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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Was dem Staat und der Wirtschaft tatsächlich droht
Künstliche Intelligenz (KI) produziert Wissen. Diese Schlüsseltechnologie ermöglicht, unvorstellbare und stetig wachsende Datenmengen in nie dagewesener Weise zu erschließen und nutzbar zu machen - die Chancen scheinen gewaltig: Neue Medikamente, neue Materialien, hilfreichere Suchmaschinen, persönliche Allzweck-Assistenten, übermenschlich qualifizierte Qualitätsprüfer und zielgenauere Empfehlungs-Algorithmen sind nur einige Beispiele, die Liste ließe sich fortsetzen. Unternehmen aller Branchen prüfen, was das bedeutet, wie sich Produkte, Prozesse und Berufsbilder ändern. Zu Recht. Mehr Wohlstand für viele ist auch durch diesen technischen Fortschritt am Ende ein äußerst wahrscheinliches Szenario.
Doch wie in jeder Umbruchphase gibt es Risiken, mitunter droht sogar erheblicher Schaden. Zwei lesenswerte Bände sind nun erschienen, die sich mit Gefahren für unser Zusammenleben auseinandersetzen, die mit KI einhergehen können. Beide befassen sich nicht mit technologischen Details oder der nötigen Informatik, sondern mit den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemen zumal der westlichen Länder. "Die Verselbstständigung des Kapitalismus - Wie KI Menschen und Wirtschaft steuert und für mehr Bürokratie sorgt" heißt das Buch, das der Ökonom Mathias Binswanger vorgelegt hat. Binswanger holt historisch weit aus und wird grundsätzlich. Er skizziert, was eigentlich Wesensmerkmale einer kapitalistischen Wirtschaft sind, und führt dann beispielhaft die Sichtweisen von Werner Sombart, Karl Marx, Max Weber und Jeremy Bentham an. Er kontrastiert dabei, wie sich der Wunsch nach Freiheit, das Versprechen vom wachsenden Wohlstand und das Bedürfnis nach Planbarkeit, Kontrolle und Steuerung zueinander verhalten, wie sie sich ergänzen und widersprechen. Sodann erläutert er, welchen (sinnvollen) Beitrag Bürokratie prinzipiell leistet, wieso sie im Staat und in großen Unternehmen überhaupt entstanden ist und warum sie leider - wenn auch aus guten Absichten - ständig wächst und ihre Wirkungsweise längst dem Ideal entglitten ist.
Nachdem Binswanger so das Feld bereitet hat, führt er aus, wie sich zunächst Digitalisierung allgemein und nun insbesondere KI auswirken. Und warum diese Technologie so verlockend ist sowohl für kapitalistische wie auch für bürokratische Tendenzen. Mehr Daten schneller zu verarbeiten, genauere Vorhersagen zu treffen und Maschinen sogar Entscheidungen zu übertragen, helfe einerseits, die Effizienz zu steigern, und andererseits, Verhalten noch viel genauer zu steuern, zu kontrollieren und entsprechende Anreize zu setzen. Binswanger spricht passend von Controlling-Bürokratie. Und argumentiert, dass sich hier die Interessen des Staates und der Wirtschaft durchaus entsprechen: "Die Wirtschaft möchte möglichst berechenbare und steuerbare, normierte Dauerkonsumenten. Und der Staat möchte möglichst berechenbare Steuerzahler, die als normierte Gutmenschen keine Schwierigkeiten machen und alle staatlichen Pflichten ohne Murren akzeptieren. Im Idealfall lässt sich dieses gemeinsame Interesse von Wirtschaft und Staat über Synergieeffekte nutzen."
In ihrem Buch "Automated Democracy - Die Neuverteilung von Macht und Einfluss im digitalen Staat" gehen wiederum der Ökonom Bruno S. Frey und der Jurist Christian R. Ulbrich der Frage nach, wie die durch KI beschleunigte und wirkmächtigere Digitalisierung das politische System beeinträchtigen könnte. Sie entwerfen durchaus düstere Szenarien, warnen etwa ausdrücklich davor, dass aus Demokratien "digitale Autokratien" werden oder zumindest "stark paternalistische Kontrollstaaten". Auch sie verweisen, ganz ähnlich wie Binswanger, auf die Feinsteuerungs- und Regelungsmöglichkeiten, die sich mittels KI und noch mehr Daten ergeben könnten - und dies zudem zu erschwinglichen Kosten. Frey und Ulbrich zeigen dabei ein aus ihrer Sicht bestehendes Dilemma auf: Die Digitalisierung des Staates halten sie für unausweichlich und letztlich eben auch wünschenswert, weil sich nur so die durch Vernetzung komplexer gewordene Welt überhaupt auf Dauer erfassen und verwalten lasse. Auf immer mächtigere und kompetentere Algorithmen zu verzichten, halten sie in diesem Sinne für fahrlässig und im Grunde eben für schlicht nicht möglich. Sie führen währenddessen nebenbei in die Theorie der Politischen Ökonomie, der Plattformökonomie und der Digitalisierung ein. Und sie illustrieren immer wieder an ausgewählten Beispielen, wie sich das konkret äußert.
Sowohl das Autorenduo Frey/Ulbrich als auch der Solist Binswanger unterbreiten Vorschläge, wie sich den von ihnen dargestellten Gefahren vorbeugen ließe. Binswanger verlangt konkret, das Bargeld zu erhalten und niemanden zu zwingen, Gesundheits-Apps, smarte Häuser oder Autos zu nutzen - und so aus seiner Sicht nötige Autonomie zu gewährleisten. Frey/Ulbrich sind abstrakter und plädieren beispielsweise für bestimmte Design-Eigenschaften von Algorithmen. Dass sie alle aus der Perspektive der föderalen, freiheitlichen Schweiz darauf blicken, ist erfrischend. Beide Bände bereichern die Debatte und heben sich wohltuend von der ja ebenfalls existierenden düsteren KI-Apokalyptik ab. ALEXANDER ARMBRUSTER
Mathias Binswanger: Die Verselbstständigung des Kapitalismus - Wie KI Menschen und Wirtschaft steuert und für mehr Bürokratie sorgt, Wiley-VCH, Weinheim 2024, 288 Seiten, 26 Euro.
Christian Ulbrich und Bruno Frey: Automated Democracy - Die Neuverteilung von Macht und Einfluss im digitalen Staat, Herder Verlag, Freiburg 2024, 384 Seiten, 26 Euro.
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