Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich. Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.
Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.
Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.
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buecher-magazin.deEntgrenzt ist dieses Debüt, das es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Man startet mit Alissa, die in Istanbul ihren Zwillingsbruder Anton sucht. Von verrauchten Nachtclubs in der Stadt am Bosporus führt das Geschehen ins Moskau der postsowjetischen Jahre, und von dort in ein Asylheim in der westdeutschen Provinz. Alissas und Antons Kindheit flackert auf, das rührende Bild eines kleinen Mädchens und Jungen erscheint, die sich ineinander verknäulen wie zwei Katzenbabys beim Spielen, um sich vor dem Rest der Welt abzuschirmen, die durchdrungen ist von Gewalt und Traurigkeit. Zurück in der Gegenwart, in Istanbul, wird aus Alissa, Ali. Eine Geschlechtsumwandlung, die vor allem der unerfüllten Sehnsucht nach ihrem Zwillingsbruder Anton geschuldet zu sein scheint. Ali will Anton im Spiegel erblicken. Während Ali vergeblich sucht, gibt es für den Leser eine aus seiner Perspektive geschriebene Episode. Hinzu kommen Geschichten der Großeltern und Eltern. Der häufige Wechsel zwischen Schauplätzen und Perspektiven verwirrt nicht, sondern fasziniert in diesem Roman. Zusammengenommen bilden die miteinander verstrickten Erzählstränge ein kunstvolles und vielschichtiges Bild und vermitteln eine Ahnung davon, wie komplex und wandelbar Identität ist.
© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2017Dass ich Eins und doppelt bin
Geschmack von Rost und Knochen: Die Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann sprengt mit ihrem grandiosen Romandebüt "Außer sich" die Grenzen von Ich und Welt.
Es ist der Geschmack von fettigem Hähnchenfleisch, der Ali jedes Mal wieder aufstößt, sobald sie Grenzen überquert. Der Geschmack liegt dann, auch wenn sie nichts gegessen hat, schwer in ihrem Gaumen. Sie schmeckt es, als sie mit ihrem Vater zum ersten Mal seit der Ausreise der Familie Tschepanow aus Moskau zurück in die alte Heimat fährt. Und sie schmeckt es, als sie sich Jahre später auf den Weg nach Istanbul macht, um ihren verschollenen Zwillingsbruder Anton zu suchen. Die synästhetische Urzsene freilich ereignet sich, als Ali noch ein Kind ist und in den neunziger Jahren, als Panzer auf den Roten Platz rollen, zusammen mit ihrer jüdischen Familie als Kontingentflüchtling nach Deutschland übersiedelt. Während dieser sechsunddreißigstündigen Ein- oder Ausreise, was davon abhing, "von wo aus man schaute", wie es im Text heißt, isst Ali im stickigen Zugabteil tatsächlich von dem toten Vogel, der in Alupapier gewickelt vor ihr auf dem Tisch liegt. Doch schon bald darauf gelangt "das Hähnchenfett aus dem Magen wieder zurück in ihren Mund", bis das Kind dem Onkel, der die Familie am Bahnsteig gerade erwartungsvoll in die Arme schließen will, das halbe Hähnchen schließlich auf die Schuhe erbricht.
Alissa fällt auf den Boden, und Erfahrung und Erleben brauen sich in diesem Moment zu einer Übelkeit zusammen, die alles verschwimmen lässt: "Außerhalb ihres Kopfes verlief die Zeit schneller, es bewegten sich die Dinge in Blitzgeschwindigkeit, Schuhe, die wie Schlangen um sie schnappten, Ottern und riesige Insekten, die sie ansprangen, sie schrie auf und hatte das Gefühl, geschrumpft und in ein Bild gesteckt worden zu sein . . . Alles war Dschungel, alles war Farbe, alles machte ihr Angst, und sie wusste nicht, ob sie auf dem Boden lag oder in ein Loch gefallen war."
Alis verstörende Sinneseindrücke verleihen dem literarischen Debüt von Sasha Marianna Salzmann seine außergewöhnliche Kontur. Der Roman der 1985 in Wolgograd geborenen und in Moskau aufgewachsenen Autorin, die nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland zunächst als Dramatikerin hervorgetreten ist, setzt dabei auf kongeniale Weise um, was der Titel verspricht. "Außer sich" erzählt von Entgrenzungen. Was die Hausautorin am Berliner Maxim-Gorki-Theater bereits in Stücken wie "Meteoriten" oder "Ich, ein Anfang" thematisch verhandelt hat, setzt sie in ihrer ausgefeilten Prosa fort: Ihre Fragen kreisen um Zugehörigkeit jenseits konventioneller Zuschreibungen wie Heimatland, Muttersprache oder Geschlecht. Was definiert uns? Was hält uns zusammen? Wie lässt sich geographische, soziale oder geschlechtliche Begrenzung aufbrechen? Wo verlaufen die Sollbruchstellen im menschlichen Bewusstsein?
Der Roman erstreckt sich über ein ganzes Jahrhundert und erzählt von vier Generationen einer Familie. Dabei pendelt er zwischen der Sowjetunion und dem Deutschland nach der Wende sowie der Türkei der Gegenwart hin und her. Doch er erzählt seine Geschichte nicht etwa als breit ausgemaltes Panorama, nicht als Schlachtengemälde. Die Autorin gewährt uns vielmehr in hochkondensierten Erinnerungsschleifen Einsichten in ein komplexes Gerfühlsdickicht, in dem bis hin zu der Frage, ob es die Zwillinge Anton und Allissa wirklich gibt oder es sich dabei um die Projektion eines einzelnen Ichs handelt, bald nichts mehr so ist, wie es scheint.
Aus der jungen zeitgenössischen Literatur sticht der Roman deshalb heraus. Denn der Autorin gelingt es nicht nur, ganze Lebensgeschichten mit großer Leichthändigkeit zu umreißen. Da werden Verwandtschaften aufgefächert und wieder in Frage gestellt, Spannungen zwischen Generationen und Freunden veranschaulicht, da werden Mütter zu Töchtern und Frauen zu Männern. Mit der Erkundung dessen, was uns im Innersten zusammenhält, trifft die Autorin ein zeitgenössisches Gefühl. Denn was könnte der Kitt sein, wenn die Vertrautheit einer Region, die Zugehörigkeit zu einer Nation oder das Konstrukt Familie mit ihren jeweils eigenen Traumata, die sich durch die Generationen ziehen, es nicht mehr sind?
Sasha Marianna Salzmanns Familienerkundung lässt die Stammbäume porös erscheinen, selbst ein Reisepass hat hier keine Bedeutung mehr. Die Protagonisten, die unfreiwillig aus ihren Zusammenhängen gerissen und vertrieben werden oder auch aus eigener Initiative aufbrechen, verorten sich anderswo - und die Jüngeren manchmal gerade in dieser Suche nach Identität und dem Hunger nach Erleben. Grenzen überschreitet der Text bis in die Sprache hinein, wenn er mit Begriffen und manchmal ganzen Sätzen auf Russisch, Jiddisch oder Türkisch jongliert. Die Erzählerstimme lauscht dabei den verschiedenen Sprachen bis in die tiefsten Empfindungen nach, etwa wenn sie über ihre russische Muttersprache schreibt, dass sie ihr misstraue, weil sie so viel besser sei "als die Welt, aus der sie kommt, blumiger und bedeutsamer, als die Realität je sein könnte".
Vielfach gebrochen, in sich verwinkelt und verspiegelt, gelingt es dem Roman gleichwohl, seine atemberaubende Geschichte durch eine Familie und ein Jahrhundert schillernd wie ein Kaleidoskop zu entfalten. Man muss nur einmal drehen, und schon liegen die Einzelteile wieder in anderer Anordnung vor einem. Es ist eine Familienaufstellung, die Ali von Istanbul aus gedanklich unternimmt und die sie immer weiter zurückführt in die Geschichte. Die vielgestaltigen Erinnerungen führen anhand oft erschütternder Einzelschicksale mitten hinein in die großen Dramen des zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Da sind die Zwillinge Alissa und Anton oder die eben zwei Seiten einer gespaltenen Identität, die mit den Eltern nicht zuletzt aufgrund antisemitischer Anfeindungen Moskau Anfang der neunziger Jahre verlassen. Erzählt wird aber auch die Geschichte von Kostja, dem Vater, und Valja, der Mutter, die, noch ehe sie sich im deutschen Flüchtlingsheim mit fünf Mark in der Woche durchschlagen müssen, in der ehemaligen Sowjetunion aufwuchsen. Mit ihrer Entwurzelung gehen sie jeweils unterschiedlich um. Wir begegnen der klugen Etina und ihrem Mann Sascha mit der zielstrebigen Nase, die beide zur Zeit der russischen Revolution geboren wurden und die Bürde trugen, "etwas Besonderes sein zu müssen". Ihr Auftrag war kein geringerer als der, "die Welt umzukrempeln" und sie besser zu machen. Als Ärzte werden sie während des Zweiten Weltkriegs im Krankenhaus Hunderten Menschen das Leben retten, und unendlich viele mehr werden sie sterben sehen.
Wie sie hingegen selbst überlebten, das sind "Bruchstücke der Erinnerungen, die sie in ihren Schwarztee murmelten", wie es einmal heißt. Dieses Murmeln sucht der Roman immer wieder hörbar zu machen. Die Spannung der Erzählung mag nicht zuletzt darauf gründen, dass die Autorin auch aus eigenen Erfahrungen als Aus/Einwanderin sowie den Überlieferungen einer faszinierenden Familiengeschichte schöpft. Nicht nur in den Szenen aus dem Istanbul der jüngeren Zeit ist die Erzählung auf Gegenwärtigkeit aus. Große Teile des Romans spielen während der türkischen Proteste auf dem Taksim-Platz 2013. Auch Vergangenes will Salzmann als etwas erzählen, das nicht durch Geschichtsschreibung in sich abgeschlossen ist, sondern in die Gegenwart hineinragt. Dem Roman vorweg stellt sie ein Zitat von Ingeborg Bachmann, das sie mit den Worten fortschreibt: "Die Zeit ist also ein Heute, von vor hundert Jahren bis jetzt."
Der mythologische Urtext für Sasha Marianna Salzmanns Buch der Verwandlungen sind Ovids "Metamorphosen". Die Möglichkeiten, sich eine soziale Rolle, ja gar eine Persönlichkeit anzulegen und wieder abzustreifen, sind unendlich. Dass dies nicht immer freiwillig geschieht, auch davon erzählt dieser Roman. Umso spannender ist da die Frage, was bei diesem Metamorphosen eigentlich von einer Person bleibt. Mehr als Hähnchengeschmack im Mund dürfte es schon sein.
SANDRA KEGEL
Sasha Marianna Salzmann: "Außer sich". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 366 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschmack von Rost und Knochen: Die Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann sprengt mit ihrem grandiosen Romandebüt "Außer sich" die Grenzen von Ich und Welt.
Es ist der Geschmack von fettigem Hähnchenfleisch, der Ali jedes Mal wieder aufstößt, sobald sie Grenzen überquert. Der Geschmack liegt dann, auch wenn sie nichts gegessen hat, schwer in ihrem Gaumen. Sie schmeckt es, als sie mit ihrem Vater zum ersten Mal seit der Ausreise der Familie Tschepanow aus Moskau zurück in die alte Heimat fährt. Und sie schmeckt es, als sie sich Jahre später auf den Weg nach Istanbul macht, um ihren verschollenen Zwillingsbruder Anton zu suchen. Die synästhetische Urzsene freilich ereignet sich, als Ali noch ein Kind ist und in den neunziger Jahren, als Panzer auf den Roten Platz rollen, zusammen mit ihrer jüdischen Familie als Kontingentflüchtling nach Deutschland übersiedelt. Während dieser sechsunddreißigstündigen Ein- oder Ausreise, was davon abhing, "von wo aus man schaute", wie es im Text heißt, isst Ali im stickigen Zugabteil tatsächlich von dem toten Vogel, der in Alupapier gewickelt vor ihr auf dem Tisch liegt. Doch schon bald darauf gelangt "das Hähnchenfett aus dem Magen wieder zurück in ihren Mund", bis das Kind dem Onkel, der die Familie am Bahnsteig gerade erwartungsvoll in die Arme schließen will, das halbe Hähnchen schließlich auf die Schuhe erbricht.
Alissa fällt auf den Boden, und Erfahrung und Erleben brauen sich in diesem Moment zu einer Übelkeit zusammen, die alles verschwimmen lässt: "Außerhalb ihres Kopfes verlief die Zeit schneller, es bewegten sich die Dinge in Blitzgeschwindigkeit, Schuhe, die wie Schlangen um sie schnappten, Ottern und riesige Insekten, die sie ansprangen, sie schrie auf und hatte das Gefühl, geschrumpft und in ein Bild gesteckt worden zu sein . . . Alles war Dschungel, alles war Farbe, alles machte ihr Angst, und sie wusste nicht, ob sie auf dem Boden lag oder in ein Loch gefallen war."
Alis verstörende Sinneseindrücke verleihen dem literarischen Debüt von Sasha Marianna Salzmann seine außergewöhnliche Kontur. Der Roman der 1985 in Wolgograd geborenen und in Moskau aufgewachsenen Autorin, die nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland zunächst als Dramatikerin hervorgetreten ist, setzt dabei auf kongeniale Weise um, was der Titel verspricht. "Außer sich" erzählt von Entgrenzungen. Was die Hausautorin am Berliner Maxim-Gorki-Theater bereits in Stücken wie "Meteoriten" oder "Ich, ein Anfang" thematisch verhandelt hat, setzt sie in ihrer ausgefeilten Prosa fort: Ihre Fragen kreisen um Zugehörigkeit jenseits konventioneller Zuschreibungen wie Heimatland, Muttersprache oder Geschlecht. Was definiert uns? Was hält uns zusammen? Wie lässt sich geographische, soziale oder geschlechtliche Begrenzung aufbrechen? Wo verlaufen die Sollbruchstellen im menschlichen Bewusstsein?
Der Roman erstreckt sich über ein ganzes Jahrhundert und erzählt von vier Generationen einer Familie. Dabei pendelt er zwischen der Sowjetunion und dem Deutschland nach der Wende sowie der Türkei der Gegenwart hin und her. Doch er erzählt seine Geschichte nicht etwa als breit ausgemaltes Panorama, nicht als Schlachtengemälde. Die Autorin gewährt uns vielmehr in hochkondensierten Erinnerungsschleifen Einsichten in ein komplexes Gerfühlsdickicht, in dem bis hin zu der Frage, ob es die Zwillinge Anton und Allissa wirklich gibt oder es sich dabei um die Projektion eines einzelnen Ichs handelt, bald nichts mehr so ist, wie es scheint.
Aus der jungen zeitgenössischen Literatur sticht der Roman deshalb heraus. Denn der Autorin gelingt es nicht nur, ganze Lebensgeschichten mit großer Leichthändigkeit zu umreißen. Da werden Verwandtschaften aufgefächert und wieder in Frage gestellt, Spannungen zwischen Generationen und Freunden veranschaulicht, da werden Mütter zu Töchtern und Frauen zu Männern. Mit der Erkundung dessen, was uns im Innersten zusammenhält, trifft die Autorin ein zeitgenössisches Gefühl. Denn was könnte der Kitt sein, wenn die Vertrautheit einer Region, die Zugehörigkeit zu einer Nation oder das Konstrukt Familie mit ihren jeweils eigenen Traumata, die sich durch die Generationen ziehen, es nicht mehr sind?
Sasha Marianna Salzmanns Familienerkundung lässt die Stammbäume porös erscheinen, selbst ein Reisepass hat hier keine Bedeutung mehr. Die Protagonisten, die unfreiwillig aus ihren Zusammenhängen gerissen und vertrieben werden oder auch aus eigener Initiative aufbrechen, verorten sich anderswo - und die Jüngeren manchmal gerade in dieser Suche nach Identität und dem Hunger nach Erleben. Grenzen überschreitet der Text bis in die Sprache hinein, wenn er mit Begriffen und manchmal ganzen Sätzen auf Russisch, Jiddisch oder Türkisch jongliert. Die Erzählerstimme lauscht dabei den verschiedenen Sprachen bis in die tiefsten Empfindungen nach, etwa wenn sie über ihre russische Muttersprache schreibt, dass sie ihr misstraue, weil sie so viel besser sei "als die Welt, aus der sie kommt, blumiger und bedeutsamer, als die Realität je sein könnte".
Vielfach gebrochen, in sich verwinkelt und verspiegelt, gelingt es dem Roman gleichwohl, seine atemberaubende Geschichte durch eine Familie und ein Jahrhundert schillernd wie ein Kaleidoskop zu entfalten. Man muss nur einmal drehen, und schon liegen die Einzelteile wieder in anderer Anordnung vor einem. Es ist eine Familienaufstellung, die Ali von Istanbul aus gedanklich unternimmt und die sie immer weiter zurückführt in die Geschichte. Die vielgestaltigen Erinnerungen führen anhand oft erschütternder Einzelschicksale mitten hinein in die großen Dramen des zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Da sind die Zwillinge Alissa und Anton oder die eben zwei Seiten einer gespaltenen Identität, die mit den Eltern nicht zuletzt aufgrund antisemitischer Anfeindungen Moskau Anfang der neunziger Jahre verlassen. Erzählt wird aber auch die Geschichte von Kostja, dem Vater, und Valja, der Mutter, die, noch ehe sie sich im deutschen Flüchtlingsheim mit fünf Mark in der Woche durchschlagen müssen, in der ehemaligen Sowjetunion aufwuchsen. Mit ihrer Entwurzelung gehen sie jeweils unterschiedlich um. Wir begegnen der klugen Etina und ihrem Mann Sascha mit der zielstrebigen Nase, die beide zur Zeit der russischen Revolution geboren wurden und die Bürde trugen, "etwas Besonderes sein zu müssen". Ihr Auftrag war kein geringerer als der, "die Welt umzukrempeln" und sie besser zu machen. Als Ärzte werden sie während des Zweiten Weltkriegs im Krankenhaus Hunderten Menschen das Leben retten, und unendlich viele mehr werden sie sterben sehen.
Wie sie hingegen selbst überlebten, das sind "Bruchstücke der Erinnerungen, die sie in ihren Schwarztee murmelten", wie es einmal heißt. Dieses Murmeln sucht der Roman immer wieder hörbar zu machen. Die Spannung der Erzählung mag nicht zuletzt darauf gründen, dass die Autorin auch aus eigenen Erfahrungen als Aus/Einwanderin sowie den Überlieferungen einer faszinierenden Familiengeschichte schöpft. Nicht nur in den Szenen aus dem Istanbul der jüngeren Zeit ist die Erzählung auf Gegenwärtigkeit aus. Große Teile des Romans spielen während der türkischen Proteste auf dem Taksim-Platz 2013. Auch Vergangenes will Salzmann als etwas erzählen, das nicht durch Geschichtsschreibung in sich abgeschlossen ist, sondern in die Gegenwart hineinragt. Dem Roman vorweg stellt sie ein Zitat von Ingeborg Bachmann, das sie mit den Worten fortschreibt: "Die Zeit ist also ein Heute, von vor hundert Jahren bis jetzt."
Der mythologische Urtext für Sasha Marianna Salzmanns Buch der Verwandlungen sind Ovids "Metamorphosen". Die Möglichkeiten, sich eine soziale Rolle, ja gar eine Persönlichkeit anzulegen und wieder abzustreifen, sind unendlich. Dass dies nicht immer freiwillig geschieht, auch davon erzählt dieser Roman. Umso spannender ist da die Frage, was bei diesem Metamorphosen eigentlich von einer Person bleibt. Mehr als Hähnchengeschmack im Mund dürfte es schon sein.
SANDRA KEGEL
Sasha Marianna Salzmann: "Außer sich". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 366 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2017Verwandlungsstress
Von Moskau über Grosny nach Berlin, Istanbul und Odessa: Sasha Marianna Salzmann
erzählt in ihrem Roman „Außer sich“ von einem Zwillingspaar auf der Suche nach sich selbst
VON HUBERT WINKELS
Nach hause“ steht in Anführungszeichen zu Beginn des Romans. Und „zu hause“ zu Beginn seines zweiten Teils. Und dann stürzen wir auch sofort in einen Aufbruch in die Fremde. Sachen werden zusammengeklaubt, ein Abschiedswinken, und schon geht’s los. Nur wohin? Das ist die Frage, die den Roman nicht loslässt. Er erzählt von Aufbrüchen im Raum, in der Zeit, in neue erotische und familiäre Konstellationen, in neue Identitäten. Er springt durch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, von Wolgograd nach Moskau, nach Czernowitz, Almaty und Grosny. Und von Berlin und der deutschen Provinz nach Istanbul, Odessa und zurück. Er findet weder Rast noch Ruhe, vibriert vor Auf- und Umbruchspannung, und feiert bei allem erzählten Elend den Verwandlungsstress, wenn nicht als historisches und biografisches, so doch als literarisches Prinzip.
Als treibende Kraft fungiert die Geschlechtsambivalenz, grammatikalisch gefasst, die Differenz von Er und Sie. Die in Russland geborenen Zwillinge Anton und Alissa haben sich aus den Augen verloren. Als jüdische Kontingentflüchtlinge sind sie nach dem Ende der Sowjetunion mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, dort aufgewachsen, und eines Tages ist Anton verschwunden. Eine Postkarte aus Istanbul ist der einzige Hinweis auf seinen Aufenthalt, und Schwester Ali taucht sogleich ein in das Nachtleben am Bosporus, in das Achtzigerjahre-Discoglamour, in versyphte Wohnungen, den Dreck und die Freundschaft, den Lärm und die Geilheit, in denen alle stabilen Einteilungen der Welt verschwimmen, oben und unten, damals und jetzt, dort und hier und vor allem die Differenz der Geschlechter.
Man spritzt Tosteron, statt Kokain zu schnupfen, und wenn der Bart später sprießt, dann wird es schwer, als Gogo-Tänzerin in goldenen Hotpants am goldenen Horn sein Geld zu verdienen, wie Alis Instant-Geliebte(r) Katho oder Katharina erfahren muss. Katho, der auch Katüscha genannt wird, wie jener Stalin’sche Mehrfachraketenwerfer, dem ein russisches Liebeslied gilt, das den Übergang vom Kriegs- zum erotischen Schauplatz zwanglos in einem Wort hinbekommt.
Nicht ganz so metaphorisch reibungslos funktionieren die Übergänge im Roman von Alis Istanbuler Grenzüberschreitungen zu den historischen Wirbeln, in die ihre jüdischen Herkunftsfamilien hineingerissen wurden. Die erinnerten, geträumten, erfundenen Geschichten rund um Eltern und Großeltern aus Moskau und Wolgo- respektive Stalingrad kommen der zwischen Abend- und Morgenland taumelnden Ali eher wie Blätter eines Abrisskalenders in den Sinn. Mit grob gezackten Rändern, unmittelbar szenisch konkret, dialogstark, viel Historie im Privaten raffend, dann der Abbruch oder Aufbruch.
Es herrscht schließlich Hungersnot, Krieg, Verfolgung, bittere Armut. Alis Familie väterlicherseits darbt und kämpft und prügelt sich und schlägt sich durch. Der mütterliche Zweig hingegen, medizinisch ausgebildet, arbeitet in höchster Not an der Grenze zwischen Leben und Tod. In Kliniken und Lazarettbaracken. Praktizierte Menschlichkeit in Elendszeiten. Aber irgendwann flieht auch die jüdische Familie von Etinka und Schura. Es gibt Kinder, Abriss der Seite. Sprung nach Deutschland oder Istanbul, wo die in sexueller Lust und ewigem Unvollständigkeitsschmerz taumelnde Ali auf der Suche nach ihrem anderen Ich namens Anton ist.
Diese Abruptheit hat einen starken Grund. Sasha Salzmann hält nicht nur theoretisch nichts von historisch-biografischen Kausalitäten, sie möchte sie auch nicht mit sinnigen Erzählungen kompensieren. Kurz, eine narrative Logik, die das Disparate sinnhaft ordnet, ist ihr zuwider. Wie soll aber ein Erzählfaden verlaufen, wenn er plausible Reihen von Intention, Handlung und praktischen Folgen nicht gelten lässt? Man kann auf die dunklen geschichtlichen Kräfte setzen und auf das historisch und familiär-biografische Unbewusste, aber es ändert ja nichts daran, dass dann eben dieses Unbewusste konstruktiv gestaltet werden muss.
Exakt hier, in der Mitte des erzählerischen Problems, wird eine Stärke dieses disparaten Romans erkennbar. Er arbeitet mit großer Kunstfertigkeit am Auf- und Umbruch, an der Nicht-Passung von Herkünften und Personen und Absichten, sodass dieser Wille zur Disruption unübersehbar ist. Zugleich aber sollen die Brüche formal, im Medium der Erzählung gebändigt werden. So wird im epischen Erzählen zur echten Herausforderung, was im zeitgenössischen Theater schon gewöhnlich geworden ist, für Sasha Salzmann, die Dramatikerin, Dramaturgin und Gründerin der Studiobühne am Berliner Maxim-Gorki-Theater, erst recht. Die Herausforderung besteht darin, nicht-linear, nicht-evolutionär, nicht-genealogisch, nicht-aufbauend, nicht-zielgerichtet Geschichte zu erzählen und doch die Plausibilität nicht aufzugeben.
Wenn der Roman von den Turbulenzen berichtet, in die jüdische Familien in der Sowjetunion, schon gar während des Zweiten Weltkriegs geraten, wenn er von Fluchten, Verstecken, mühsamem Wiederaufbau erzählt, dann wählt er als Schwerpunkt immer die dünne Stelle, an der ein Band zu reißen droht, sei es das der historischen Konsequenz oder der Familienharmonie. Dass Ehepartner nicht zueinander passen oder die große Geschichte allen eine Nase dreht, ist geradezu die Voraussetzung für die vielfache Persönlichkeit Ali/Antons, für ihren Willen zur Ambiguität, zur Transsexualität, zur Vielheit.
Das alles ist nahe an den Theoriemoden der Gegenwart, aber dennoch als Sprachkunstwerk ein radikales, mutiges Unternehmen, stark übertreibend in der Bildlichkeit, gelegentlich buchstäblich russisch schreibend und drauf verweisend, dass in der russischen Umgangssprache die übertreibende Verzerrung immer schon enthalten ist, im Schimpfen wie im Liebkosen. Diese Orgel wirft Sasha Salzmann an und sucht mit ihr einen Strom zu entfesseln, der in mehrere Richtungen fließt. Deshalb springen wir von der Türkei 2015 folgende zu Stalins Tod, in die niedersächsische Nachkriegsprovinz und wieder zur freundlichsten Gestalt des Romans, dem türkischen Onkel Cemal oder Cemo oder Cemal Bey, der immer einen heißen Tee und heilende Hände parat hält.
Cemal ist kein leiblicher Onkel, sondern der von Alis bestem Berliner Freund/Geliebten Elyas. Der melancholische und doch munter alles deterritorialisierende Roman bevorzugt die nicht-familiale rettende Zukunft und kann doch nicht drüber hinwegtäuschen, dass die ‚bucklige Verwandtschaft‘ immer schon da ist. Sasha Salzmann trägt dem Rechnung, indem sie am Ende der meisten Kapitel die erzählenden Ali/Anton als Ich auftreten und mit Schmerzen einer Geschichte zuhören lässt, die meist jemand aus der Familie erzählt. Zumal Mama Valja und Papa Kostja, der Tunichtgut, mit dem es ein böses Ende nimmt. Das Erzähler-Ich lauscht und kommt in ein bitteres Grübeln, in dem sich der schmerzhafte Kern der Geschichte offenbart, die Not des ehrlichen Ich-Sagens.
„Ich erdenke mir neue Personen, wie ich mir alte zusammensetze. Stelle mir das Leben meines Bruders vor, stelle mir vor, er würde all das tun, wozu ich nicht in der Lage gewesen bin, sehe ihn als einen, der hinauszieht in die Welt, weil er den Mut besitzt, der mir immer gefehlt hat, und ich vermisse ihn.“ Die Offenbarung liegt weniger in solchen postmodernen Erzählreflexionen als im Grübeln darüber, wie man den Eltern oder Großeltern sagt, was man ist oder dabei ist zu werden. Ein Mann nämlich, wenn man die Tochter Alissa ist. Es braucht Mut selbst dann noch, wenn einem schon der Bart wächst. Der Mut zur Wandlung des Geschlechts und mehr noch, es zu sagen.
Wenn hier das offensichtliche Geheimnis des sinnig so betitelten Romans „Außer sich“ liegt, dann muss man zugestehen, Sasha Salzmann hat eine überbordende Form gefunden, über das zu sprechen, was nicht zu sagen, nur literarisch zu zeigen ist. Sie hat ein Buch der Wandlungen geschrieben, in dem nichts bleibt, was es ist. Aber es ist eben nicht einfach nachgeahmte modische Hybridkultur, sondern ein expressiver, auch angstgetriebener Wunschtraum darin. Man hört selbst hier noch ein fernes Echo des Novalis-Wortes „Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause“.
Ob das breit angelegte historische Panorama des Romans in dieser Form gut aufgehoben ist, darf man fragen. Wir haben ja eben erst mit Katja Petrowskajas „Vielleicht Esther“, mit Kathrin Schmidts „Kapoks Schwestern“, Christoph Heins „Trutz“ und mit Natascha Wodins „Sie kam aus Mariupol“ mehrere Romanreisen in das dunkle zwanzigste Jahrhundert Osteuropas und damit auch in unsere eigene historische Vergangenheit miterleben dürfen. „Außer sich“ darf man hier einordnen, auch wenn seine Sprunghaftigkeit keine historische Vertiefung nahelegt.
Den Versuch, einen realistischen Halt in der Drift der Geschichten und Ereignisse zu finden, teilt Salzmanns Roman mit Fatma Aydemirs Roman „Ellbogen“. Am Ende werden die Heldinnen beider Bücher Zeugen des jüngsten Putsches in der Türkei. Panzer fahren durch die Schlusskapitel, zivile Opfer liegen auf der Straße. So viel Gegenwartsbezug braucht es zumindest im vorliegenden Roman keineswegs, um gegenwärtig zu sein. Dazu reichen ihm die aufgeregten Inkonsistenzen des Erzählens selbst, denen man mit einer scherzhaften, von Sasha Salzmann aufgegriffenen Wortschöpfung von Selim Özdogan einen ‚Vibrationshintergrund‘ bescheinigen könnte. In diesem Sinne ist „Außer sich“ ein junges Buch und eine einzigartige Markierung gegenwärtigen Erzählens.
Geschichten aus der Familie
kommen Ali eher in den Sinn
wie Blätter eines Abrisskalender
Ein Wille zur Disruption ist unverkennbar – der Schauplatz Istanbul in Sasha Salzmanns Roman „Außer mir“.
Foto: Regina Schmeken
Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2017. 367 Seiten,
22 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Von Moskau über Grosny nach Berlin, Istanbul und Odessa: Sasha Marianna Salzmann
erzählt in ihrem Roman „Außer sich“ von einem Zwillingspaar auf der Suche nach sich selbst
VON HUBERT WINKELS
Nach hause“ steht in Anführungszeichen zu Beginn des Romans. Und „zu hause“ zu Beginn seines zweiten Teils. Und dann stürzen wir auch sofort in einen Aufbruch in die Fremde. Sachen werden zusammengeklaubt, ein Abschiedswinken, und schon geht’s los. Nur wohin? Das ist die Frage, die den Roman nicht loslässt. Er erzählt von Aufbrüchen im Raum, in der Zeit, in neue erotische und familiäre Konstellationen, in neue Identitäten. Er springt durch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, von Wolgograd nach Moskau, nach Czernowitz, Almaty und Grosny. Und von Berlin und der deutschen Provinz nach Istanbul, Odessa und zurück. Er findet weder Rast noch Ruhe, vibriert vor Auf- und Umbruchspannung, und feiert bei allem erzählten Elend den Verwandlungsstress, wenn nicht als historisches und biografisches, so doch als literarisches Prinzip.
Als treibende Kraft fungiert die Geschlechtsambivalenz, grammatikalisch gefasst, die Differenz von Er und Sie. Die in Russland geborenen Zwillinge Anton und Alissa haben sich aus den Augen verloren. Als jüdische Kontingentflüchtlinge sind sie nach dem Ende der Sowjetunion mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, dort aufgewachsen, und eines Tages ist Anton verschwunden. Eine Postkarte aus Istanbul ist der einzige Hinweis auf seinen Aufenthalt, und Schwester Ali taucht sogleich ein in das Nachtleben am Bosporus, in das Achtzigerjahre-Discoglamour, in versyphte Wohnungen, den Dreck und die Freundschaft, den Lärm und die Geilheit, in denen alle stabilen Einteilungen der Welt verschwimmen, oben und unten, damals und jetzt, dort und hier und vor allem die Differenz der Geschlechter.
Man spritzt Tosteron, statt Kokain zu schnupfen, und wenn der Bart später sprießt, dann wird es schwer, als Gogo-Tänzerin in goldenen Hotpants am goldenen Horn sein Geld zu verdienen, wie Alis Instant-Geliebte(r) Katho oder Katharina erfahren muss. Katho, der auch Katüscha genannt wird, wie jener Stalin’sche Mehrfachraketenwerfer, dem ein russisches Liebeslied gilt, das den Übergang vom Kriegs- zum erotischen Schauplatz zwanglos in einem Wort hinbekommt.
Nicht ganz so metaphorisch reibungslos funktionieren die Übergänge im Roman von Alis Istanbuler Grenzüberschreitungen zu den historischen Wirbeln, in die ihre jüdischen Herkunftsfamilien hineingerissen wurden. Die erinnerten, geträumten, erfundenen Geschichten rund um Eltern und Großeltern aus Moskau und Wolgo- respektive Stalingrad kommen der zwischen Abend- und Morgenland taumelnden Ali eher wie Blätter eines Abrisskalenders in den Sinn. Mit grob gezackten Rändern, unmittelbar szenisch konkret, dialogstark, viel Historie im Privaten raffend, dann der Abbruch oder Aufbruch.
Es herrscht schließlich Hungersnot, Krieg, Verfolgung, bittere Armut. Alis Familie väterlicherseits darbt und kämpft und prügelt sich und schlägt sich durch. Der mütterliche Zweig hingegen, medizinisch ausgebildet, arbeitet in höchster Not an der Grenze zwischen Leben und Tod. In Kliniken und Lazarettbaracken. Praktizierte Menschlichkeit in Elendszeiten. Aber irgendwann flieht auch die jüdische Familie von Etinka und Schura. Es gibt Kinder, Abriss der Seite. Sprung nach Deutschland oder Istanbul, wo die in sexueller Lust und ewigem Unvollständigkeitsschmerz taumelnde Ali auf der Suche nach ihrem anderen Ich namens Anton ist.
Diese Abruptheit hat einen starken Grund. Sasha Salzmann hält nicht nur theoretisch nichts von historisch-biografischen Kausalitäten, sie möchte sie auch nicht mit sinnigen Erzählungen kompensieren. Kurz, eine narrative Logik, die das Disparate sinnhaft ordnet, ist ihr zuwider. Wie soll aber ein Erzählfaden verlaufen, wenn er plausible Reihen von Intention, Handlung und praktischen Folgen nicht gelten lässt? Man kann auf die dunklen geschichtlichen Kräfte setzen und auf das historisch und familiär-biografische Unbewusste, aber es ändert ja nichts daran, dass dann eben dieses Unbewusste konstruktiv gestaltet werden muss.
Exakt hier, in der Mitte des erzählerischen Problems, wird eine Stärke dieses disparaten Romans erkennbar. Er arbeitet mit großer Kunstfertigkeit am Auf- und Umbruch, an der Nicht-Passung von Herkünften und Personen und Absichten, sodass dieser Wille zur Disruption unübersehbar ist. Zugleich aber sollen die Brüche formal, im Medium der Erzählung gebändigt werden. So wird im epischen Erzählen zur echten Herausforderung, was im zeitgenössischen Theater schon gewöhnlich geworden ist, für Sasha Salzmann, die Dramatikerin, Dramaturgin und Gründerin der Studiobühne am Berliner Maxim-Gorki-Theater, erst recht. Die Herausforderung besteht darin, nicht-linear, nicht-evolutionär, nicht-genealogisch, nicht-aufbauend, nicht-zielgerichtet Geschichte zu erzählen und doch die Plausibilität nicht aufzugeben.
Wenn der Roman von den Turbulenzen berichtet, in die jüdische Familien in der Sowjetunion, schon gar während des Zweiten Weltkriegs geraten, wenn er von Fluchten, Verstecken, mühsamem Wiederaufbau erzählt, dann wählt er als Schwerpunkt immer die dünne Stelle, an der ein Band zu reißen droht, sei es das der historischen Konsequenz oder der Familienharmonie. Dass Ehepartner nicht zueinander passen oder die große Geschichte allen eine Nase dreht, ist geradezu die Voraussetzung für die vielfache Persönlichkeit Ali/Antons, für ihren Willen zur Ambiguität, zur Transsexualität, zur Vielheit.
Das alles ist nahe an den Theoriemoden der Gegenwart, aber dennoch als Sprachkunstwerk ein radikales, mutiges Unternehmen, stark übertreibend in der Bildlichkeit, gelegentlich buchstäblich russisch schreibend und drauf verweisend, dass in der russischen Umgangssprache die übertreibende Verzerrung immer schon enthalten ist, im Schimpfen wie im Liebkosen. Diese Orgel wirft Sasha Salzmann an und sucht mit ihr einen Strom zu entfesseln, der in mehrere Richtungen fließt. Deshalb springen wir von der Türkei 2015 folgende zu Stalins Tod, in die niedersächsische Nachkriegsprovinz und wieder zur freundlichsten Gestalt des Romans, dem türkischen Onkel Cemal oder Cemo oder Cemal Bey, der immer einen heißen Tee und heilende Hände parat hält.
Cemal ist kein leiblicher Onkel, sondern der von Alis bestem Berliner Freund/Geliebten Elyas. Der melancholische und doch munter alles deterritorialisierende Roman bevorzugt die nicht-familiale rettende Zukunft und kann doch nicht drüber hinwegtäuschen, dass die ‚bucklige Verwandtschaft‘ immer schon da ist. Sasha Salzmann trägt dem Rechnung, indem sie am Ende der meisten Kapitel die erzählenden Ali/Anton als Ich auftreten und mit Schmerzen einer Geschichte zuhören lässt, die meist jemand aus der Familie erzählt. Zumal Mama Valja und Papa Kostja, der Tunichtgut, mit dem es ein böses Ende nimmt. Das Erzähler-Ich lauscht und kommt in ein bitteres Grübeln, in dem sich der schmerzhafte Kern der Geschichte offenbart, die Not des ehrlichen Ich-Sagens.
„Ich erdenke mir neue Personen, wie ich mir alte zusammensetze. Stelle mir das Leben meines Bruders vor, stelle mir vor, er würde all das tun, wozu ich nicht in der Lage gewesen bin, sehe ihn als einen, der hinauszieht in die Welt, weil er den Mut besitzt, der mir immer gefehlt hat, und ich vermisse ihn.“ Die Offenbarung liegt weniger in solchen postmodernen Erzählreflexionen als im Grübeln darüber, wie man den Eltern oder Großeltern sagt, was man ist oder dabei ist zu werden. Ein Mann nämlich, wenn man die Tochter Alissa ist. Es braucht Mut selbst dann noch, wenn einem schon der Bart wächst. Der Mut zur Wandlung des Geschlechts und mehr noch, es zu sagen.
Wenn hier das offensichtliche Geheimnis des sinnig so betitelten Romans „Außer sich“ liegt, dann muss man zugestehen, Sasha Salzmann hat eine überbordende Form gefunden, über das zu sprechen, was nicht zu sagen, nur literarisch zu zeigen ist. Sie hat ein Buch der Wandlungen geschrieben, in dem nichts bleibt, was es ist. Aber es ist eben nicht einfach nachgeahmte modische Hybridkultur, sondern ein expressiver, auch angstgetriebener Wunschtraum darin. Man hört selbst hier noch ein fernes Echo des Novalis-Wortes „Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause“.
Ob das breit angelegte historische Panorama des Romans in dieser Form gut aufgehoben ist, darf man fragen. Wir haben ja eben erst mit Katja Petrowskajas „Vielleicht Esther“, mit Kathrin Schmidts „Kapoks Schwestern“, Christoph Heins „Trutz“ und mit Natascha Wodins „Sie kam aus Mariupol“ mehrere Romanreisen in das dunkle zwanzigste Jahrhundert Osteuropas und damit auch in unsere eigene historische Vergangenheit miterleben dürfen. „Außer sich“ darf man hier einordnen, auch wenn seine Sprunghaftigkeit keine historische Vertiefung nahelegt.
Den Versuch, einen realistischen Halt in der Drift der Geschichten und Ereignisse zu finden, teilt Salzmanns Roman mit Fatma Aydemirs Roman „Ellbogen“. Am Ende werden die Heldinnen beider Bücher Zeugen des jüngsten Putsches in der Türkei. Panzer fahren durch die Schlusskapitel, zivile Opfer liegen auf der Straße. So viel Gegenwartsbezug braucht es zumindest im vorliegenden Roman keineswegs, um gegenwärtig zu sein. Dazu reichen ihm die aufgeregten Inkonsistenzen des Erzählens selbst, denen man mit einer scherzhaften, von Sasha Salzmann aufgegriffenen Wortschöpfung von Selim Özdogan einen ‚Vibrationshintergrund‘ bescheinigen könnte. In diesem Sinne ist „Außer sich“ ein junges Buch und eine einzigartige Markierung gegenwärtigen Erzählens.
Geschichten aus der Familie
kommen Ali eher in den Sinn
wie Blätter eines Abrisskalender
Ein Wille zur Disruption ist unverkennbar – der Schauplatz Istanbul in Sasha Salzmanns Roman „Außer mir“.
Foto: Regina Schmeken
Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2017. 367 Seiten,
22 Euro. E-Book 18,99 Euro.
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»Jede Figur behandelt Salzmann mit derselben Sorgfalt von innen her. ... Es macht Freude, ihr zu folgen.« Ulrich Gutmair taz. die tageszeitung 20171010