Es beginnt mit einer Rückkehr und einem rätselhaften Manuskript: Julio hat die Schriftstellerin Aliza seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Und doch soll gerade er, ein Costa Ricaner, der schon lange in den USA lebt, nach ihrem Tod entscheiden, was mit Alizas letztem Buch geschieht. Gebannt und bald nicht mehr nur lesend folgt Julio den Fährten, die er in dem Manuskript zu erkennen glaubt. Seine Suche gerät zur Reise quer durch Lateinamerika und tief hinein in die Geschichte: von der völkischen Kolonie Nueva Germania in Paraguay, gegründet von Elisabeth Förster-Nietzsche, über einen indigenen Stamm im Amazonas, der mitsamt seiner Sprache ausgelöscht wird, bis hin zu den Bürgerkriegen in Guatemala und Nicaragua, die europäische Rucksacktouristen und Hippies hautnah miterlebten – auch Aliza. »Austral« ist literarische Spurensicherung und Expedition zugleich: Carlos Fonseca entfaltet einen Echoraum, in dem sich historische und fiktive, aber immer wahre Geschichten kreuzen – über den Süden als Ort europäischer Faszinationen, Enttäuschungen und Ausbeutungen. Ein brillanter politischer Roman über die Spiralen der Erinnerung und die Frage: Wie lässt sich erzählen, was für immer verschwunden ist?
»Was Carlos Fonseca schreibt, erinnert an das Beste von Bolaño, Calvino und Borges.« The Guardian
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2024Im Irrgarten der Südsehnsucht
Mit seinem Roman "Austral" malt Carlos Fonseca ein düsteres Bild lateinamerikanischer Erinnerungskultur
Ein Wort, kurz und doch schillernd, aber auch etwas beliebig ausgewählt für einen dichten und vielschichtigen Roman: Der Titel "Austral", den der junge mittelamerikanische Autor Carlos Fonseca seinem 2022 veröffentlichten dritten großen literarischen Opus zugedacht hat, ist so universal, dass er auch bei den Übersetzungen wie in der nun erschienenen deutschen Fassung Verwendung findet. "Austral" verweist auf den Süden und die Südhalbkugel. Fonseca beschreibt, wie der Süden in Lateinamerika auf sein Roman-Personal, vor allem Europäer, einen merkwürdigen Sog ausübt, für die meisten mit unheilvoller Wirkung: Sie enden in geistiger Umnachtung, verlieren ihre Sprache oder sterben.
Hauptakteur ist ein gewisser Julio Gamboa, der viele Züge des Autors trägt. Beide sind in Costa Rica geboren, beide Literaturprofessoren, Julio lehrt an einer Universität im amerikanischen Cincinnati, Fonseca im englischen Cambridge. Eigentlich könnte dieser Julio in der Ichform auftreten, doch das verhindert ein erzähltechnischer Kniff, der das Rückgrat des Romans bildet. Fonsecas Alter Ego Julio wird der unvollendete Roman einer Freundin aus Jugendtagen zugespielt, mit der testamentarisch von der Autorin verfügten Bitte an ihn, den Text zu vollenden. Sie hatte nach einem Schlaganfall an Aphasie gelitten und ist gestorben. Ihr Roman ist weitgehend in der Ichform geschrieben.
Zweimal Ich, das hätte die Geschichte, die sehr schnell ein beachtliches Maß an Komplexität erreicht, noch unübersichtlicher werden lassen. Immerhin sind die zum Teil recht langen Passagen aus dem unvollendeten Werk der fiktiven, aus England stammenden jüdischen Schriftstellerin Aliza Abravanel in Kursivdruck vom übrigen Text abgehoben. Julio Gamboa reist in den Süden, in das argentinische Humahuaca, wo die Autorin des vorgeblichen Romanfragments in einer Künstlerkolonie ihre letzte Lebenszeit verbracht hat. Dort will er sich das Manuskript aushändigen lassen und Erinnerungen wachrufen an die Jahre, in denen er zusammen mit Aliza Lateinamerika durchstreift hat.
In dem Roman besucht der fiktive Anthropologe Karl-Heinz von Mühlfeld in Paraguay die 1886 von dem Antisemiten Bernhard Förster und dessen Frau Elisabeth Nietzsche, der Schwester des Philosophen, zusammen mit deutschen Ausreisewilligen gegründete Siedlung Nueva Germania (Neu-Germanien), in der eine arisch reine Gemeinschaft entstehen sollte. Von Mühlfeld will erkunden, warum das Experiment scheiterte. Obwohl die Siedlung überlebte - sie existiert heute noch -, war das "arische" Abenteuer spätestens zu Ende, als Förster, vom Alkohol zerrüttet, 1889 Selbstmord beging.
Ausgerechnet in Nueva Germania stößt von Mühlfeld auf das letzte Individuum einer indigenen Ethnie, deren übrige Mitglieder durch die von den Deutschen eingeschleppten Krankheiten dahingerafft wurden. Dem Vater der Romanautorin fallen die Aufzeichnungen des Anthropologen in die Hände, er reist daraufhin nach Paraguay, um den Indio zu treffen, doch der ist auch dem Alkohol verfallen. Und von Mühlfeld? Der hat über seinen Forschungen den Verstand verloren, er siecht in einem Sanatorium in der Schweiz dahin und stirbt dort schließlich.
Fonsecas Roman "Austral" beschreibt eine Art Fluch, der über der Sehnsucht seiner Personen nach dem Süden liegt. Es ist die Beschwörung eines unaufhörlichen Verlusts, des Verschwindens von Geschichte, Sprache und Erinnerung. Julio begibt sich schließlich nach Guatemala, wo sich einst die Lebenswege von ihm und Aliza getrennt haben. Sie war in Lateinamerika geblieben, er hat sich in Nordamerika eingerichtet. In Guatemala entdeckt er wundersamerweise einen Menschen, der das verwirklicht, was ihm als Mittel gegen den Verlust der Erinnerung und als Erlösung erscheint. In einem Dorf, das während des Völkermords unter der Diktatur von Efraín Ríos Montt zerstört wurde, hat der Mann, ein gewisser Juan Paz, ein "Gedächtnistheater" mit Bildern, Gegenständen und Aufzeichnungen diverser Art aufgebaut, für das es sogar ein historisches Vorbild gibt: das "Theater der Erinnerung" des italienischen Renaissance-Gelehrten Giulio Camillo, ein Gedächtnisgebäude, "in dem das gesamte Wissen der Welt versammelt" sein sollte. In diesem Erinnerungsraum versammelt Fonseca schließlich fast sein gesamtes Personal.
In dem von Sabine Giersberg zuverlässig ins Deutsche übersetzten Roman zeichnet Fonseca ein düsteres Bild von Lateinamerika. Der Leser muss bereit sein, sich in einen Irrgarten hineinführen zu lassen, in dessen Dickicht aus historischen wie fiktiven Episoden und Figuren, dem unentwegten Wechsel der Örtlichkeiten und Zeitebenen, unzähligen Zitaten und Andeutungen er sich leicht verheddert und aus dem er schwer wieder herausfindet. Fonseca hat unglaublich viel eigenes Wissen in den Text hineingepackt. Sein Erzählstil ist eloquent, präzise und bisweilen von poetischer Dichte. Es schimmert freilich immer wieder der Literaturprofessor hindurch.
Der unvollendete Roman der Aliza ist derart umfangreich und komplex, dass allein er schon als komplettes Werk tragfähig wäre, allenfalls durch eine kurze Rahmenhandlung ergänzt. "Austral" wie auch die beiden bislang nicht ins Deutsche übersetzten Vorgängerromane ("Museo animal" und "Coronel Lágrimas") bieten so viele Denkanstöße und ein ebenso umfangreiches wie originelles Themenspektrum, dass der siebenunddreißigjährige Carlos Fonseca als eine große Hoffnung im derzeit dahindümpelnden lateinamerikanischen Literaturbetrieb gelten kann. JOSEF OEHRLEIN
Carlos Fonseca: "Austral". Roman.
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Verlag Wagenbach, Berlin 2024. 192 S., Abb., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Mit seinem Roman "Austral" malt Carlos Fonseca ein düsteres Bild lateinamerikanischer Erinnerungskultur
Ein Wort, kurz und doch schillernd, aber auch etwas beliebig ausgewählt für einen dichten und vielschichtigen Roman: Der Titel "Austral", den der junge mittelamerikanische Autor Carlos Fonseca seinem 2022 veröffentlichten dritten großen literarischen Opus zugedacht hat, ist so universal, dass er auch bei den Übersetzungen wie in der nun erschienenen deutschen Fassung Verwendung findet. "Austral" verweist auf den Süden und die Südhalbkugel. Fonseca beschreibt, wie der Süden in Lateinamerika auf sein Roman-Personal, vor allem Europäer, einen merkwürdigen Sog ausübt, für die meisten mit unheilvoller Wirkung: Sie enden in geistiger Umnachtung, verlieren ihre Sprache oder sterben.
Hauptakteur ist ein gewisser Julio Gamboa, der viele Züge des Autors trägt. Beide sind in Costa Rica geboren, beide Literaturprofessoren, Julio lehrt an einer Universität im amerikanischen Cincinnati, Fonseca im englischen Cambridge. Eigentlich könnte dieser Julio in der Ichform auftreten, doch das verhindert ein erzähltechnischer Kniff, der das Rückgrat des Romans bildet. Fonsecas Alter Ego Julio wird der unvollendete Roman einer Freundin aus Jugendtagen zugespielt, mit der testamentarisch von der Autorin verfügten Bitte an ihn, den Text zu vollenden. Sie hatte nach einem Schlaganfall an Aphasie gelitten und ist gestorben. Ihr Roman ist weitgehend in der Ichform geschrieben.
Zweimal Ich, das hätte die Geschichte, die sehr schnell ein beachtliches Maß an Komplexität erreicht, noch unübersichtlicher werden lassen. Immerhin sind die zum Teil recht langen Passagen aus dem unvollendeten Werk der fiktiven, aus England stammenden jüdischen Schriftstellerin Aliza Abravanel in Kursivdruck vom übrigen Text abgehoben. Julio Gamboa reist in den Süden, in das argentinische Humahuaca, wo die Autorin des vorgeblichen Romanfragments in einer Künstlerkolonie ihre letzte Lebenszeit verbracht hat. Dort will er sich das Manuskript aushändigen lassen und Erinnerungen wachrufen an die Jahre, in denen er zusammen mit Aliza Lateinamerika durchstreift hat.
In dem Roman besucht der fiktive Anthropologe Karl-Heinz von Mühlfeld in Paraguay die 1886 von dem Antisemiten Bernhard Förster und dessen Frau Elisabeth Nietzsche, der Schwester des Philosophen, zusammen mit deutschen Ausreisewilligen gegründete Siedlung Nueva Germania (Neu-Germanien), in der eine arisch reine Gemeinschaft entstehen sollte. Von Mühlfeld will erkunden, warum das Experiment scheiterte. Obwohl die Siedlung überlebte - sie existiert heute noch -, war das "arische" Abenteuer spätestens zu Ende, als Förster, vom Alkohol zerrüttet, 1889 Selbstmord beging.
Ausgerechnet in Nueva Germania stößt von Mühlfeld auf das letzte Individuum einer indigenen Ethnie, deren übrige Mitglieder durch die von den Deutschen eingeschleppten Krankheiten dahingerafft wurden. Dem Vater der Romanautorin fallen die Aufzeichnungen des Anthropologen in die Hände, er reist daraufhin nach Paraguay, um den Indio zu treffen, doch der ist auch dem Alkohol verfallen. Und von Mühlfeld? Der hat über seinen Forschungen den Verstand verloren, er siecht in einem Sanatorium in der Schweiz dahin und stirbt dort schließlich.
Fonsecas Roman "Austral" beschreibt eine Art Fluch, der über der Sehnsucht seiner Personen nach dem Süden liegt. Es ist die Beschwörung eines unaufhörlichen Verlusts, des Verschwindens von Geschichte, Sprache und Erinnerung. Julio begibt sich schließlich nach Guatemala, wo sich einst die Lebenswege von ihm und Aliza getrennt haben. Sie war in Lateinamerika geblieben, er hat sich in Nordamerika eingerichtet. In Guatemala entdeckt er wundersamerweise einen Menschen, der das verwirklicht, was ihm als Mittel gegen den Verlust der Erinnerung und als Erlösung erscheint. In einem Dorf, das während des Völkermords unter der Diktatur von Efraín Ríos Montt zerstört wurde, hat der Mann, ein gewisser Juan Paz, ein "Gedächtnistheater" mit Bildern, Gegenständen und Aufzeichnungen diverser Art aufgebaut, für das es sogar ein historisches Vorbild gibt: das "Theater der Erinnerung" des italienischen Renaissance-Gelehrten Giulio Camillo, ein Gedächtnisgebäude, "in dem das gesamte Wissen der Welt versammelt" sein sollte. In diesem Erinnerungsraum versammelt Fonseca schließlich fast sein gesamtes Personal.
In dem von Sabine Giersberg zuverlässig ins Deutsche übersetzten Roman zeichnet Fonseca ein düsteres Bild von Lateinamerika. Der Leser muss bereit sein, sich in einen Irrgarten hineinführen zu lassen, in dessen Dickicht aus historischen wie fiktiven Episoden und Figuren, dem unentwegten Wechsel der Örtlichkeiten und Zeitebenen, unzähligen Zitaten und Andeutungen er sich leicht verheddert und aus dem er schwer wieder herausfindet. Fonseca hat unglaublich viel eigenes Wissen in den Text hineingepackt. Sein Erzählstil ist eloquent, präzise und bisweilen von poetischer Dichte. Es schimmert freilich immer wieder der Literaturprofessor hindurch.
Der unvollendete Roman der Aliza ist derart umfangreich und komplex, dass allein er schon als komplettes Werk tragfähig wäre, allenfalls durch eine kurze Rahmenhandlung ergänzt. "Austral" wie auch die beiden bislang nicht ins Deutsche übersetzten Vorgängerromane ("Museo animal" und "Coronel Lágrimas") bieten so viele Denkanstöße und ein ebenso umfangreiches wie originelles Themenspektrum, dass der siebenunddreißigjährige Carlos Fonseca als eine große Hoffnung im derzeit dahindümpelnden lateinamerikanischen Literaturbetrieb gelten kann. JOSEF OEHRLEIN
Carlos Fonseca: "Austral". Roman.
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Verlag Wagenbach, Berlin 2024. 192 S., Abb., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ziemlich komplex und damit manchmal verwirrend ist der neue Roman des Literaturprofessors Carlos Fonseca, räumt Rezensent Josef Oehrlein ein, der Protagonist ist ebenfalls Professor und soll den unvollendeten Roman einer verstorbenen Freundin fortsetzen. Dafür muss er nach Argentinien in eine Künstlerkolonie reisen, in der der Roman angesiedelt ist, auch Guatemala steht auf dem Reiseplan, erfahren wir. Im Manuskript geht es um die völkische Kolonie "Nueva Germania", gegründet durch den Antisemiten Bernhard Förster. Ein "düsteres Bild" von Südamerika zeichnet der Autor laut Rezensent auf allen erzählerischen Ebenen des Buches - der Titel "Austral" verweist dabei auf den dunklen Sog, der vom Süden ausgeht. Das dichte Wissensnetz, das Fonseca webt, macht ihn für Oehrlein zu einem vielversprechenden Talent der lateinamerikanischen Literaturszene.
© Perlentaucher Medien GmbH
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