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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Nachkriegszeit ohne Krieg: Wilhelm Genazinos Roman "Außer uns spricht niemand über uns" kennt keine Sieger
Als er das Tattoo auf der Schulter seiner Freundin bemerkt, ist es wahrscheinlich schon zu spät. Zufällig ist er nach einem langen Gang durch Frankfurt am Straßenrand, als sie auf der Marathonstrecke an ihm vorbeirennt, er erhascht einen Blick, später wird er die gesamte Tätowierung sehen, die sich über Carolas Rücken zieht, aber was sie dazu gebracht hat, fragt er nicht. Ebenso überrascht und sprachlos wird er sein, als sie schwanger wird, das Kind verliert, ihn verlässt und weiter mit ihm schläft. Nur als sie ihn zwingt, anstelle der alten, löchrigen Unterhemden mit ihr zusammen neue zu kaufen, wehrt er sich ebenso massiv wie fruchtlos.
Was ist das für ein Erzähler in Wilhelm Genazinos neuem Roman "Außer uns spricht niemand über uns", der sich ununterbrochen mitteilt und weder seinen Namen nennt noch sein Alter preisgibt, der durch die Stadt läuft und noch die kleinsten Dinge beobachtet, aber die Anzeichen der Lebenskrise seiner Freundin übersieht? Auf den ersten Blick ist dieser Erzähler ein Verwandter zahlreicher Figuren, deren Perspektive frühere Romane des Büchnerpreisträgers von 2004 prägt, all dieser äußerlich eher passiven Männer, die sich komplementäre Frauen suchen und oft schwer damit zurechtkommen, wenn sich diese als labil erweisen, all dieser Beobachter des Alltags, leicht zu erschüttern, voller Angst, den Anschluss zu verpassen und zugleich davor, sich in ein Räderwerk einzufügen, das ihrem Wesen ganz fremd ist.
Tatsächlich ist auch dieser Roman geprägt vom vertrauten Genazino-Blick auf Straßenszenen, der aus dem Ensemble einzelne Figuren herausgreift, kurz verfolgt und dann in eine Abschweifung mündet, die das eigene Leben oder das der näheren Umgebung betrifft. Der Blick gilt Kindern, die der Welt ebenso ratlos gegenüberstehen wie der Erzähler oder die Passanten, die in Mülltonnen wühlen und den Erzähler, wenn sie ihn von früher kennen, gern übersehen; er gilt schließlich kleinen und größeren Tieren und ihrem Krabbeln und Laufen in einer feindlichen Umgebung.
Vertraut ist auch die Beharrlichkeit, mit der nach einer Daseinsform gesucht wird, die hier "ein bedeutsames Leben" genannt wird und gegen die "Vernutzung des Alltags" gehalten wird. In diesem Roman aber ist sie noch mehr als in den unmittelbaren Vorgängern mit der Arbeitswelt verknüpft, mit der prekären Existenz als schlecht bezahlter Teil der Kulturindustrie - Genazinos Erzähler war Schauspieler, lebt nun von der gelegentlichen Moderation von Modeschauen in der Provinz und von den Aufträgen, die ihm Radiosender geben. Auch sie werden weniger, registriert der Erzähler und geht in Gedanken den Verlauf eines Protests dagegen durch, um es dann doch dabei zu belassen: "Ich konnte nicht die Frau vom Besetzungsbüro anrufen und sagen: Sie haben mich zu einem Anhängsel des Senders gemacht, Sie können mich jetzt nicht so einfach fallen lassen. Dann hätte sie nur kurz gelacht und geantwortet: Sie waren von Anfang an ein Anhängsel wie alle anderen auch. Daraufhin hätte ich sie korrigiert: Sie selbst haben einmal gesagt, dass ich ein Teil des Zusammenhangs bin. Das sind Sie auch jetzt noch, hätte sie dann geantwortet und wieder gelacht."
Es macht den Reiz dieses Romans aus, dass hier wie in vielen anderen Passagen das Beobachtete und Gesagte weit über seinen unmittelbaren Ort hinausweist, denn "Teil des Zusammenhangs" ist der Erzähler natürlich nicht nur, was seine Tätigkeit für den Rundfunk, die Sparziele der Sendeanstalten oder die Qualität seiner Arbeit angeht - einmal, erfahren wir, verhaspelt er sich bei einer Aufnahme andauernd, und es fragt sich, ob die offensichtliche Geduld seiner Umgebung im Studio ein gutes Zeichen oder ein gegensätzliches Signal ist, dass man also Nachsicht mit einem zeigt, der sowieso keine Zukunft hat.
Und wenn im Roman von den Rucksäcken der Passanten, vom Radiowunschkonzert und seinem Platz im Leben oder vom Marathonlauf die Rede ist, dann ist damit immer auch das Angebot verbunden, ausgehend von diesen Dingen die Existenz des Erzählers zu beleuchten - ein Angebot nicht einmal so sehr für den Leser als für den Erzähler selbst. Der nämlich führt eher ein lang andauerndes Selbstgespräch, als dass er ein Bekenntnis ablegt; er erklärt nicht uns, sondern sich selbst, was ihm widerfährt, und auch dort, wo es mit dem bedeutungsvoll aufgeladenen Alltag leicht etwas zu viel werden könnte, bildet dieses Verfahren ab, wie sehr die Weltsicht dieses in mancher Hinsicht extrem dünnhäutigen Erzählers von den Dingen abhängt, die er beobachtet. "Eine Art Nachkriegszeit ohne Krieg", so nimmt er seine Umgebung in all ihren Auflösungserscheinungen wahr.
Zugleich aber beobachtet er sich selbst. "Ich staunte über die Stringenz meiner Gedanken", heißt es einmal; an anderer Stelle dann: "Ich litt an meiner wieder auftauchenden Überempfindlichkeit und wollte nach Hause", und tatsächlich gilt seine Wachsamkeit mindestens so sehr der eigenen Wahrnehmung wie der wahrgenommenen Welt. "Wenn etwas anfängt, schwierig zu werden, kann es nur noch schwieriger werden", meint er und signalisiert zugleich, dass diese Erkenntnis keineswegs in Stein gemeißelt ist, eher ein Spiel mit einer These, die in diesem Moment ihre Berechtigung haben mag, im nächsten womöglich schon nicht mehr.
Wer so lebt, trifft offenbar ungern Entscheidungen, denkt aber gern über verpasste Gelegenheiten der Vergangenheit nach und antizipiert eine Zukunft, die auch deshalb so konkrete Züge tragen mag, weil sie jederzeit ganz anders entworfen werden kann. Es ist eine verschwimmende Zeit, die dort geschildert wird, und in den Protagonisten des Romans scheinen die Kinder durch, die sie waren, ebenso wie die Greise, die sie sein werden. Für den Erzähler gehört dazu ein Versprechen, das ihm Carola einmal gab - sie werde später einmal seinen Rollstuhl schieben, hatte sie gesagt, und als sie sich dann von ihm trennt, gilt seine erste Frage dem Versprechen. Das gelte "nach wie vor, sagte Carola; wenn es so weit ist, rufst du mich an".
Seine immense Tragik bezieht dieser Roman aber gerade aus dem Zusammenprall dieser ständig wandelbaren Perspektive und dem, was sich gedanklich eben nicht beeinflussen lässt oder, schlimmer noch, was versäumt wurde und nun nicht mehr zu ändern ist. Dass Carola Selbstmord begeht, wird fast beiläufig berichtet, und wie ein Kind scheint der Erzähler dieses Ereignis vor allem insofern wahrzunehmen, als ihm von nun an etwas fehlen wird. Wenn er nach Gründen sucht, findet er sie in Carolas Alkoholismus, bereut ein bisschen, dass er sie auf Distanz gehalten hat, erinnert sich an ihr mitunter mütterliches Verhalten ihm selbst gegenüber und sucht die Verlorene am Ende in einer Liebesbeziehung mit wiederum ihrer energischen Mutter.
"Außer uns spricht niemand über uns": Das kann man sich, je nach Betonung, so deuten, dass sich niemand für den anderen interessiert. Oder so, dass niemand, der von anderen berichtet, diese eben tatsächlich erfasst - wirklich über "uns" spricht er nicht. Oder aber so, dass in der zweiten Person Plural die kleinste mögliche Menge gedacht wird, das Paar.
Das hieße dann: Wenn sich die beiden, um die es geht, nicht erkennen, wenn sie nicht verstehen, was sie zueinander treibt oder voneinander trennt, dann wird es auch kein anderer tun. In dieser Lesart stünde das Schweigen des Erzählers im Fokus, seine Gedankenfluchten, sein Ausweichen vor allem - am hilfreichsten zeigt er sich ausgerechnet in dem Moment, als Carola das Kind verliert und er ihr hilft, sich von den Spuren zu reinigen. Und so ist dieses brillant erzählte Buch auch eines der traurigsten, die dieser Autor je geschrieben hat.
TILMAN SPRECKELSEN
Wilhelm Genazino: "Außer uns spricht niemand über uns". Roman
Carl Hanser Verlag, München 2016. 160 S., geb., 18,- [Euro].
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"Wilhelm Genazino erweitert mit dem neuen Roman sein Bestiarium der tragikomischen Antihelden.(...) Virtuoser berichtet derzeit keiner aus der Vorschule des Unglücks, keiner porträtiert eleganter und hartnäckiger die Dienstverweigerer des spätmodernen smarten Daseins. (...) Mit geradezu bewundernswerter Emphase und Langmut, ja mit peinlicher Genauigkeit zeichnet Genazino die Tapferkeit nach, mit der seine lebensuntauglichen Männer ihr Schicksal erdulden." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 03.08.16
"Unser Dasein als ewig Wartende: Keiner schreibt über diesen Zustand so berauschend nüchtern wie der Frankfurter Wilhelm Genazino. Auch seinen neuesten Roman zu lesen ist wie durchs Leben flanieren." Anne Haeming, Spiegel Online, 01.08.16
"Ein unterhaltsames, aber auch unbehagliches Buch. Das ist komisch, angefangen mit der fabelhaftesten ersten Romanseite der Saison. ... Es ist jedoch auch hochdramatisch. (...) selbstverständlich flötet über allem das übliche, wunderschön glanzvolle Genazino-Gejammer." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 05.08.16
"Wilhelm Genazino schreibt oft tolle, hintersinnige Sätze und gestaltet witzige Szenen ... Nur gut, dass Genazinos Helden nicht nur schwierige Existenzen führen, sondern diese auch etwas Lächerliches haben und manchmal komisch sind. Vermutlich fühlt man sich deshalb jedes Mal aufs Neue zu dieser (Literatur-)Wirklichkeit so hingezogen." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 29.07.16
"In gewisser Weise löst Genazino in seinem bizarren und imponierenden Alterswerk das ein, was er in seinen Anfangsjahren in der Zeitschrift 'pardon' um 1970 begonnen hat: Er führt den satirischen Ansatz melancholisch über in ein ästhetisches Gesamtwerk." Helmut Böttiger, Deutschlandradio Kultur, 25.07.16
"'Außer uns spricht niemand über uns' - so nämlich heißt ein weiterer Roman Wilhelm Genazinos, und er scheint den genazinesken Zyklus heiterer Resignation fortzusetzen. Man traue dem Schein aber nie so ganz ... Genazino unternimmt etwas ganz Neues: Er lässt Tatsächliches geschehen. ... Seine Suche nach Bedeutsamkeit geht weiter, aber wir sind unterdessen auf ein Stück bedeutsamer Literatur getroffen." Alexander Solloch, NDR Kultur Neue Bücher, 20.07.16
"Genazino macht glücklich (...) seinen neuesten Roman zu lesen ist wie durchs Leben zu flanieren." Anne Haeming, Spiegel Online, 02.08.16
"Wie so oft bei Genazino verbirgt sich unter der komischen Oberfläche die ganze Tragik der menschlichen Existenz." Wolf Grombacher, Neue Westfälische, 06.08.16
"Wilhelm Genazino gelingt es (...) erneut, das Leiden seiner Hauptfigur mit unvergleichlicher Lakonie und sprachlicher Brillanz in ernsthafte Komik und skurrile Philosophie zu verwandeln." Günter Keil, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 06.08.16
"Er erzählt die Geschichte seines vertrackten Helden in einer sprachschönen Mischung von Witz, Boshaftigkeit und Grazie." Rainer Kasselt, Sächsische Zeitung, 13.08.16