»Ganzheitlichkeit« oder »Selbstverwirklichung« – Begriffe wie diese gehören zum typischen Vokabular des linksalternativen Milieus in der Bundesrepublik der 1970er und frühen 1980er Jahre. Sven Reichardt legt eine Kultur- und Sozialgeschichte dieser Lebenspraxis vor und blickt in sämtliche Bereiche: Arbeiten und Wohnen, Sexualität und Körpertechniken, Drogen und Spiritualität sowie Erziehung und Öffentlichkeitsarbeit. Mit einem foucaultschen Instrumentarium analysiert er den komplexen Habitus und deutet ihn als kollektiven Modus der Selbstveränderung. Eine spannende Reise in die jüngste Vergangenheit.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Nicht noch ein Buch über die Folgen von '68, stöhnt Rezensent Mathias Greffrath - allerdings nur vor der Lektüre der nun unter dem Titel "Authentizität und Gemeinschaft" herausgegebenen Habilitationsschrift von Sven Reichardt. Amüsiert, nicht zuletzt dank schrecklich-schöner Erinnerungs-Anekdoten, aber auch interessiert liest der Kritiker auf 1018 Seiten Geschichten aus Wohngemeinschaftsküchen und psychonanalytisch inspirierten Kinderläden, erinnert sich an strickende Männer und Diskussionen über "kommerzialisiertes Triebleben" und verfolgt, wie einstige alternative Lebensentwürfe von der Lebensstil-Industrie "herunterökonomisiert" wurden. Ein intellektuelles und lehrreiches Buch, das erfreulich viele Lesarten der 68er anbietet, meint der Rezensent, der allerdings mit der "Gewichtung der frühen Ökobewegung" nicht ganz zufrieden ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2014Sie hatten Erfolg, aber anders als gedacht
Neue Lebensformen hier und jetzt! Sven Reichardt zeigt, warum die linksalternativen Milieus der siebziger und achtziger Jahre rückblickend als Avantgarde gelten können.
Sven Reichardt, Jahrgang 1967, Zeithistoriker in Konstanz, erzählt die Geschichte linksalternativer Lebensformen im Deutschland der siebziger und frühen achtziger Jahre wahrhaft erschöpfend. Die Erfindung und Entwicklung der Alternativpresse; die Etablierung der Wohngemeinschaft als neuer Wohnform; Szenekneipen und -buchläden; die Frauenbewegung, die Umgestaltungen der Sexualität; die Kinderläden; der Aufbau der Psychoszene - nur eine kleine Auswahl. Dabei macht Reichardt sukzessive ein durchgreifendes Deutungs- und Handlungsmuster der so unterschiedlichen Gruppen und Initiativen erkennbar.
Einerseits geht es gegen den Kapitalismus und seinen Staat, gegen die bürgerliche Gesellschaft, gegen Max Webers stählernes Gehäuse, das alle Spontaneität und Lebenskraft unterdrücke (so sah es schon die Lebensreformbewegung am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, die Nietzsche heiligte). Zum anderen setzten sich die alternativen Milieus der siebziger und achtziger Jahre von der Theoriearbeit der Frankfurter Schule ab, die die endgültige Befreiung dialektisch mittels Geschichtsphilosophie und Soziologie konstruierte - Adornos ganze philosophische Anstrengung zielte auf den Nachweis, wie die gesellschaftliche Selbstbefreiung gesellschaftlich verstellt sei.
Reichardt beginnt seine Erzählung mit dem Ausschluss der Kommune 1 aus dem Berliner SDS (1967). Nein, sagten die Antiautoritären der späten Sechziger, wir wollen alles, und zwar jetzt. Wir verzichten auf den Subtilmarxismus der Frankfurter Schule. Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muss sein - ohne sie. Die Figur wiederholte sich noch einmal als Farce in den Auseinandersetzungen der Spontis (zu denen Joschka Fischer gehörte) mit den K-Gruppen, dieser Micky-Maus-Version von Lenins Kaderpartei, die sich mit Arbeiteragitation und absurden Ableitungen zum historischen Stand des internationalen Klassenkampfs vergnügten.
Dagegen: Erfahrungshunger, Politik in der ersten Person. Die Alternative muss sich jetzt und hier zeigen, jetzt und hier ihre Überzeugungskraft entfalten. Keine geschichtsphilosophischen Vertröstungen mehr. Diese Idee leitet die Kommunen 1 und 2 ebenso wie die Urschrei-Therapie, die Ende der Siebziger plötzlich so viele Linke anzog. Die "taz" wurde gegründet, weil wir nicht mehr warten wollten, bis sich die bürgerliche Presse die linken Überzeugungen angeeignet hätte. Der Drogenrausch gewährte eine gegenwärtige religiöse Erfahrung - wie William James schon 1905 dargelegt hatte -, statt den Adepten auf Vergangenheit oder Zukunft zu verweisen. In den Kinderläden sollte der "neue Mensch", ad hoc sein Leben beginnen.
Szenekneipen, besetzte Häuser, Landkommunen konnten sich als befreite Gebiete inszenieren, während draußen in der Gesellschaft unablässig die von Jürgen Habermas diagnostizierte Kolonisierung der Lebenswelt durch das System sich fortsetzte. Sogar die RAF glaubte, mit ihren Gewaltverbrechen diesseits aller politischen und militärischen Strategien unmittelbar und momentan die revolutionäre Befreiung evozieren zu können.
Ausführlich und nicht ohne Genuss referiert Sven Reinhardt die schweren internen Auseinandersetzungen, die auf all diesen befreiten Gebieten von Anfang an tobten. Die Parteitage der Grünen boten via Fernsehen der Öffentlichkeit davon eine lebhafte Anschauung. Das "Ausdiskutieren", dem sich ja die Wohngemeinschaften ebenso wie die "taz" ausgiebig widmeten, befeuerte und lähmte diese Milieus gründlich. Rasch gelangten sie zu der Überzeugung, dass all ihre Anstrengungen - sofern sie die Gesellschaft revolutionieren sollten - scheitern müssten, und das nur eine Frage der Zeit wäre. Stets findet sich in den Zeugnissen schließlich doch so etwas wie Adornos Lebensgefühl. Das Draußen, die Gesellschaft, der Kapitalismus, der Staat bewiesen ihre unüberwindliche Macht über die alternative Innenwelt.
Der Autor macht deutlich, dass die linksalternativen Milieus der siebziger und achtziger Jahre auf vielfältige und paradoxe Weise erfolgreich waren. Aber es waren eben die Kommune-Experimente und nicht der SDS, die in den folgenden Jahren als Organisation der Avantgarde funktionierten - inzwischen existieren öffentlich geförderte Wohngemeinschaften für Senioren. Die aus der Psychoanalyse abgeleiteten Therapien bilden längst anerkannte kulturelle Praktiken. Reichardt, der für alle Milieus immer wieder herausarbeitet, dass ihre Mitglieder aus den Mittelschichten stammten (statt aus dem Proletariat, dem marxistischen Heer des Lichts), skizziert eine Entwicklung, die aus der Alternativszene schließlich zur Neuen Bürgerlichkeit führte. Die revolutionären Milieus der Siebziger und Achtziger funktionierten als deren Avantgarde.
In ihrer Studie über den "neuen Geist des Kapitalismus" (1999) unterscheiden Luc Boltanski und Ève Chiapello die Tradition der Sozialkritik, die sich im Protest gegen die Verteilungsungerechtigkeit manifestiert und zu Gewerkschaftsarbeit und den sozialistischen Parteien führt, von einer zweiten Tradition, die sie Künstlerkritik nennen. Sie kreist um Entfremdung, die Inauthentizität der Menschen und Dinge, die Entzauberung der Welt durch Geld und Ökonomie. Die Künstlerkritik verkörpert sich in der Boheme - diese Tradition reicht bis Adorno. Es leuchtet ein, dass Karl Marx, der dazu gehörte, die befreite Gesellschaft, wenn überhaupt, nach dem Vorbild der Boheme imaginierte, morgens Jäger, mittags Hirt und am Abend kritischer Kritiker.
Mit Sven Reichardts Erzählung kann man diese Tradition bis in die Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre verfolgen. Was als sozialistische Kritik am Kapitalismus und seiner Gesellschaft einsetzte - und in den K-Gruppen komisch-kläglich scheiterte -, transformierte sich in die Künstlerkritik an der Gesellschaft, mittels derer die Alternativen ihre Lebensformen erfanden, eine Spezialität der bürgerlich-gebildeten Boheme. Nicht das Proletariat erweist sich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als siegreiche Klasse, sondern die Boheme. Und Boltanski/Chiapello demonstrieren, wie sie sogar in die Theorien des industriellen Managements eindringt. Nicht das System kolonisiert die Lebenswelt - in dieser Hinsicht kolonisiert die Lebenswelt das System.
MICHAEL RUTSCHKY.
Sven Reichardt: "Authentizität und Gemeinschaft". Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 1018 S., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neue Lebensformen hier und jetzt! Sven Reichardt zeigt, warum die linksalternativen Milieus der siebziger und achtziger Jahre rückblickend als Avantgarde gelten können.
Sven Reichardt, Jahrgang 1967, Zeithistoriker in Konstanz, erzählt die Geschichte linksalternativer Lebensformen im Deutschland der siebziger und frühen achtziger Jahre wahrhaft erschöpfend. Die Erfindung und Entwicklung der Alternativpresse; die Etablierung der Wohngemeinschaft als neuer Wohnform; Szenekneipen und -buchläden; die Frauenbewegung, die Umgestaltungen der Sexualität; die Kinderläden; der Aufbau der Psychoszene - nur eine kleine Auswahl. Dabei macht Reichardt sukzessive ein durchgreifendes Deutungs- und Handlungsmuster der so unterschiedlichen Gruppen und Initiativen erkennbar.
Einerseits geht es gegen den Kapitalismus und seinen Staat, gegen die bürgerliche Gesellschaft, gegen Max Webers stählernes Gehäuse, das alle Spontaneität und Lebenskraft unterdrücke (so sah es schon die Lebensreformbewegung am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, die Nietzsche heiligte). Zum anderen setzten sich die alternativen Milieus der siebziger und achtziger Jahre von der Theoriearbeit der Frankfurter Schule ab, die die endgültige Befreiung dialektisch mittels Geschichtsphilosophie und Soziologie konstruierte - Adornos ganze philosophische Anstrengung zielte auf den Nachweis, wie die gesellschaftliche Selbstbefreiung gesellschaftlich verstellt sei.
Reichardt beginnt seine Erzählung mit dem Ausschluss der Kommune 1 aus dem Berliner SDS (1967). Nein, sagten die Antiautoritären der späten Sechziger, wir wollen alles, und zwar jetzt. Wir verzichten auf den Subtilmarxismus der Frankfurter Schule. Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muss sein - ohne sie. Die Figur wiederholte sich noch einmal als Farce in den Auseinandersetzungen der Spontis (zu denen Joschka Fischer gehörte) mit den K-Gruppen, dieser Micky-Maus-Version von Lenins Kaderpartei, die sich mit Arbeiteragitation und absurden Ableitungen zum historischen Stand des internationalen Klassenkampfs vergnügten.
Dagegen: Erfahrungshunger, Politik in der ersten Person. Die Alternative muss sich jetzt und hier zeigen, jetzt und hier ihre Überzeugungskraft entfalten. Keine geschichtsphilosophischen Vertröstungen mehr. Diese Idee leitet die Kommunen 1 und 2 ebenso wie die Urschrei-Therapie, die Ende der Siebziger plötzlich so viele Linke anzog. Die "taz" wurde gegründet, weil wir nicht mehr warten wollten, bis sich die bürgerliche Presse die linken Überzeugungen angeeignet hätte. Der Drogenrausch gewährte eine gegenwärtige religiöse Erfahrung - wie William James schon 1905 dargelegt hatte -, statt den Adepten auf Vergangenheit oder Zukunft zu verweisen. In den Kinderläden sollte der "neue Mensch", ad hoc sein Leben beginnen.
Szenekneipen, besetzte Häuser, Landkommunen konnten sich als befreite Gebiete inszenieren, während draußen in der Gesellschaft unablässig die von Jürgen Habermas diagnostizierte Kolonisierung der Lebenswelt durch das System sich fortsetzte. Sogar die RAF glaubte, mit ihren Gewaltverbrechen diesseits aller politischen und militärischen Strategien unmittelbar und momentan die revolutionäre Befreiung evozieren zu können.
Ausführlich und nicht ohne Genuss referiert Sven Reinhardt die schweren internen Auseinandersetzungen, die auf all diesen befreiten Gebieten von Anfang an tobten. Die Parteitage der Grünen boten via Fernsehen der Öffentlichkeit davon eine lebhafte Anschauung. Das "Ausdiskutieren", dem sich ja die Wohngemeinschaften ebenso wie die "taz" ausgiebig widmeten, befeuerte und lähmte diese Milieus gründlich. Rasch gelangten sie zu der Überzeugung, dass all ihre Anstrengungen - sofern sie die Gesellschaft revolutionieren sollten - scheitern müssten, und das nur eine Frage der Zeit wäre. Stets findet sich in den Zeugnissen schließlich doch so etwas wie Adornos Lebensgefühl. Das Draußen, die Gesellschaft, der Kapitalismus, der Staat bewiesen ihre unüberwindliche Macht über die alternative Innenwelt.
Der Autor macht deutlich, dass die linksalternativen Milieus der siebziger und achtziger Jahre auf vielfältige und paradoxe Weise erfolgreich waren. Aber es waren eben die Kommune-Experimente und nicht der SDS, die in den folgenden Jahren als Organisation der Avantgarde funktionierten - inzwischen existieren öffentlich geförderte Wohngemeinschaften für Senioren. Die aus der Psychoanalyse abgeleiteten Therapien bilden längst anerkannte kulturelle Praktiken. Reichardt, der für alle Milieus immer wieder herausarbeitet, dass ihre Mitglieder aus den Mittelschichten stammten (statt aus dem Proletariat, dem marxistischen Heer des Lichts), skizziert eine Entwicklung, die aus der Alternativszene schließlich zur Neuen Bürgerlichkeit führte. Die revolutionären Milieus der Siebziger und Achtziger funktionierten als deren Avantgarde.
In ihrer Studie über den "neuen Geist des Kapitalismus" (1999) unterscheiden Luc Boltanski und Ève Chiapello die Tradition der Sozialkritik, die sich im Protest gegen die Verteilungsungerechtigkeit manifestiert und zu Gewerkschaftsarbeit und den sozialistischen Parteien führt, von einer zweiten Tradition, die sie Künstlerkritik nennen. Sie kreist um Entfremdung, die Inauthentizität der Menschen und Dinge, die Entzauberung der Welt durch Geld und Ökonomie. Die Künstlerkritik verkörpert sich in der Boheme - diese Tradition reicht bis Adorno. Es leuchtet ein, dass Karl Marx, der dazu gehörte, die befreite Gesellschaft, wenn überhaupt, nach dem Vorbild der Boheme imaginierte, morgens Jäger, mittags Hirt und am Abend kritischer Kritiker.
Mit Sven Reichardts Erzählung kann man diese Tradition bis in die Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre verfolgen. Was als sozialistische Kritik am Kapitalismus und seiner Gesellschaft einsetzte - und in den K-Gruppen komisch-kläglich scheiterte -, transformierte sich in die Künstlerkritik an der Gesellschaft, mittels derer die Alternativen ihre Lebensformen erfanden, eine Spezialität der bürgerlich-gebildeten Boheme. Nicht das Proletariat erweist sich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als siegreiche Klasse, sondern die Boheme. Und Boltanski/Chiapello demonstrieren, wie sie sogar in die Theorien des industriellen Managements eindringt. Nicht das System kolonisiert die Lebenswelt - in dieser Hinsicht kolonisiert die Lebenswelt das System.
MICHAEL RUTSCHKY.
Sven Reichardt: "Authentizität und Gemeinschaft". Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 1018 S., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der intellektuelle Gewinn von Reichardts Habilitationschrift liegt ... in seiner heiter-epischen Demonstration der Dialektik von Kontinuität und Bruch, von 'Auswandern' und Integration.« Mathias Greffrath DIE ZEIT 20140626