen werde er gekapert von "räuberischen Formationen", die eine immer kleinere Zahl von Ultrareichen produzierten und eine immer größere Zahl von Menschen sozial ausgrenzten.
Ein wichtiges Thema - doch leider hat Sassen ein durch und durch unwichtiges Buch geschrieben. Die Darstellungen, wie Vermögen sich ungleich entwickelt haben, wie Landflächen den Gesetzen abstrakter Finanzprodukte unterworfen werden und wie Bergbau und andere dem schnellen Profit verpflichtete Aktivitäten die Umwelt zerstören, erschöpfen sich in einer lieblosen und gedanklich nur schwach verbundenen Aneinanderreihung von Statistiken und Fallbeispielen.
"Enttheoretisieren" nennt Sassen ihre Methode. Sie verspricht, durch einen Verzicht auf Kategorien globale Grundmuster von Prozessen der Ausgrenzung herauszuarbeiten. Dieser Versuch geht gründlich schief. Weder kann die Autorin vermitteln, was sie mit "Grenzen" und "ausgrenzen" überhaupt meint, noch überwindet sie die von ihr kritisierten Debattenkategorien wie "globaler Süden" oder "Umwelt". Im Buch entsteht keine Alternative zu diesen Kategorien, keine neue Sichtweise. Dafür wimmelt es nur so von klischeehaften Erregungsvokabeln wie "erbarmungslos" und "brutal", ohne dass diese mit Substanz erfüllt würden.
Überhaupt die Sprache. Alle paar Absätze bezeichnet Sassen etwas als "komplex" oder "kompliziert", aber es folgen keine Erklärungen, die ökonomische oder ökologische Prozesse verstehbarer machten. Alles bleibt verwirrend vage. Alle paar Absätze wird eine Formel wie "in meinen Augen" oder "in meiner Interpretation" eingestreut, ohne dass sich originelle oder auch nur persönliche Gedanken anschlössen. Das Buch wirkt wie ein schlechter Abklatsch des anregend-persönlichen Erzählstils, mit dem angelsächsische Wissenschaftler oftmals punkten können. Bei Sassen klingt es so: "Aus Sicht meiner Interpretation handelt es sich in Wirklichkeit um unterschiedliche, lokale Formen tiefer liegender, begrifflich unterirdischer Trends, die eingefahrene Abgrenzungen niederreißen."
Sassens These, dass die Probleme von heimatvertriebenen Migranten und von heimatvertriebenen Tierarten gemeinsame Wurzeln haben, ist interessant und wirft die Frage auf, wie Systemalternativen aussehen könnten. Antworten bietet Sassen aber nicht einmal ansatzweise an. Durch weitgehend fehlende Argumentation und hölzerne Sprache grenzt sie selbst eine wichtige Gruppe von Menschen aus - die Leser.
CHRISTIAN SCHWÄGERL
Saskia Sassen:
"Ausgrenzungen".
Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft.
Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 320 S., geb., 24,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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