Hyperinflation, Staatskrise, Hitler-Putsch: Ohnmächtig wankt die junge deutsche Republik im Jahr 1923 Richtung Abgrund. Der Einmarsch französischer Truppen ins Ruhrgebiet treibt Extremisten von Rechts und Links auf die Barrikaden, das Land steht vor Bürgerkrieg und Diktatur. Es ist eine „Tollhauszeit“ (Stefan Zweig), in der sich Krisengewinner dekadenten Vergnügungen hingeben, während die Bevölkerung ins Elend stürzt. Kenntnisreich und gestützt auf reichhaltige Quellen erzählt Zeithistoriker Peter Longerich die Chronologie eines Staatsversagens. Dabei seziert der Bestsellerautor nicht bloß Ursachen und Abläufe, sondern auch die Folgen: das bis heute anhaltende Inflationstrauma – und den Aufstieg des Nationalsozialismus.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zum Jahresauftakt stellt der Historiker Robert Gerwarth gleich drei Bücher vor, die sich mit Politik und Gesellschaft des Krisenjahrs 1923 in der deutschen Geschichte beschäftigen. Zu den einzelnen Büchern erfahren wir weniger als zu den Ereignissen dieses schicksalhaften Jahres, die von Hyperinflation über die Ruhrbesetzung bis zu Putschversuchen und dem Erstarken politischer Extreme reichen. Longerichs "Außer Kontrolle" lobt der Rezensent als historische Überblicksdarstellung, sein Historikerkollege attestiere dabei auch den folgenden Jahren bis 1929 eine "Stabilitätsillusion", die in der Machtübernahme der Nationalsozialisten gipfele. Zur Orientierung absolut empfehlenswert, konstatiert Gerwath.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2022Das Weimarer Doppelgesicht
Ruhrbesetzung, Hitler-Putsch, linke Umsturzpläne, nationalkonservative Attacken, Hyperinflation: Die Weimarer Republik überstand 1923 einige Gefahren. Fünf neue Bücher widmen sich diesem Jahr.
Dass Bonn nicht Weimar sei, gehörte zu den unumstößlichen Glaubenssätzen der jungen Bundesrepublik. Je länger sie bestand und an politischer Reife gewann, desto mehr verflüchtigte sich dieses Credo. Die zunehmend stabile und selbstbewusste zweite deutsche Demokratie benötigte nicht mehr den Abgleich mit der früheren gescheiterten Republik als Negativfolie. "Weimar" als mahnende Gegenwartsformel verlor kontinuierlich an Bedeutung, bis sich in einer Zeit neuer Krisen ab etwa 2008 eine Trendumkehr ankündigte. Seither ist das Interesse an ins Wanken geratenen Demokratien deutlich gewachsen und die Rede von "Weimarer Verhältnissen" wieder häufiger zu vernehmen.
Vor dem Hintergrund der nicht abreißenden Krisen unserer Gegenwart dürften Publikationen über das spannungsgeladene Jahr 1923 von besonderem Interesse sein. Eine Reihe von Darstellungen ist rechtzeitig zum Zentenarium erschienen. Den Auftakt machten der Band "Im Rausch des Aufruhrs", in dem der Journalist Christian Bommarius Szenen eines Jahres kaleidoskopartig sichtete (F.A.Z. vom 22. März), sowie die Betrachtungen des Dubliner Zeithistorikers Mark Jones über ein paradoxerweise zugleich traumatisches wie demokratiestärkendes Jahr für die Deutschen (F.A.Z. vom 25. Juni). Nun liegen fünf weitere Darstellungen vor, die mit dem Blick auf 1923 die komplizierte politische, gesellschaftliche und kulturelle Lage der Weimarer Republik zwischen früher Revolutionszeit und dem relativ stabilen Jahrfünft ab 1924 nachvollziehbar machen wollen.
Die Bücher fügen sich in den Trend, anhand eines besonders geschichtsträchtigen Jahres gleichsam eine gesamte Epoche einzufangen zu suchen. Wie lang die Mode dieser Jahresschriften noch anhalten wird, ist nicht ausgemacht; mit "1923" bekommt sie aber nochmals Auftrieb, der zumindest bis zum Jahrestag des Hitler-Putsches in München im November 2023 andauern dürfte.
Dieses wohl berühmteste Ereignis jenes Jahres, wie es sich am 8./9. November zutrug, lässt sich wie ein historisches Kammerspiel erzählen, das Komik mit Tragik verbindet. Selbst wenn es schwerfällt, es im Rückblick als Posse abzutun. Zeitgenössische Kommentatoren, ob in der "Frankfurter Zeitung" oder der "New York Times", prophezeiten damals nach dem missglückten Griff nach der Macht vorschnell ein Ende von Hitlers politischer Karriere.
Gerade aufgrund dieser Fehleinschätzungen ist es wichtig, an zeitgenössische Wahrnehmungswelten und Urteile zu erinnern. Zumal schon die Mitlebenden spürten, wie außergewöhnlich dieses Jahr war. Stefan Zweig sprach in seiner Autobiographie von einer "Tollhauszeit" und Sebastian Haffner in seiner "Geschichte eines Deutschen" regelrecht konsterniert von einem "unmöglichen Jahr". Der Herausforderungen und turbulenten Ereignisse, wie sie gleich im Januar 1923 einsetzten, waren in der Tat viele. Ruhrbesetzung und -kampf stehen am Anfang der Chronologie und sorgten für eine Welle nationaler Empörung und Geschlossenheit. Die militärisch ohnmächtige Reichsregierung rief die Bevölkerung (insbesondere Kohlearbeiter und Eisenbahner) zu "passivem Widerstand" auf. Um den Lohnausfall zu kompensieren, warf sie die Gelddruckmaschinen an und steigerte die damit verbundene, schon fast ein Jahrzehnt andauernde Entwertung des Papiergeldes bis hin zur Hyperinflation.
Diese Vorgänge nehmen in allen Darstellungen zu Recht großen Raum ein, weil sie die gesamte Bevölkerung betrafen und abgesehen von einigen "Inflationsgewinnlern" vor allem schwer Geschädigte hervorbrachten. Mit der Inflation ging ein schwerwiegender Vertrauensverlust einher, der den Deutschen fortan in den Knochen steckte. Die massive Verunsicherung, verbunden mit einem neu auflodernden Nationalismus, begünstigte im Herbst 1923 eine Reihe von Bestrebungen, die auf eine Rechtsdiktatur zielten. Daneben suchten die Kommunisten, von Sachsen und Thüringen ausgehend einen roten "Deutschen Oktober" in Gang zu setzen. Dass diese Umsturzpläne ebenso wie separatistische Unterfangen im Rheinland misslangen, lag an manch glücklicher Fügung, vor allem aber auch am entschlossenen Handeln republikanischer Politiker - an vorderster Stelle Reichskanzler Gustav Stresemann und Reichspräsident Friedrich Ebert.
Volker Ullrich notiert für den Hunderttagekanzler Stresemann eine positive Leistungsbilanz, die er in einer entschlossenen Verteidigung von Verfassungsordnung und Parlamentarismus, in der Eindämmung der Hyperinflation mit der Einführung der "Rentenmark" und vielversprechenden Lösungsversuchen des Reparationsproblems erkennt. Die anderen Autoren sehen das ähnlich. Am kritischsten beurteilt Peter Longerich Stresemanns Krisenmanagement, das - wie das Jahr 1923 insgesamt - von erheblichen Kontrollverlusten gekennzeichnet gewesen sei. Wenn die Weimarer Demokratie damals noch nicht an ihr Ende gelangte, lag das für ihn weniger an staatsmännischem Geschick als an der mangelnden Geschlossenheit zwischen rechtsextremistischem und nationalkonservativem Lager zu diesem Zeitpunkt.
Insgesamt prägen die fünf Darstellungen aber kaum kontroverse Sichtweisen. Dabei unterscheiden sie sich in der Anlage stark voneinander. Ullrich hat so solide wie souverän den neuesten Wissensstand zu 1923 eingefangen, und Vergleichbares trifft auf Longerichs Buch zu. Wer nach einer umfassenden, verständlichen, entlang der multiplen Krisenmomente sinnvoll gegliederten und gut lesbaren Gesamtdarstellung sucht, wird in beiden Fällen bestens bedient. Nicht nur klar strukturiert, sondern auch lebendig und anschaulich ist insbesondere Ullrichs Darstellung, weil in ihr wohldosiert die Stimmen aufmerksamer Zeitzeugen zu vernehmen sind. Die Liste seiner Kronzeugen reicht von Thomas Mann und Hedwig Pringsheim über Victor Klemperer und Thea Sternheim bis zu Harry Graf Kessler und Sebastian Haffner. Hinzu kommt die Auswertung vieler Zeitschriften und Zeitungen, wodurch unterschiedliche Sichtweisen zur Geltung kommen.
Abgerundet wird Ullrichs Buch durch ein Kapitel zur kulturellen Szenerie, mit dessen Hilfe der Autor nochmals den Charakter einer janusköpfigen Zeit hervorhebt: Fundamentaler Vertrauenslust und fulminante Vergnügungssucht erschienen wie zwei Seiten einer Medaille. Diese Doppelgesichtigkeit ist auch aus den Büchern von Jutta Hoffritz und Peter Süß herauszulesen. Eine Geschichtsdarstellung im klassischen Sinne bieten sie allerdings nicht, vielmehr so etwas wie die retrospektive Inszenierung eines außergewöhnlichen Jahres, das sie Monat für Monat abhandeln. Die Journalistin Hoffritz lässt Akteure wie die Nackttänzerin Anita Berber und den Großindustriellen Hugo Stinnes, die Bildhauerin Käthe Kollwitz oder den Notenbankchef Rudolf Havenstein neben vielen anderen wiederholt auftreten. Das Kurzatmige der Zeit spiegelt sich in kurzen Absätzen wider, die häufig nur aus ein oder zwei knappen Sätzen bestehen.
Peter Süß, im Hauptberuf Filmschaffender, lässt hingegen größere szenische Blöcke geschickt geschnitten aufeinanderfolgen. Das ist temporeich und fängt in impressionistischer Weise wechselnde Zeitstimmungen gut ein. Anstelle einer historischen Erzählung oder Analyse eröffnet er so etwas wie den Blick in ein multiperspektivisches Tagebuch. Das von Hoffritz und Süß gepflegte historische Präsens soll ganz nah an die Vergangenheit heranführen. So unmittelbar und unterhaltsam das wirkt, geschieht diese Fokussierung doch bisweilen auf Kosten eines differenzierten und distanzierten historischen Urteils.
Peter Reichel hingegen sucht aus der Vogelperspektive mehr Ordnung in die Vorgänge zu bringen. Sein Buch beansprucht keine Vollständigkeit und will Konturen des Jahres 1923 mittels dreier Schwerpunkte angemessen deutlich machen. Der historisch geschulte Politikwissenschaftler skizziert zunächst Gefahren von außen, bevor er sich jenen von innen zuwendet und anschließend republikanische Rettungsversuche würdigt. Ein Ausblick wirft Schlaglichter bis ins Jahr 1925, als die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten eine deutliche Zäsur markierte. Es gab Alternativen, mit deren Hilfe sich stärker an die republikanische Ebert-Periode hätte anknüpfen lassen können, das betont Reichel fast ein wenig verärgert über eine zu geringe politische Reife der Wähler.
In seiner politikgeschichtlichen Betrachtung schärft er die Aufmerksamkeit für solche Wegmarken, stellt kontingente Momente ebenso wie jene eines fehlgeleiteten politischen Handelns heraus. So klar er rechtsextreme und nationalkonservative Attacken auf die Republik geißelt, kritisiert Reichel das Agieren einer radikalen Linken gegen das parlamentarisch-demokratische Verfassungswerk von 1918/19 doch besonders scharf. In den Kommunisten erkennt er die eigentlichen "Gegenrevolutionäre", aber auch kompromisslos antibürgerliche Kräfte in der SPD oder linkssozialistische Intellektuelle, die den Wert der konstitutionellen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg gering schätzten, bekommen ihr Fett ab. Übertrieben wirkt Reichels Furor gegen Kurt Eisner, dem er gemeinsam mit weiteren Rätekämpfern die Verantwortung dafür zuschiebt, dass München erst zur rechtsradikalen "Ordnungszelle" werden konnte. Abgesehen von diesem übermäßig ausladenden Rekurs auf die bayerischen Verhältnisse 1919 hat Reichel eine lesenswerte Studie zur Staats- und Demokratiekrise der jungen Republik vorgelegt, die eine "Stunde der Hasardeure", aber auch der "integren Staatsmänner" erlebte.
Wie man es auch dreht und wendet, 1923 war kein eindeutiges Jahr. Momente der Demokratierettung und nationalen Rekonvaleszenz lassen sich ebenso konstatieren wie Ursprungsszenen eines mentalitätsgeschichtlich höchst gefährlichen Inflationstraumas und Vorboten der späteren Diktatur. Die Weimarer Republik erwies sich als erstaunlich resilient, ohne daraus dauerhafte Stabilität schöpfen zu können. Für Longerich litt die Weimarer Republik in den Folgejahren sogar unter einer gefährlichen "Stabilitätsillusion", da "strukturelle Grundprobleme" nur eingedämmt, aber nicht behoben worden seien. ALEXANDER GALLUS
Volker Ullrich: "Deutschland 1923". Das Jahr am Abgrund.
C.H. Beck Verlag, München 2022. 441 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Jutta Hoffritz: "Totentanz". 1923 und seine Folgen.
HarperCollins Verlag, Hamburg 2022. 336 S., geb., 23,- Euro.
Peter Süß: "1923". Endstation. Alles einsteigen!.
Berenberg Verlag, Berlin 2022. 368 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Peter Longerich: "Außer Kontrolle. Deutschland 1923.
Molden Verlag, Wien/Graz 2022. 320 S., geb., 33,- Euro.
Peter Reichel: "Rettung der Republik?". Deutschland im Krisenjahr 1923.
Hanser Verlag, München 2022. 288 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ruhrbesetzung, Hitler-Putsch, linke Umsturzpläne, nationalkonservative Attacken, Hyperinflation: Die Weimarer Republik überstand 1923 einige Gefahren. Fünf neue Bücher widmen sich diesem Jahr.
Dass Bonn nicht Weimar sei, gehörte zu den unumstößlichen Glaubenssätzen der jungen Bundesrepublik. Je länger sie bestand und an politischer Reife gewann, desto mehr verflüchtigte sich dieses Credo. Die zunehmend stabile und selbstbewusste zweite deutsche Demokratie benötigte nicht mehr den Abgleich mit der früheren gescheiterten Republik als Negativfolie. "Weimar" als mahnende Gegenwartsformel verlor kontinuierlich an Bedeutung, bis sich in einer Zeit neuer Krisen ab etwa 2008 eine Trendumkehr ankündigte. Seither ist das Interesse an ins Wanken geratenen Demokratien deutlich gewachsen und die Rede von "Weimarer Verhältnissen" wieder häufiger zu vernehmen.
Vor dem Hintergrund der nicht abreißenden Krisen unserer Gegenwart dürften Publikationen über das spannungsgeladene Jahr 1923 von besonderem Interesse sein. Eine Reihe von Darstellungen ist rechtzeitig zum Zentenarium erschienen. Den Auftakt machten der Band "Im Rausch des Aufruhrs", in dem der Journalist Christian Bommarius Szenen eines Jahres kaleidoskopartig sichtete (F.A.Z. vom 22. März), sowie die Betrachtungen des Dubliner Zeithistorikers Mark Jones über ein paradoxerweise zugleich traumatisches wie demokratiestärkendes Jahr für die Deutschen (F.A.Z. vom 25. Juni). Nun liegen fünf weitere Darstellungen vor, die mit dem Blick auf 1923 die komplizierte politische, gesellschaftliche und kulturelle Lage der Weimarer Republik zwischen früher Revolutionszeit und dem relativ stabilen Jahrfünft ab 1924 nachvollziehbar machen wollen.
Die Bücher fügen sich in den Trend, anhand eines besonders geschichtsträchtigen Jahres gleichsam eine gesamte Epoche einzufangen zu suchen. Wie lang die Mode dieser Jahresschriften noch anhalten wird, ist nicht ausgemacht; mit "1923" bekommt sie aber nochmals Auftrieb, der zumindest bis zum Jahrestag des Hitler-Putsches in München im November 2023 andauern dürfte.
Dieses wohl berühmteste Ereignis jenes Jahres, wie es sich am 8./9. November zutrug, lässt sich wie ein historisches Kammerspiel erzählen, das Komik mit Tragik verbindet. Selbst wenn es schwerfällt, es im Rückblick als Posse abzutun. Zeitgenössische Kommentatoren, ob in der "Frankfurter Zeitung" oder der "New York Times", prophezeiten damals nach dem missglückten Griff nach der Macht vorschnell ein Ende von Hitlers politischer Karriere.
Gerade aufgrund dieser Fehleinschätzungen ist es wichtig, an zeitgenössische Wahrnehmungswelten und Urteile zu erinnern. Zumal schon die Mitlebenden spürten, wie außergewöhnlich dieses Jahr war. Stefan Zweig sprach in seiner Autobiographie von einer "Tollhauszeit" und Sebastian Haffner in seiner "Geschichte eines Deutschen" regelrecht konsterniert von einem "unmöglichen Jahr". Der Herausforderungen und turbulenten Ereignisse, wie sie gleich im Januar 1923 einsetzten, waren in der Tat viele. Ruhrbesetzung und -kampf stehen am Anfang der Chronologie und sorgten für eine Welle nationaler Empörung und Geschlossenheit. Die militärisch ohnmächtige Reichsregierung rief die Bevölkerung (insbesondere Kohlearbeiter und Eisenbahner) zu "passivem Widerstand" auf. Um den Lohnausfall zu kompensieren, warf sie die Gelddruckmaschinen an und steigerte die damit verbundene, schon fast ein Jahrzehnt andauernde Entwertung des Papiergeldes bis hin zur Hyperinflation.
Diese Vorgänge nehmen in allen Darstellungen zu Recht großen Raum ein, weil sie die gesamte Bevölkerung betrafen und abgesehen von einigen "Inflationsgewinnlern" vor allem schwer Geschädigte hervorbrachten. Mit der Inflation ging ein schwerwiegender Vertrauensverlust einher, der den Deutschen fortan in den Knochen steckte. Die massive Verunsicherung, verbunden mit einem neu auflodernden Nationalismus, begünstigte im Herbst 1923 eine Reihe von Bestrebungen, die auf eine Rechtsdiktatur zielten. Daneben suchten die Kommunisten, von Sachsen und Thüringen ausgehend einen roten "Deutschen Oktober" in Gang zu setzen. Dass diese Umsturzpläne ebenso wie separatistische Unterfangen im Rheinland misslangen, lag an manch glücklicher Fügung, vor allem aber auch am entschlossenen Handeln republikanischer Politiker - an vorderster Stelle Reichskanzler Gustav Stresemann und Reichspräsident Friedrich Ebert.
Volker Ullrich notiert für den Hunderttagekanzler Stresemann eine positive Leistungsbilanz, die er in einer entschlossenen Verteidigung von Verfassungsordnung und Parlamentarismus, in der Eindämmung der Hyperinflation mit der Einführung der "Rentenmark" und vielversprechenden Lösungsversuchen des Reparationsproblems erkennt. Die anderen Autoren sehen das ähnlich. Am kritischsten beurteilt Peter Longerich Stresemanns Krisenmanagement, das - wie das Jahr 1923 insgesamt - von erheblichen Kontrollverlusten gekennzeichnet gewesen sei. Wenn die Weimarer Demokratie damals noch nicht an ihr Ende gelangte, lag das für ihn weniger an staatsmännischem Geschick als an der mangelnden Geschlossenheit zwischen rechtsextremistischem und nationalkonservativem Lager zu diesem Zeitpunkt.
Insgesamt prägen die fünf Darstellungen aber kaum kontroverse Sichtweisen. Dabei unterscheiden sie sich in der Anlage stark voneinander. Ullrich hat so solide wie souverän den neuesten Wissensstand zu 1923 eingefangen, und Vergleichbares trifft auf Longerichs Buch zu. Wer nach einer umfassenden, verständlichen, entlang der multiplen Krisenmomente sinnvoll gegliederten und gut lesbaren Gesamtdarstellung sucht, wird in beiden Fällen bestens bedient. Nicht nur klar strukturiert, sondern auch lebendig und anschaulich ist insbesondere Ullrichs Darstellung, weil in ihr wohldosiert die Stimmen aufmerksamer Zeitzeugen zu vernehmen sind. Die Liste seiner Kronzeugen reicht von Thomas Mann und Hedwig Pringsheim über Victor Klemperer und Thea Sternheim bis zu Harry Graf Kessler und Sebastian Haffner. Hinzu kommt die Auswertung vieler Zeitschriften und Zeitungen, wodurch unterschiedliche Sichtweisen zur Geltung kommen.
Abgerundet wird Ullrichs Buch durch ein Kapitel zur kulturellen Szenerie, mit dessen Hilfe der Autor nochmals den Charakter einer janusköpfigen Zeit hervorhebt: Fundamentaler Vertrauenslust und fulminante Vergnügungssucht erschienen wie zwei Seiten einer Medaille. Diese Doppelgesichtigkeit ist auch aus den Büchern von Jutta Hoffritz und Peter Süß herauszulesen. Eine Geschichtsdarstellung im klassischen Sinne bieten sie allerdings nicht, vielmehr so etwas wie die retrospektive Inszenierung eines außergewöhnlichen Jahres, das sie Monat für Monat abhandeln. Die Journalistin Hoffritz lässt Akteure wie die Nackttänzerin Anita Berber und den Großindustriellen Hugo Stinnes, die Bildhauerin Käthe Kollwitz oder den Notenbankchef Rudolf Havenstein neben vielen anderen wiederholt auftreten. Das Kurzatmige der Zeit spiegelt sich in kurzen Absätzen wider, die häufig nur aus ein oder zwei knappen Sätzen bestehen.
Peter Süß, im Hauptberuf Filmschaffender, lässt hingegen größere szenische Blöcke geschickt geschnitten aufeinanderfolgen. Das ist temporeich und fängt in impressionistischer Weise wechselnde Zeitstimmungen gut ein. Anstelle einer historischen Erzählung oder Analyse eröffnet er so etwas wie den Blick in ein multiperspektivisches Tagebuch. Das von Hoffritz und Süß gepflegte historische Präsens soll ganz nah an die Vergangenheit heranführen. So unmittelbar und unterhaltsam das wirkt, geschieht diese Fokussierung doch bisweilen auf Kosten eines differenzierten und distanzierten historischen Urteils.
Peter Reichel hingegen sucht aus der Vogelperspektive mehr Ordnung in die Vorgänge zu bringen. Sein Buch beansprucht keine Vollständigkeit und will Konturen des Jahres 1923 mittels dreier Schwerpunkte angemessen deutlich machen. Der historisch geschulte Politikwissenschaftler skizziert zunächst Gefahren von außen, bevor er sich jenen von innen zuwendet und anschließend republikanische Rettungsversuche würdigt. Ein Ausblick wirft Schlaglichter bis ins Jahr 1925, als die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten eine deutliche Zäsur markierte. Es gab Alternativen, mit deren Hilfe sich stärker an die republikanische Ebert-Periode hätte anknüpfen lassen können, das betont Reichel fast ein wenig verärgert über eine zu geringe politische Reife der Wähler.
In seiner politikgeschichtlichen Betrachtung schärft er die Aufmerksamkeit für solche Wegmarken, stellt kontingente Momente ebenso wie jene eines fehlgeleiteten politischen Handelns heraus. So klar er rechtsextreme und nationalkonservative Attacken auf die Republik geißelt, kritisiert Reichel das Agieren einer radikalen Linken gegen das parlamentarisch-demokratische Verfassungswerk von 1918/19 doch besonders scharf. In den Kommunisten erkennt er die eigentlichen "Gegenrevolutionäre", aber auch kompromisslos antibürgerliche Kräfte in der SPD oder linkssozialistische Intellektuelle, die den Wert der konstitutionellen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg gering schätzten, bekommen ihr Fett ab. Übertrieben wirkt Reichels Furor gegen Kurt Eisner, dem er gemeinsam mit weiteren Rätekämpfern die Verantwortung dafür zuschiebt, dass München erst zur rechtsradikalen "Ordnungszelle" werden konnte. Abgesehen von diesem übermäßig ausladenden Rekurs auf die bayerischen Verhältnisse 1919 hat Reichel eine lesenswerte Studie zur Staats- und Demokratiekrise der jungen Republik vorgelegt, die eine "Stunde der Hasardeure", aber auch der "integren Staatsmänner" erlebte.
Wie man es auch dreht und wendet, 1923 war kein eindeutiges Jahr. Momente der Demokratierettung und nationalen Rekonvaleszenz lassen sich ebenso konstatieren wie Ursprungsszenen eines mentalitätsgeschichtlich höchst gefährlichen Inflationstraumas und Vorboten der späteren Diktatur. Die Weimarer Republik erwies sich als erstaunlich resilient, ohne daraus dauerhafte Stabilität schöpfen zu können. Für Longerich litt die Weimarer Republik in den Folgejahren sogar unter einer gefährlichen "Stabilitätsillusion", da "strukturelle Grundprobleme" nur eingedämmt, aber nicht behoben worden seien. ALEXANDER GALLUS
Volker Ullrich: "Deutschland 1923". Das Jahr am Abgrund.
C.H. Beck Verlag, München 2022. 441 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Jutta Hoffritz: "Totentanz". 1923 und seine Folgen.
HarperCollins Verlag, Hamburg 2022. 336 S., geb., 23,- Euro.
Peter Süß: "1923". Endstation. Alles einsteigen!.
Berenberg Verlag, Berlin 2022. 368 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Peter Longerich: "Außer Kontrolle. Deutschland 1923.
Molden Verlag, Wien/Graz 2022. 320 S., geb., 33,- Euro.
Peter Reichel: "Rettung der Republik?". Deutschland im Krisenjahr 1923.
Hanser Verlag, München 2022. 288 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.01.2023Taumelnde
Staatsmacht
Bücher über das Krisenjahr 1923 boomen.
Alle erzählen die gleichen Fakten, doch diese
werden erstaunlich unterschiedlich bewertet
VON ROBERT PROBST
Weshalb vergeude ich kümmerliche Worte darum, um denen diesen Winter begreiflich zu machen, die ihn nicht miterlebt haben? Es sind und bleiben Worte nur und doch umspannen sie den ganzen tragischen Zusammenbruch unausgeträumter Hoffnungen ungezählter, namenloser Helden und Märtyrer. Die Nachwelt wird wenig verständnisvoll dieser Zeit gegenüberstehen.“ So schrieb der heute vergessene Schriftsteller Herbert Brandt 1930 im Rückblick auf das Jahr 1923. Wie steht nun die Nachwelt 100 Jahre später zu diesen Ereignissen? Guckt sie nur „Babylon Berlin“, Hitler-Dokus oder greift sie in den Buchhandlungen in die hohen Stapel der 1923-Sachbücher?
Also was steht nun eigentlich drin in diesen zahlreichen Werken? Nach der Lektüre von Hunderten Seiten kann festgehalten werden: Die Bewertung der lange bekannten, dramatischen Ereignisse fällt dann doch erstaunlich uneinheitlich aus. Neun Bücher liegen dieser Analyse zugrunde, vollständig ist die Liste aber nicht. Das erste 1923-Werk erschien im vorigen März, das vorerst letzte vor wenigen Tagen.
Nacherzählung vs. Thesenstärke
Das Jahr 1923 erzählt sich quasi von selbst. Es braucht keine ordnende Hand, weil es vom Beginn der Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien (Januar) bis zum Scheitern des Hitlerputsches (November) und der Einführung der Rentenmark eine ständige Steigerung von Krisen hervorbrachte, die alle miteinander verbunden waren: passiver Widerstand, wankende Koalitionen, mehrere Regierungswechsel, Extremismus von rechts und links, Separatismus-Bestrebungen und dazu Not, Elend und Hyperinflation. Die Folge: Spaltung, Hysterie, Bürgerkriegsgefahr. Und darum sind fast alle Gesamtdarstellungen mehr oder weniger ein breit fließender Strom von Ereignissen und Deutungen der Zeitgenossen. Die meisten sind sogar chronologisch geordnet (Mark Jones, Ralf Georg Reuth, Christian Bommarius, Jutta Hoffritz). Nur Peter Longerich und Volker Ullrich wählen bewusst einen anderen Ansatz und arbeiten mehrere Komplexe im Zusammenhang ab. Die Gefahr, die beide Ansätze in sich tragen: Weil alle akribisch recherchiert haben, wird alles aufgeschrieben – nicht selten wird der Erzählstrom dann aber allzu breit und zähflüssig.
Viel Neues erfährt man insgesamt nicht, die Quellen und Fakten sind ja bestens erforscht, die komplexe Vorgeschichte seit der Revolution von 1918 wird oft nur skizziert, wenn überhaupt – aber schöner erzählt wurde nie vom Krisenjahr. Nur ein Beispiel: „Die Deutschen schwimmen im Geld und drohen darin zu ertrinken.“ (Bommarius)
Eine steile neue These gab es aber doch, der irische Historiker Jones hat sie vorgebracht, demnach war „Deutschland das ganze Jahr über Opfer der französischen Aggressionen“. Und zwar vor allem die Demokraten und Republikaner seien vom französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré gezwungen worden, ihren Abwehrkampf gegen rechts „mit einer auf den Rücken gefesselten Hand“ zu führen. Schon die SZ-Rezensentin Stefanie Middendorf hat dieses Entlastungsnarrativ im Sommer deutlich zurückgewiesen. Im aktuellen Sammelband (Hanning/Mares) urteilt der Marburger Historiker Eckart Conze: Zwar nehme der „Opferbegriff eine zeitgenössische Selbstwahrnehmung vieler Deutscher auf, aber es bleibt fraglich, ob Kategorien wie ‚Opfer‘ – und damit zwangsläufig auch ‚Täter‘ – der Komplexität der politischen Entwicklung der 1920er-Jahre gerecht werden“. Ebenso wäre zu fragen „ob nicht die Moralisierung, die sich mit diesen Begriffen verbindet, eine differenzierte historische Urteilsbildung erschwert, wenn nicht verhindert“. Eine ähnlich wilde Debatte wie nach Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“, das in Teilen auch als Entlastung der Deutschen beim Beginn des Ersten Weltkriegs gedeutet wurde, blieb aber bisher aus.
Hugo Stinnes vs. Moskau
Wer waren nun eigentlich die „Bösen“ in diesem 1923-Spektakel? Wie Jones hat auch Reuth nicht viel übrig für den „Deutschlandhasser“ Poincaré und die „unerbittliche Härte des Élysées“ (ganz Frankreich scheint bei allen Autoren übrigens nur aus Poincaré und ein paar Offizieren zu bestehen). Eher am Rande erwähnt Reuth aber auch, dass „das Schicksal des besetzten Gebiets zu einem Gutteil in den Händen von ausschließlich profitorientierten Industriellen liegt, denen die Nation letztendlich gleichgültig ist“.
Sehr viel expliziter benennt Longerich den Ruhrbaron und Inflationshauptgewinnler Hugo Stinnes als sinistren Strippenzieher der Reichspolitik. Als DVP-Abgeordneter hatte er direkten Zugang zu den Machtzentren in Berlin und strickte kräftig an seiner „eigenen Agenda“, die da lautete: noch mehr Geld verdienen, die sozialpolitischen Errungenschaften (Achtstundentag) zurückdrehen und in der Hochphase der Krise sich für einen Staatsstreich zugunsten eines stramm rechtskonservativen diktatorisch regierenden „Direktoriums“ einsetzen. Mit in diesem Stinnes-Boot saß laut Longerich auch der Chef der Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, der für einen rechtswidrigen politischen Systemwechsel bereit gewesen sei. Nur einen Putsch lehnte Seeckt strikt ab. Und so kam es, dass Hitlers Putsch am 8./9. November „auch alle übrigen Staatsstreich- und Diktaturpläne“ delegitimierte. Hitler, der Reichswehr und Polizei nicht hinter sich brachte, hat also – überspitzt gesagt – 1923 die Republik gerettet, indem er die deutlich aussichtsreicheren Rechtsdiktatur-Pläne in Berlin durchkreuzte.
In die entgegengesetzte Richtung deutet hingegen Reuth, indem er die „zumeist einseitige Fixierung auf die Bedrohung der Republik von rechts“ kritisiert und die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes in Mitteldeutschland (Stichwort: Deutscher Oktober) in grellen Farben ausmalt. Dass in Moskau viele Vorgänge in Deutschland völlig falsch eingeschätzt wurden und dass die Arbeiterschaft in Sachsen und Thüringen nicht zur Revolution bereit war, mindert für Reuth nicht die Existenz eines solchen „großen linken Umsturzherdes“.
„Glanztat“ vs. Zufallssieg
Und wer waren die „Guten“? Hier besteht mehr Einigkeit. Für Ullrich war der 103-Tage-Kanzler Gustav Stresemann ein „entschlossener Verteidiger der verfassungsmäßigen Ordnung“. Der DVP-Politiker bewahrte Deutschland 1923 vor „Zusammenbruch und Chaos“, schreibt Reuth, auch wegen seines „beherzten Vorgehens gegen Sozialisten und Kommunisten“. Eine Handvoll Demokraten hätten eine „politische Glanztat“ vollbracht. Und die Reichswehr stand „treu zur Republik“.
Am weitesten geht auch hier Mark Jones. Er hält den „Sieg der Demokraten am Ende des Jahres 1923“ für deren größten Erfolg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bedeutender als die Republikgründung 1918. Den Deutschen empfiehlt er 2023 sogar eine „Feier ohne Trauma oder Furcht, ohne chauvinistisches Getöse“.
Longerich hält dem Kanzler allerdings nur den Abbruch des Ruhrkampfs und die Stabilisierung der Währung zugute. Von einer „erfolgreichen Bewältigung“ der Krise durch eine fähige Regierung will er explizit nicht sprechen. Dass die „totale Eskalation der Krise nicht stattfand“, also die Errichtung einer Rechtsdiktatur, rechnet er nicht dem Krisenmanagement der Regierung zu, sondern der gegenseitigen Blockade von rechtskonservativen und rechtsextremen Kräften. (Zum Hitlerputsch werden in Kürze auch neue Bücher erscheinen.)
Merkwürdigerweise nur am Rande taucht in all den Werken Reichspräsident Friedrich Ebert auf. Dabei war der SPD-Politiker der entscheidende Mann, der fester als die meisten anderen auf demokratischem Boden stand. Er nutzte den kompletten Besteckkasten der Reichsverfassung (Ermächtigungsgesetz, Notverordnungen, Ausnahmezustand, Presse- und Parteienverbot, Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Reichswehr, Reichsexekutionen), um die Republik zu retten. Sein Nachfolger Paul von Hindenburg tat das nach 1930 auch – aber um die Republik zu zerstören, gemeinsam mit den Rechtskonservativen und den Hitler-Leuten.
Beruhigung vs. „Stabilitätsillusion“
Geriet die Republik also Anfang 1924 in ruhigeres Fahrwasser? Reuth („Die Zeit der Extremisten war in Deutschland vorüber“) und Jones („Am Ende des Krisenjahres standen die deutschen Demokraten aufrecht“) bejahen das; Ullrich attestiert der Republik zwar eine „erstaunliche Überlebensfähigkeit“, bleibt gleichzeitig aber sehr skeptisch („Das scheinbar beruhigende Bild einer gefestigten Demokratie zeigte ... Risse“), der ökonomische Aufschwung sei nicht nachhaltig gewesen.
Gänzlich düster ist der Ausblick bei Longerich. „Die allgemeine Erleichterung, die nach der Krise mit der scheinbaren Rückkehr zur Normalität einkehrt, lenkt von dem Weiterexistieren der eigentlichen Krisenursachen ab“, schreibt er und nennt etwa die Abkehr breiter Schichten von den Parteien, die Spaltung der Gesellschaft infolge der Inflation, das Anwachsen linker und rechter Extremisten und die weiterhin starke Ablehnung des Vertrags von Versailles. Longerich spricht in dem Zusammenhang von „Stabilitätsillusion“. Womöglich ist das der Begriff, den man sich am Ende einprägen sollte.
Kaffeehaus und Kater
Den 1923-Wettbewerb eröffnete ein erfahrener Kenner der Jahresbücher. Der Publizist Christian Bommarius hatte zuvor schon das Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 ziseliert. Flott erzählt und fein montiert lässt der Autor für das Katastrophenjahr ein Großaufgebot damals berühmter Menschen aufmarschieren und ihre Gefühle, Eindrücke und Ängste ausbreiten. Es geht vor allem ums Berliner Kulturleben, der Politikbetrieb der Hauptstadt wird nur gestreift. Eine Gesamtdarstellung gibt es also nicht, dafür umso intensiver die Rückwirkungen der Krise auf die – zumeist privilegierten – Menschen. Wirtschaftsbosse, Antisemiten und Extremisten aller Art treten auch auf. Ein Meisterstück der archivalischen Collagen-Reportage. Schönes Extra: Was mit den Protagonisten weiter geschah.
Christian Bommarius: Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, dtv, München 2022. 353 Seiten, 14 Euro (TB).
Berlin Mitte
Konsequent von der Chronologie löst sich der Historiker und Publizist Volker Ullrich. Er versucht recht überzeugend, „das verwickelte Knäuel der Krisenphänomene zu entwirren und die Fäden unter thematischen Gesichtspunkten neu zu ordnen“. Die Darstellung konzentriert sich – mit Ausnahme eines recht überschaubaren Kulturkapitels – vollends auf die Reichspolitik. Die Protagonisten sind also vor allem Politiker, Generäle, Industrielle und zahllose Extremisten (Hitler et al.) Im Vordergrund stehen die Akten aus der Reichskanzlei. Dennoch lässt Ullrich mächtige Zitatpassagen aus Zeitungen, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen auf die Leser einprasseln. Auffällig ist die sehr positive Zeichnung von Kanzler Gustav Stresemann. Eine sehr gut geschriebene Gesamtdarstellung, allerdings zurückhaltend im Urteil.
Volker Ullrich; Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund. C.H. Beck, München 2022. 441 Seiten, 28 Euro.
Rechte Gefahr
Die mit Abstand beste Gesamtdarstellung, analytisch scharf und erhellend. Der Historiker Peter Longerich schaut auf die Ereignis- und Strukturgeschichte und schafft es ganz gut, das „komplexe Ereignisbündel“ zu entwirren. Der Chronologie entkommt er aber auch nicht. Sieht die Gefahr für die Republik vor allem von rechts und erklärt schlüssig, wie Hitlers rechtsextremer Putschismus die rechtskonservativen Staatsstreichpläne (Stichwort: Direktorium) durchkreuzte. Hat als Einziger sehr hilfreiches Kartenmaterial. Und hat den originellsten Ansatz zum Hitlerputsch: 2,5 Seiten genügen („Die weiteren Ereignisse sind oft dargestellt worden.“) Longerich kommt zu einem sehr düsteren Schluss: Kein einziges strukturelles Problem war Ende 1923 behoben, die neue Normalität war nur „Schein“. Und: bestes Coverbild.
Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923. Molden, Wien 2022. 318 Seiten, 33 Euro.
Babylon Berlin
Eigentlich auch kein politisches Buch, aber dennoch unentbehrlich zum Verständnis der Zeit. Der Publizist Armin Fuhrer hat sich die „Lebenswirklichkeit“ der Berliner im Krisenjahr vorgenommen und sehr viele bunte, düstere und erschreckende Details über das erst 1920 entstandene Groß-Berlin mit seinen 3,8 Millionen Einwohnern zusammengetragen: über die bittere Not derer, die unter der Hyperinflation litten; über die Geschäfte der „Raffkes“ oder Schieber. Fuhrer klärt auf über neue Moden, neue Freiheiten und wie die zunehmende Perspektivlosigkeit die Menschen dazu trieb, einfach nur leben zu wollen, wild und exzessiv. Es geht ausführlich um Sex und Crime, um Prostitution und Drogenrausch. Um „Tanzwut“, „Spielwut“ und nicht zuletzt um die „Nacktkultur“. Es zeigt die Realität der Geld- und Werte-Entwertung. Ganz nah dran am „Sündenbabel“.
Armin Fuhrer: Hunger & Ekstase. Berlin 1922/23. Elsengold, Berlin 2022. 240 Seiten, 26 Euro.
Roher Reigen
Hugo Stinnes isst ein Stück Rinderbrust. Und das Volk muss in Suppenküchen verköstigt werden, damit es nicht verhungert. Die Zeit-Journalistin Jutta Hoffritz hat ihr 1923-Buch auf ungewöhnliche Weise verfasst, im Stakkato-Stil (nach ein, zwei Sätzen gleich ein Absatz) und im schnellen Wechsel zwischen etwa zehn Hauptprotagonisten, unter ihnen der Ruhrbaron Stinnes, Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein, Kurt Tucholsky, der rheinische Separatist Hans Adam Dorten oder Käthe Kollwitz. Simuliert werden soll so wahrscheinlich eine Art „Totentanz“. Funktioniert aber nur mäßig. Stinnes problematische Rolle wird kaum ausgeleuchtet, er kommt als guter Geschäftsmann weg; Havenstein bleibt seltsam blass. Anita Berber kommt auch vor und ein paar Kommunisten. Kein roter Faden auf dem glatten Tanzboden! Stattdessen viel Weißraum.
Jutta Hoffritz: Totentanz. 1923 und seine Folgen. HarperCollins, Hamburg 2022. 334 Seiten, 23 Euro.
Weiter Winkel
Schon mal gehört? Vertrag von Lausanne. Das große Erdbeben von Kantō. Ägyptomanie. Ja, auch das ist alles im Jahr 1923 passiert. Aber halt nicht in Deutschland. Ein Aufsatzband weitet endlich mal die Perspektive und zeigt auf, wie das Krisenjahr „die Welt erschütterte“. Zwar ist bei deutschen Themen die Stimmung oft eher düster, Ruhrbesetzung, Hitlerputsch, rassistische Karikaturen .... Vor allem aber erklären die Autoren, dass nicht alles an dem Jahr katastrophal krisenhaft war, sondern dass es auch Aufbrüche gab oder Erfreuliches wie etwa die Entdeckung des Tutanchamun-Grabes. Alles, was nicht im Deutschen Reich spielt, hilft, den selbstbespiegelnden Blick zu schärfen, etwa beim Thema Bevölkerungsaustausch zwischen der neu gegründeten Türkei und Griechenland. Anregende Abwechslung.
Nicolai Hannig, Detlev Mares (Hg.): Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte. wbg, Darmstadt 2022, 240 Seiten, 40 Euro.
Blut und Eisen
Die einzige Analyse aus dem Ausland über das Deutsche Reich. Der in Dublin lehrende Mark Jones hatte schon mit einem Buch über die Revolution 1918/19 einiges Aufsehen erregt. Vor allem die detaillierte Schilderung von Gewaltszenen hatte man bisher so nicht gelesen, die „Schuld“ an den Exzessen lud der irische Historiker bei der damals regierenden SPD ab – was nicht jedem Fachkollegen gefiel. Auch in „1923“ rumst es gewaltig. Jedes Kapitel (chronologisch geordnet) beginnt mit einer Gewaltszene. Der ganz große Schuldige ist diesmal der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré. Brisante Details auch über die Untaten der französischen Besatzungssoldaten im besetzten Ruhrgebiet. Die kommunistische Gefahr wird eher vernachlässigt. Flott geschrieben. Am Schluss ein Hoch auf die deutsche Demokratie! Gefällt auch nicht jedem.
Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Propyläen, Berlin 2022. 384 Seiten, 26 Euro.
Rotfront Sachsen
Eine der wenigen aktuellen Regionalstudien. Der Historiker Karl Heinrich Pohl ruft in Erinnerung, dass damals Mitteldeutschland von Sachsen bis Braunschweig als „rote Bastion“ wahrgenommen wurde. Stark organisierte Industriearbeiter, sehr starke SPD, viele Kommunisten. Pohls steile (nicht neue) These: Die längerfristige Zusammenarbeit von SPD und KPD in Sachsen hätte die Republik nicht destabilisiert, sondern vielmehr im Sinne einer Transformation in eine soziale Demokratie weiterentwickeln können. Viele interessante Details über linke Schul- und Polizeipolitik. Aber am Ende keine klare Haltung, ob die „sprunghafte“ KPD nicht nur zum Schein in die Regierung eintrat – um von dort aus die Revolution im Sinne Moskaus zu starten. Dennoch erfrischender Perspektivwechsel, wenn auch nur als Gedankenexperiment.
Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022. 307 Seiten, 45 Euro.
Linke Gefahr
Eine weitere Gesamtdarstellung des Schicksalsjahrs hat gerade Ralf Georg Reuth vorgelegt. Der Publizist und Historiker ist es gewohnt, eine große Stoffmenge zu verarbeiten („Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs“). Und das beweist er auch hier – kein anderes Werk bietet wohl auf dem vorhandenen Platz mehr Details und Einzelheiten. Mögliches Motto: alles erzählen, Analyse ergibt sich von selbst. Die extreme Verdichtung hilft nicht immer bei der Lektüre, aber Reuth wirft einen viel intensiveren Blick auf die Politik der Friedensmächte von Versailles als die anderen – ein echter Pluspunkt. Vor allem aber lenkt er seine Aufmerksamkeit nach Moskau, wo aus seiner Sicht eine kommunistische Umsturzpolitik geschmiedet wurde, die den rechten Umtrieben im Deutschen Reich in nichts nachstand. Sein Fazit: Alle Umstürzler von rechts und links scheiterten an Stresemann.
Ralf Georg Reuth: 1923. Kampf um die Republik. Piper, München 2023. 364 Seiten, 24 Euro.
„Wir tanzen auf einem Vulkan und wir stehen vor einer Revolution, wenn wir nicht durch eine ebenso entschlossene wie kluge Politik die Gegensätze versöhnen können“, sagte Reichskanzler Gustav Stresemann im Sommer 1923. Im Bild eine Demonstration von Arbeitslosen in Berlin.
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Staatsmacht
Bücher über das Krisenjahr 1923 boomen.
Alle erzählen die gleichen Fakten, doch diese
werden erstaunlich unterschiedlich bewertet
VON ROBERT PROBST
Weshalb vergeude ich kümmerliche Worte darum, um denen diesen Winter begreiflich zu machen, die ihn nicht miterlebt haben? Es sind und bleiben Worte nur und doch umspannen sie den ganzen tragischen Zusammenbruch unausgeträumter Hoffnungen ungezählter, namenloser Helden und Märtyrer. Die Nachwelt wird wenig verständnisvoll dieser Zeit gegenüberstehen.“ So schrieb der heute vergessene Schriftsteller Herbert Brandt 1930 im Rückblick auf das Jahr 1923. Wie steht nun die Nachwelt 100 Jahre später zu diesen Ereignissen? Guckt sie nur „Babylon Berlin“, Hitler-Dokus oder greift sie in den Buchhandlungen in die hohen Stapel der 1923-Sachbücher?
Also was steht nun eigentlich drin in diesen zahlreichen Werken? Nach der Lektüre von Hunderten Seiten kann festgehalten werden: Die Bewertung der lange bekannten, dramatischen Ereignisse fällt dann doch erstaunlich uneinheitlich aus. Neun Bücher liegen dieser Analyse zugrunde, vollständig ist die Liste aber nicht. Das erste 1923-Werk erschien im vorigen März, das vorerst letzte vor wenigen Tagen.
Nacherzählung vs. Thesenstärke
Das Jahr 1923 erzählt sich quasi von selbst. Es braucht keine ordnende Hand, weil es vom Beginn der Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien (Januar) bis zum Scheitern des Hitlerputsches (November) und der Einführung der Rentenmark eine ständige Steigerung von Krisen hervorbrachte, die alle miteinander verbunden waren: passiver Widerstand, wankende Koalitionen, mehrere Regierungswechsel, Extremismus von rechts und links, Separatismus-Bestrebungen und dazu Not, Elend und Hyperinflation. Die Folge: Spaltung, Hysterie, Bürgerkriegsgefahr. Und darum sind fast alle Gesamtdarstellungen mehr oder weniger ein breit fließender Strom von Ereignissen und Deutungen der Zeitgenossen. Die meisten sind sogar chronologisch geordnet (Mark Jones, Ralf Georg Reuth, Christian Bommarius, Jutta Hoffritz). Nur Peter Longerich und Volker Ullrich wählen bewusst einen anderen Ansatz und arbeiten mehrere Komplexe im Zusammenhang ab. Die Gefahr, die beide Ansätze in sich tragen: Weil alle akribisch recherchiert haben, wird alles aufgeschrieben – nicht selten wird der Erzählstrom dann aber allzu breit und zähflüssig.
Viel Neues erfährt man insgesamt nicht, die Quellen und Fakten sind ja bestens erforscht, die komplexe Vorgeschichte seit der Revolution von 1918 wird oft nur skizziert, wenn überhaupt – aber schöner erzählt wurde nie vom Krisenjahr. Nur ein Beispiel: „Die Deutschen schwimmen im Geld und drohen darin zu ertrinken.“ (Bommarius)
Eine steile neue These gab es aber doch, der irische Historiker Jones hat sie vorgebracht, demnach war „Deutschland das ganze Jahr über Opfer der französischen Aggressionen“. Und zwar vor allem die Demokraten und Republikaner seien vom französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré gezwungen worden, ihren Abwehrkampf gegen rechts „mit einer auf den Rücken gefesselten Hand“ zu führen. Schon die SZ-Rezensentin Stefanie Middendorf hat dieses Entlastungsnarrativ im Sommer deutlich zurückgewiesen. Im aktuellen Sammelband (Hanning/Mares) urteilt der Marburger Historiker Eckart Conze: Zwar nehme der „Opferbegriff eine zeitgenössische Selbstwahrnehmung vieler Deutscher auf, aber es bleibt fraglich, ob Kategorien wie ‚Opfer‘ – und damit zwangsläufig auch ‚Täter‘ – der Komplexität der politischen Entwicklung der 1920er-Jahre gerecht werden“. Ebenso wäre zu fragen „ob nicht die Moralisierung, die sich mit diesen Begriffen verbindet, eine differenzierte historische Urteilsbildung erschwert, wenn nicht verhindert“. Eine ähnlich wilde Debatte wie nach Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“, das in Teilen auch als Entlastung der Deutschen beim Beginn des Ersten Weltkriegs gedeutet wurde, blieb aber bisher aus.
Hugo Stinnes vs. Moskau
Wer waren nun eigentlich die „Bösen“ in diesem 1923-Spektakel? Wie Jones hat auch Reuth nicht viel übrig für den „Deutschlandhasser“ Poincaré und die „unerbittliche Härte des Élysées“ (ganz Frankreich scheint bei allen Autoren übrigens nur aus Poincaré und ein paar Offizieren zu bestehen). Eher am Rande erwähnt Reuth aber auch, dass „das Schicksal des besetzten Gebiets zu einem Gutteil in den Händen von ausschließlich profitorientierten Industriellen liegt, denen die Nation letztendlich gleichgültig ist“.
Sehr viel expliziter benennt Longerich den Ruhrbaron und Inflationshauptgewinnler Hugo Stinnes als sinistren Strippenzieher der Reichspolitik. Als DVP-Abgeordneter hatte er direkten Zugang zu den Machtzentren in Berlin und strickte kräftig an seiner „eigenen Agenda“, die da lautete: noch mehr Geld verdienen, die sozialpolitischen Errungenschaften (Achtstundentag) zurückdrehen und in der Hochphase der Krise sich für einen Staatsstreich zugunsten eines stramm rechtskonservativen diktatorisch regierenden „Direktoriums“ einsetzen. Mit in diesem Stinnes-Boot saß laut Longerich auch der Chef der Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, der für einen rechtswidrigen politischen Systemwechsel bereit gewesen sei. Nur einen Putsch lehnte Seeckt strikt ab. Und so kam es, dass Hitlers Putsch am 8./9. November „auch alle übrigen Staatsstreich- und Diktaturpläne“ delegitimierte. Hitler, der Reichswehr und Polizei nicht hinter sich brachte, hat also – überspitzt gesagt – 1923 die Republik gerettet, indem er die deutlich aussichtsreicheren Rechtsdiktatur-Pläne in Berlin durchkreuzte.
In die entgegengesetzte Richtung deutet hingegen Reuth, indem er die „zumeist einseitige Fixierung auf die Bedrohung der Republik von rechts“ kritisiert und die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes in Mitteldeutschland (Stichwort: Deutscher Oktober) in grellen Farben ausmalt. Dass in Moskau viele Vorgänge in Deutschland völlig falsch eingeschätzt wurden und dass die Arbeiterschaft in Sachsen und Thüringen nicht zur Revolution bereit war, mindert für Reuth nicht die Existenz eines solchen „großen linken Umsturzherdes“.
„Glanztat“ vs. Zufallssieg
Und wer waren die „Guten“? Hier besteht mehr Einigkeit. Für Ullrich war der 103-Tage-Kanzler Gustav Stresemann ein „entschlossener Verteidiger der verfassungsmäßigen Ordnung“. Der DVP-Politiker bewahrte Deutschland 1923 vor „Zusammenbruch und Chaos“, schreibt Reuth, auch wegen seines „beherzten Vorgehens gegen Sozialisten und Kommunisten“. Eine Handvoll Demokraten hätten eine „politische Glanztat“ vollbracht. Und die Reichswehr stand „treu zur Republik“.
Am weitesten geht auch hier Mark Jones. Er hält den „Sieg der Demokraten am Ende des Jahres 1923“ für deren größten Erfolg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bedeutender als die Republikgründung 1918. Den Deutschen empfiehlt er 2023 sogar eine „Feier ohne Trauma oder Furcht, ohne chauvinistisches Getöse“.
Longerich hält dem Kanzler allerdings nur den Abbruch des Ruhrkampfs und die Stabilisierung der Währung zugute. Von einer „erfolgreichen Bewältigung“ der Krise durch eine fähige Regierung will er explizit nicht sprechen. Dass die „totale Eskalation der Krise nicht stattfand“, also die Errichtung einer Rechtsdiktatur, rechnet er nicht dem Krisenmanagement der Regierung zu, sondern der gegenseitigen Blockade von rechtskonservativen und rechtsextremen Kräften. (Zum Hitlerputsch werden in Kürze auch neue Bücher erscheinen.)
Merkwürdigerweise nur am Rande taucht in all den Werken Reichspräsident Friedrich Ebert auf. Dabei war der SPD-Politiker der entscheidende Mann, der fester als die meisten anderen auf demokratischem Boden stand. Er nutzte den kompletten Besteckkasten der Reichsverfassung (Ermächtigungsgesetz, Notverordnungen, Ausnahmezustand, Presse- und Parteienverbot, Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Reichswehr, Reichsexekutionen), um die Republik zu retten. Sein Nachfolger Paul von Hindenburg tat das nach 1930 auch – aber um die Republik zu zerstören, gemeinsam mit den Rechtskonservativen und den Hitler-Leuten.
Beruhigung vs. „Stabilitätsillusion“
Geriet die Republik also Anfang 1924 in ruhigeres Fahrwasser? Reuth („Die Zeit der Extremisten war in Deutschland vorüber“) und Jones („Am Ende des Krisenjahres standen die deutschen Demokraten aufrecht“) bejahen das; Ullrich attestiert der Republik zwar eine „erstaunliche Überlebensfähigkeit“, bleibt gleichzeitig aber sehr skeptisch („Das scheinbar beruhigende Bild einer gefestigten Demokratie zeigte ... Risse“), der ökonomische Aufschwung sei nicht nachhaltig gewesen.
Gänzlich düster ist der Ausblick bei Longerich. „Die allgemeine Erleichterung, die nach der Krise mit der scheinbaren Rückkehr zur Normalität einkehrt, lenkt von dem Weiterexistieren der eigentlichen Krisenursachen ab“, schreibt er und nennt etwa die Abkehr breiter Schichten von den Parteien, die Spaltung der Gesellschaft infolge der Inflation, das Anwachsen linker und rechter Extremisten und die weiterhin starke Ablehnung des Vertrags von Versailles. Longerich spricht in dem Zusammenhang von „Stabilitätsillusion“. Womöglich ist das der Begriff, den man sich am Ende einprägen sollte.
Kaffeehaus und Kater
Den 1923-Wettbewerb eröffnete ein erfahrener Kenner der Jahresbücher. Der Publizist Christian Bommarius hatte zuvor schon das Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 ziseliert. Flott erzählt und fein montiert lässt der Autor für das Katastrophenjahr ein Großaufgebot damals berühmter Menschen aufmarschieren und ihre Gefühle, Eindrücke und Ängste ausbreiten. Es geht vor allem ums Berliner Kulturleben, der Politikbetrieb der Hauptstadt wird nur gestreift. Eine Gesamtdarstellung gibt es also nicht, dafür umso intensiver die Rückwirkungen der Krise auf die – zumeist privilegierten – Menschen. Wirtschaftsbosse, Antisemiten und Extremisten aller Art treten auch auf. Ein Meisterstück der archivalischen Collagen-Reportage. Schönes Extra: Was mit den Protagonisten weiter geschah.
Christian Bommarius: Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, dtv, München 2022. 353 Seiten, 14 Euro (TB).
Berlin Mitte
Konsequent von der Chronologie löst sich der Historiker und Publizist Volker Ullrich. Er versucht recht überzeugend, „das verwickelte Knäuel der Krisenphänomene zu entwirren und die Fäden unter thematischen Gesichtspunkten neu zu ordnen“. Die Darstellung konzentriert sich – mit Ausnahme eines recht überschaubaren Kulturkapitels – vollends auf die Reichspolitik. Die Protagonisten sind also vor allem Politiker, Generäle, Industrielle und zahllose Extremisten (Hitler et al.) Im Vordergrund stehen die Akten aus der Reichskanzlei. Dennoch lässt Ullrich mächtige Zitatpassagen aus Zeitungen, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen auf die Leser einprasseln. Auffällig ist die sehr positive Zeichnung von Kanzler Gustav Stresemann. Eine sehr gut geschriebene Gesamtdarstellung, allerdings zurückhaltend im Urteil.
Volker Ullrich; Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund. C.H. Beck, München 2022. 441 Seiten, 28 Euro.
Rechte Gefahr
Die mit Abstand beste Gesamtdarstellung, analytisch scharf und erhellend. Der Historiker Peter Longerich schaut auf die Ereignis- und Strukturgeschichte und schafft es ganz gut, das „komplexe Ereignisbündel“ zu entwirren. Der Chronologie entkommt er aber auch nicht. Sieht die Gefahr für die Republik vor allem von rechts und erklärt schlüssig, wie Hitlers rechtsextremer Putschismus die rechtskonservativen Staatsstreichpläne (Stichwort: Direktorium) durchkreuzte. Hat als Einziger sehr hilfreiches Kartenmaterial. Und hat den originellsten Ansatz zum Hitlerputsch: 2,5 Seiten genügen („Die weiteren Ereignisse sind oft dargestellt worden.“) Longerich kommt zu einem sehr düsteren Schluss: Kein einziges strukturelles Problem war Ende 1923 behoben, die neue Normalität war nur „Schein“. Und: bestes Coverbild.
Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923. Molden, Wien 2022. 318 Seiten, 33 Euro.
Babylon Berlin
Eigentlich auch kein politisches Buch, aber dennoch unentbehrlich zum Verständnis der Zeit. Der Publizist Armin Fuhrer hat sich die „Lebenswirklichkeit“ der Berliner im Krisenjahr vorgenommen und sehr viele bunte, düstere und erschreckende Details über das erst 1920 entstandene Groß-Berlin mit seinen 3,8 Millionen Einwohnern zusammengetragen: über die bittere Not derer, die unter der Hyperinflation litten; über die Geschäfte der „Raffkes“ oder Schieber. Fuhrer klärt auf über neue Moden, neue Freiheiten und wie die zunehmende Perspektivlosigkeit die Menschen dazu trieb, einfach nur leben zu wollen, wild und exzessiv. Es geht ausführlich um Sex und Crime, um Prostitution und Drogenrausch. Um „Tanzwut“, „Spielwut“ und nicht zuletzt um die „Nacktkultur“. Es zeigt die Realität der Geld- und Werte-Entwertung. Ganz nah dran am „Sündenbabel“.
Armin Fuhrer: Hunger & Ekstase. Berlin 1922/23. Elsengold, Berlin 2022. 240 Seiten, 26 Euro.
Roher Reigen
Hugo Stinnes isst ein Stück Rinderbrust. Und das Volk muss in Suppenküchen verköstigt werden, damit es nicht verhungert. Die Zeit-Journalistin Jutta Hoffritz hat ihr 1923-Buch auf ungewöhnliche Weise verfasst, im Stakkato-Stil (nach ein, zwei Sätzen gleich ein Absatz) und im schnellen Wechsel zwischen etwa zehn Hauptprotagonisten, unter ihnen der Ruhrbaron Stinnes, Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein, Kurt Tucholsky, der rheinische Separatist Hans Adam Dorten oder Käthe Kollwitz. Simuliert werden soll so wahrscheinlich eine Art „Totentanz“. Funktioniert aber nur mäßig. Stinnes problematische Rolle wird kaum ausgeleuchtet, er kommt als guter Geschäftsmann weg; Havenstein bleibt seltsam blass. Anita Berber kommt auch vor und ein paar Kommunisten. Kein roter Faden auf dem glatten Tanzboden! Stattdessen viel Weißraum.
Jutta Hoffritz: Totentanz. 1923 und seine Folgen. HarperCollins, Hamburg 2022. 334 Seiten, 23 Euro.
Weiter Winkel
Schon mal gehört? Vertrag von Lausanne. Das große Erdbeben von Kantō. Ägyptomanie. Ja, auch das ist alles im Jahr 1923 passiert. Aber halt nicht in Deutschland. Ein Aufsatzband weitet endlich mal die Perspektive und zeigt auf, wie das Krisenjahr „die Welt erschütterte“. Zwar ist bei deutschen Themen die Stimmung oft eher düster, Ruhrbesetzung, Hitlerputsch, rassistische Karikaturen .... Vor allem aber erklären die Autoren, dass nicht alles an dem Jahr katastrophal krisenhaft war, sondern dass es auch Aufbrüche gab oder Erfreuliches wie etwa die Entdeckung des Tutanchamun-Grabes. Alles, was nicht im Deutschen Reich spielt, hilft, den selbstbespiegelnden Blick zu schärfen, etwa beim Thema Bevölkerungsaustausch zwischen der neu gegründeten Türkei und Griechenland. Anregende Abwechslung.
Nicolai Hannig, Detlev Mares (Hg.): Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte. wbg, Darmstadt 2022, 240 Seiten, 40 Euro.
Blut und Eisen
Die einzige Analyse aus dem Ausland über das Deutsche Reich. Der in Dublin lehrende Mark Jones hatte schon mit einem Buch über die Revolution 1918/19 einiges Aufsehen erregt. Vor allem die detaillierte Schilderung von Gewaltszenen hatte man bisher so nicht gelesen, die „Schuld“ an den Exzessen lud der irische Historiker bei der damals regierenden SPD ab – was nicht jedem Fachkollegen gefiel. Auch in „1923“ rumst es gewaltig. Jedes Kapitel (chronologisch geordnet) beginnt mit einer Gewaltszene. Der ganz große Schuldige ist diesmal der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré. Brisante Details auch über die Untaten der französischen Besatzungssoldaten im besetzten Ruhrgebiet. Die kommunistische Gefahr wird eher vernachlässigt. Flott geschrieben. Am Schluss ein Hoch auf die deutsche Demokratie! Gefällt auch nicht jedem.
Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Propyläen, Berlin 2022. 384 Seiten, 26 Euro.
Rotfront Sachsen
Eine der wenigen aktuellen Regionalstudien. Der Historiker Karl Heinrich Pohl ruft in Erinnerung, dass damals Mitteldeutschland von Sachsen bis Braunschweig als „rote Bastion“ wahrgenommen wurde. Stark organisierte Industriearbeiter, sehr starke SPD, viele Kommunisten. Pohls steile (nicht neue) These: Die längerfristige Zusammenarbeit von SPD und KPD in Sachsen hätte die Republik nicht destabilisiert, sondern vielmehr im Sinne einer Transformation in eine soziale Demokratie weiterentwickeln können. Viele interessante Details über linke Schul- und Polizeipolitik. Aber am Ende keine klare Haltung, ob die „sprunghafte“ KPD nicht nur zum Schein in die Regierung eintrat – um von dort aus die Revolution im Sinne Moskaus zu starten. Dennoch erfrischender Perspektivwechsel, wenn auch nur als Gedankenexperiment.
Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022. 307 Seiten, 45 Euro.
Linke Gefahr
Eine weitere Gesamtdarstellung des Schicksalsjahrs hat gerade Ralf Georg Reuth vorgelegt. Der Publizist und Historiker ist es gewohnt, eine große Stoffmenge zu verarbeiten („Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs“). Und das beweist er auch hier – kein anderes Werk bietet wohl auf dem vorhandenen Platz mehr Details und Einzelheiten. Mögliches Motto: alles erzählen, Analyse ergibt sich von selbst. Die extreme Verdichtung hilft nicht immer bei der Lektüre, aber Reuth wirft einen viel intensiveren Blick auf die Politik der Friedensmächte von Versailles als die anderen – ein echter Pluspunkt. Vor allem aber lenkt er seine Aufmerksamkeit nach Moskau, wo aus seiner Sicht eine kommunistische Umsturzpolitik geschmiedet wurde, die den rechten Umtrieben im Deutschen Reich in nichts nachstand. Sein Fazit: Alle Umstürzler von rechts und links scheiterten an Stresemann.
Ralf Georg Reuth: 1923. Kampf um die Republik. Piper, München 2023. 364 Seiten, 24 Euro.
„Wir tanzen auf einem Vulkan und wir stehen vor einer Revolution, wenn wir nicht durch eine ebenso entschlossene wie kluge Politik die Gegensätze versöhnen können“, sagte Reichskanzler Gustav Stresemann im Sommer 1923. Im Bild eine Demonstration von Arbeitslosen in Berlin.
Foto: SZ Photo
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"Longerich präsentiert präzise Fakten und bringt diese in Zusammenhänge." Taz "In klarer Sprache wendet er sich an ein breites Publikum, auch an Menschen, die mit dem Thema nicht vertraut sind." Deutschlandfunk