Ein mutiges Buch einer der engagiertesten Frauen der Welt: ein Manifest für die Zeit nach der Pandemie »Azadi heißt Freiheit.« Ob sie als Erzählerin in ihren Bestseller-Romanen wie »Der Gott der kleinen Dinge« andere Universen entwirft oder in ihren Essays unsere Welt schonungslos hinterfragt: Kompromisslos kritisiert die indische Autorin Arundhati Roy im Namen der Freiheit die Gesellschaften, die in Ost wie West immer nationalistischer agieren. Schonungslos untersucht sie Umweltzerstörung, Ausbeutung und Überwachung. Und doch muss die Pandemie nicht der Endpunkt dieses Weltvernichtungsprogramms sein: Denn was wäre, wenn Corona ein Portal wäre, an dem wir uns entscheiden müssen, was wir zurücklassen und was wir mit uns nehmen? Die Pandemie könnte eine Wende bedeuten. Der unnachgiebige Blick der Aktivistin Arundhati Roy kann uns Hoffnung schenken. »Arundhati Roy ist eine der überzeugendsten und originellsten Denkerinnen unserer Zeit.« Naomi Klein »Arundhati Roy ist eine der besten Schreiberinnen auf dem Subkontinent. Eine geniale Beobachterin Indiens, ironisch im Ton, herzhaft in der Sache.« Laura Höflinger, Der Spiegel
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Martin Kämpchen ist froh, dass wenigstens die Werke Arundhati Roys noch auf Deutsch erscheinen, nachdem er vergeblich auf die Übersetzungen anderer indischer Schriftsteller*innen wartete. "Azadi heißt Freiheit" versammelt Essays der berühmten indischen Autorin und Aktivistin der vergangenen Jahre, erklärt Kämpchen, der bereits im Titel, ein Wort in Urdu, Provokation erkennt. Mit "rhetorischer Brillanz" bringe Roy in ihren Texten zahlreiche Probleme Indiens zu Wort: Lynchjustiz, Korruption und Benachteiligung muslimischer Minderheiten und besonders der Hindu-Nationalismus als nationale sowie internationale Gefahr. Als "Weckruf" und "Brandrede" versteht Kämpfchen diese Texte, dass sie in dieser Funktion nicht auch abwägen und differenzieren, bedauert er sehr. Sie kann so demagogisch sein, wie die Gegner, die sie bekämpft, lernt er. Selbstzweifel scheint sie nicht zu kennen. Von den Herausgebern hätte Kämpchen sich ein erklärendes Nachwort und stärkere Auswahl der Texte gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.12.2021Im tragischsten
Land der Welt
Gegen Arundhati Roys Essays über
Armut, Hunger und Polizeigewalt in Indien wirkt die
deutsche Corona-Debatte wie ein Luxus-Geplänkel
VON SONJA ZEKRI
Corona und Verschwörungsblödsinn sind, wie man weiß, Blutsgeschwister. Diese Tatsache bestätigt sich auch beim Blick auf eine sehr ferne Variante, die indische. Covid wurde von Muslimen erfunden, glauben viele Hindus, die Pandemie durch ein Superspreader-Event der islamischen Missionsbewegung Tablighi Jamaat verbreitet. Das Virus ist ein Instrument des biologischen Dschihad.
Weit hergeholt? Bizarr? Natürlich. Andere Vorbehalte, sprechen wir es aus: andere Vorurteile gegen Muslime, denen in Indien die Hindu-Rechte und damit auch die Regierung und viele Medien anhängen, sind in Europa deutlich anschlussfähiger. Rechte Hindus betrachteten den Muslim „als frauenhassenden, terroristischen Dschihadisten“, schreibt die indische Schriftstellerin und Publizistin Arundhati Roy in ihrem neuen Essayband „Azadi heißt Freiheit“. Sie stilisierten sich sogar zum „Retter“ muslimischer Frauen. Das klingt wiederum doch sehr vertraut.
Roys Buch enthält zehn Texte aus den Jahren 2018 bis 2021, Dankesreden, Zeitungsartikel, Vorträge, Vorlesungen. Manchmal taucht sie ein in die Innenpolitik dieses oder jenes Bundesstaates, aber im Grunde ist „Azadi heißt Freiheit“ ein einziger großer Text, eine Abrechnung mit Indiens Premierminister Narendra Modi.
An dieser Stelle eine Bitte an die Publizistinnen und Publizisten der Welt. Bitte verzichten Sie möglichst auf Faschismus-Vergleiche. Die deutschen Leserinnen und Leser werden durchaus Ihr Entsetzen teilen, wenn Sie die Verfolgung von Minderheiten in Ihrem Land, in diesem Fall also: Indien aufdecken, wenn Sie über Massaker schreiben wie die Ermordung von 2000 Muslimen im Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002, über Repressionen gegen Anwälte, Journalisten und Aktivisten, über Gesetze, die Menschen zu Bürgern zweiter Klasse machen wie Indiens neues Staatsbürgergesetz. Es ist nicht nötig und sogar kontraproduktiv, beispielsweise die Nürnberger Rassegesetze ins Spiel zu bringen. Jeder Faschismus-Vergleich löst in Deutschland starke, aber fast immer die falschen Reaktionen aus, denn am Ende geht es immer nur um Deutschland.
Dabei ist dies ein Buch über Indien, das, wie Roy schreibt, nicht nur ein Land ist, sondern ein ganzer Kontinent mit 780 Sprachen und mehr Religionen und Nationalitäten als in Europa. Auf diesem Kontinent ruhten einst große Hoffnungen. Bis heute zehrt Indien von seinem Ruf als größter Demokratie der Welt und vom Glanz verklärender Filme wie „Gandhi“ des britischen Schauspielers und Regisseurs Richard Attenborough, den die indische Regierung übrigens mitfinanzierte, so Roy. Es ist ja schon aus geopolitischen Gründen nicht ratsam, sich mit einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern zu überwerfen. Aber der Unterschied „zwischen dem, was Indien hätte werden können, und dem, was es geworden ist“, macht es für Roy zum „tragischsten“ Land der Welt.
Arundhati Roy, die Tochter einer syrischen Christin aus dem indischen Bundesstaat Kerala und eines hinduistischen Teeplantagen-Besitzers aus Bengalen, ist ein Geschöpf des kulturellen Reichtums ihrer Heimat und ihrer Widersprüche, als Schriftstellerin ist sie dies sogar in erhöhtem Maße. Sie beschreibt, wie sie als Kind Shakespeare zitieren, christliche Hymnen singen und tamilisches Kabarett imitieren konnte, dann von ihrer Mutter gezwungen wurde, Englisch zu sprechen, und erst danach Hindi lernte. Für Literaten in dieser Gegend könne Sprache „niemals eine Selbstverständlichkeit“ sein: „Sie muss zubereitet werden. Wie ein langsam geschmortes Gericht.“
So viel Zeit hat sie heute nicht mehr. Sie schreibt Englisch, um von vielen gehört zu werden, sie richtet sich an das Publikum in Cambridge und New York, an die Leser des Guardian und der Financial Times. Seit ihrem sensationellen Debütroman „Der Gott der kleinen Dinge“, der ihr 1997 den Durchbruch brachte, hat sie nur noch einen weiteren Roman geschrieben, „Das Ministerium des äußersten Glücks“. Alles andere sind politische Texte, Nicht-Fiktion. Für Roy ergänzt sich beides, ausführlich zitiert sie in ihren Essays aus ihren Romanen. Manchmal wirkt das aber, als vertraue sie weder der Wirkung ihrer politischen Schriften noch jener ihrer literarischen vollständig.
Nähme man die Wut der Behörden als Maßstab, müsste sie sich da keine Sorgen machen. Die Polizei klassifiziere ihre Texte inzwischen als gefährliches Schriftgut, schreibt sie, sie gelten bei der Festnahme von Aktivisten als Indiz für nationale Unzuverlässigkeit. Nur mit einem Halbsatz deutet sie an, dass ihr das irgendwann selbst zum Verhängnis werden könnte. Zumal sie nicht nur über das Fortleben des Kastensystems, des Brahmanismus, schreibt, das inzwischen von weißen amerikanischen Rassisten gelobt werde, sondern auch über Indiens Anathema – Kaschmir.
„Das Land der lebenden Toten und der sprechenden Gräber“ mit seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung ist seit der Teilung Indiens und Pakistans 1947 ein Konfliktherd zwischen den beiden Staaten, eine offene Wunde, eine Gefahr für die ganze Welt. Als die Modi-Regierung vor zwei Jahren Kaschmirs Sonderstatus als halbautonomes Gebiet aufhob, standen Pakistan und Indien am Rande eines Krieges, wieder einmal. Beide Staaten verfügen über Atomwaffen.
Arundhati Roy schreibt kraftvoll und ohne Furcht vor Wiederholungen. Der Ton höchster Dringlichkeit, das ununterbrochene Aufrütteln mag manchmal ermüden, dafür entschädigt ihr Instinkt für Zufälle. Im Januar 2020 besuchte Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro Delhi, kurz darauf US-Präsident Donald Trump. Dazwischen wurde der erste Corona-Fall in Indien bekannt. Modi nahm ein Yoga-Video auf, um die Menschen im Lockdown zu ertüchtigen, Indien exportierte noch Schutzkleidung und Beatmungsgeräte, als sich bereits Millionen Wanderarbeiter auf den Weg nach Hause gemacht hatten. Viele von ihnen waren infiziert.
Die Wanderarbeiter wussten Bescheid über Covid, schreibt Roy. Aber nicht alle betrachteten es als das größte Unglück, das ihnen je widerfahren war. Arbeitslosigkeit, Hunger, Polizeigewalt rangierten für sie gleichauf. Gegen diese lebenslange Not wirkt die schrille deutsche Corona-Debatte, in der Argumente ohne Diffamierung kaum noch vorkommen und die oft gar nicht mehr anders will als hoch- oder durchzudrehen, plötzlich wie ein Luxus-Geplänkel, selbstverliebt und eitel.
Der Besitz von Roys Texten
gilt bei der Festnahme von
Aktivisten als Beweismittel
Arundhati Roy: Azadi heißt Freiheit. Aus dem Englischen von Jan Wilm. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 254 Seiten, 24 Euro.
Instinkt für Zufälle: Arundhati Roy 2019 in New York.
Foto: Beowulf Sheehan/Imago/Zuma
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Land der Welt
Gegen Arundhati Roys Essays über
Armut, Hunger und Polizeigewalt in Indien wirkt die
deutsche Corona-Debatte wie ein Luxus-Geplänkel
VON SONJA ZEKRI
Corona und Verschwörungsblödsinn sind, wie man weiß, Blutsgeschwister. Diese Tatsache bestätigt sich auch beim Blick auf eine sehr ferne Variante, die indische. Covid wurde von Muslimen erfunden, glauben viele Hindus, die Pandemie durch ein Superspreader-Event der islamischen Missionsbewegung Tablighi Jamaat verbreitet. Das Virus ist ein Instrument des biologischen Dschihad.
Weit hergeholt? Bizarr? Natürlich. Andere Vorbehalte, sprechen wir es aus: andere Vorurteile gegen Muslime, denen in Indien die Hindu-Rechte und damit auch die Regierung und viele Medien anhängen, sind in Europa deutlich anschlussfähiger. Rechte Hindus betrachteten den Muslim „als frauenhassenden, terroristischen Dschihadisten“, schreibt die indische Schriftstellerin und Publizistin Arundhati Roy in ihrem neuen Essayband „Azadi heißt Freiheit“. Sie stilisierten sich sogar zum „Retter“ muslimischer Frauen. Das klingt wiederum doch sehr vertraut.
Roys Buch enthält zehn Texte aus den Jahren 2018 bis 2021, Dankesreden, Zeitungsartikel, Vorträge, Vorlesungen. Manchmal taucht sie ein in die Innenpolitik dieses oder jenes Bundesstaates, aber im Grunde ist „Azadi heißt Freiheit“ ein einziger großer Text, eine Abrechnung mit Indiens Premierminister Narendra Modi.
An dieser Stelle eine Bitte an die Publizistinnen und Publizisten der Welt. Bitte verzichten Sie möglichst auf Faschismus-Vergleiche. Die deutschen Leserinnen und Leser werden durchaus Ihr Entsetzen teilen, wenn Sie die Verfolgung von Minderheiten in Ihrem Land, in diesem Fall also: Indien aufdecken, wenn Sie über Massaker schreiben wie die Ermordung von 2000 Muslimen im Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002, über Repressionen gegen Anwälte, Journalisten und Aktivisten, über Gesetze, die Menschen zu Bürgern zweiter Klasse machen wie Indiens neues Staatsbürgergesetz. Es ist nicht nötig und sogar kontraproduktiv, beispielsweise die Nürnberger Rassegesetze ins Spiel zu bringen. Jeder Faschismus-Vergleich löst in Deutschland starke, aber fast immer die falschen Reaktionen aus, denn am Ende geht es immer nur um Deutschland.
Dabei ist dies ein Buch über Indien, das, wie Roy schreibt, nicht nur ein Land ist, sondern ein ganzer Kontinent mit 780 Sprachen und mehr Religionen und Nationalitäten als in Europa. Auf diesem Kontinent ruhten einst große Hoffnungen. Bis heute zehrt Indien von seinem Ruf als größter Demokratie der Welt und vom Glanz verklärender Filme wie „Gandhi“ des britischen Schauspielers und Regisseurs Richard Attenborough, den die indische Regierung übrigens mitfinanzierte, so Roy. Es ist ja schon aus geopolitischen Gründen nicht ratsam, sich mit einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern zu überwerfen. Aber der Unterschied „zwischen dem, was Indien hätte werden können, und dem, was es geworden ist“, macht es für Roy zum „tragischsten“ Land der Welt.
Arundhati Roy, die Tochter einer syrischen Christin aus dem indischen Bundesstaat Kerala und eines hinduistischen Teeplantagen-Besitzers aus Bengalen, ist ein Geschöpf des kulturellen Reichtums ihrer Heimat und ihrer Widersprüche, als Schriftstellerin ist sie dies sogar in erhöhtem Maße. Sie beschreibt, wie sie als Kind Shakespeare zitieren, christliche Hymnen singen und tamilisches Kabarett imitieren konnte, dann von ihrer Mutter gezwungen wurde, Englisch zu sprechen, und erst danach Hindi lernte. Für Literaten in dieser Gegend könne Sprache „niemals eine Selbstverständlichkeit“ sein: „Sie muss zubereitet werden. Wie ein langsam geschmortes Gericht.“
So viel Zeit hat sie heute nicht mehr. Sie schreibt Englisch, um von vielen gehört zu werden, sie richtet sich an das Publikum in Cambridge und New York, an die Leser des Guardian und der Financial Times. Seit ihrem sensationellen Debütroman „Der Gott der kleinen Dinge“, der ihr 1997 den Durchbruch brachte, hat sie nur noch einen weiteren Roman geschrieben, „Das Ministerium des äußersten Glücks“. Alles andere sind politische Texte, Nicht-Fiktion. Für Roy ergänzt sich beides, ausführlich zitiert sie in ihren Essays aus ihren Romanen. Manchmal wirkt das aber, als vertraue sie weder der Wirkung ihrer politischen Schriften noch jener ihrer literarischen vollständig.
Nähme man die Wut der Behörden als Maßstab, müsste sie sich da keine Sorgen machen. Die Polizei klassifiziere ihre Texte inzwischen als gefährliches Schriftgut, schreibt sie, sie gelten bei der Festnahme von Aktivisten als Indiz für nationale Unzuverlässigkeit. Nur mit einem Halbsatz deutet sie an, dass ihr das irgendwann selbst zum Verhängnis werden könnte. Zumal sie nicht nur über das Fortleben des Kastensystems, des Brahmanismus, schreibt, das inzwischen von weißen amerikanischen Rassisten gelobt werde, sondern auch über Indiens Anathema – Kaschmir.
„Das Land der lebenden Toten und der sprechenden Gräber“ mit seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung ist seit der Teilung Indiens und Pakistans 1947 ein Konfliktherd zwischen den beiden Staaten, eine offene Wunde, eine Gefahr für die ganze Welt. Als die Modi-Regierung vor zwei Jahren Kaschmirs Sonderstatus als halbautonomes Gebiet aufhob, standen Pakistan und Indien am Rande eines Krieges, wieder einmal. Beide Staaten verfügen über Atomwaffen.
Arundhati Roy schreibt kraftvoll und ohne Furcht vor Wiederholungen. Der Ton höchster Dringlichkeit, das ununterbrochene Aufrütteln mag manchmal ermüden, dafür entschädigt ihr Instinkt für Zufälle. Im Januar 2020 besuchte Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro Delhi, kurz darauf US-Präsident Donald Trump. Dazwischen wurde der erste Corona-Fall in Indien bekannt. Modi nahm ein Yoga-Video auf, um die Menschen im Lockdown zu ertüchtigen, Indien exportierte noch Schutzkleidung und Beatmungsgeräte, als sich bereits Millionen Wanderarbeiter auf den Weg nach Hause gemacht hatten. Viele von ihnen waren infiziert.
Die Wanderarbeiter wussten Bescheid über Covid, schreibt Roy. Aber nicht alle betrachteten es als das größte Unglück, das ihnen je widerfahren war. Arbeitslosigkeit, Hunger, Polizeigewalt rangierten für sie gleichauf. Gegen diese lebenslange Not wirkt die schrille deutsche Corona-Debatte, in der Argumente ohne Diffamierung kaum noch vorkommen und die oft gar nicht mehr anders will als hoch- oder durchzudrehen, plötzlich wie ein Luxus-Geplänkel, selbstverliebt und eitel.
Der Besitz von Roys Texten
gilt bei der Festnahme von
Aktivisten als Beweismittel
Arundhati Roy: Azadi heißt Freiheit. Aus dem Englischen von Jan Wilm. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 254 Seiten, 24 Euro.
Instinkt für Zufälle: Arundhati Roy 2019 in New York.
Foto: Beowulf Sheehan/Imago/Zuma
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2022Kritisieren mit dem Knüppel
Arundhati Roys aktuelle Essays
Überblickt man die Literatur, die von Indien zu uns herüberschwappt, finden sich immer seltener jene großen Autoren, auf deren Romane man sich freute. Amitav Ghoshs letzte Bücher sind nicht ins Deutsche übersetzt worden, auch nicht die von Amit Choudhuri und Shashi Tharoor. Vikram Seths langerwartete Fortsetzung von "Eine gute Partie" ist noch nicht erschienen. Eine Ausnahme bildet die Schriftstellerin Arundhati Roy. Ihre Aufsatzsammlungen und zuletzt ihr zweiter Roman "Das Ministerium des äußersten Glücks" (2017) sind auf Deutsch erschienen, obwohl sie eine Wirklichkeit darstellen, die mit der deutschen wenig Berührung hat. Das gilt auch für ihren jüngsten Essayband unter dem bewusst provozierenden Titel "Azadi" - das Wort für Freiheit in Urdu.
Arundhati Roy war mit ihrem ersten Roman, "Der Gott der kleinen Dinge" (1987), pfeilschnell zu Weltruhm aufgestiegen. Danach schrieb sie zwanzig Jahre lang Essays und Reden, die sie als Aktivistin bekannt machten. Sie streitet für die Rechte der Ureinwohner-Stämme, der Dalits (die indischen Armen) und der kaschmirischen Bevölkerung, gegen den Bau des Narmada-Staudamms in Nordindien, gegen Kapitalismus und Zerstörung der Umwelt durch die Großindustrie.
Generell steht Roy in Opposition zum soziopolitischen Establishment in Indien und weltweit. Darum kann sie sich mit keiner Partei und keiner Regierung arrangieren. Nicht einmal eine Lichtgestalt wie Barack Obama ließ sie gelten. Seitdem 2014 die hindunationalistische Bharatiya Janata Party in Indien an die Macht kam, ist sie deren eingeschworene Feindin und drischt literarisch wie mit einem Knüppel auf deren Premierminister Narendra Modi ein. Die Essays im vorliegenden Band wurden von 2018 bis 2021 verfasst und behandeln die in jener Zeit brodelnden nationalen Streitfragen. Angeprangert werden die Inhaftierung zahlreicher Bürgerrechtler, die wachsende Lynchjustiz, die Benachteiligung und Schikanierung der muslimischen Minderheit, Korruption auf allen Ebenen, der Versuch im Bundesland Assam, zahlreichen Muslimen ihre Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Das geschieht in der Roy eigenen aufgeregten, weder Selbstzweifel noch Differenzierung duldenden Haltung.
Wohlgemerkt, den Hindu-Nationalismus als eine Gefahr für Indien und für die internationale politisch-gesellschaftliche Wetterlage zu erkennen ist bitter notwendig. Immer noch sieht man Indien einseitig als "größte Demokratie der Welt", ohne vor der Unterwanderung seiner demokratischen Strukturen zu warnen. Hier können die Brandreden von Arundhati Roy zumindest als Weckruf dienen. Zwar steigt sie in die zeitgenössische Geschichte des Hindu-Nationalismus ein, doch dessen eigentlicher, in der Kolonialgeschichte wurzelnder Ursprung wird in keinem ihrer Essays ausgearbeitet. Dafür ist Roy zu plakativ im Ausdruck, zu versessen auf rasche Urteile; sie schießt emphatische Leuchtkugeln ab, die aber grell immer nur die eine Seite der Situation zeigen. Die rhetorisch brillante Arundhati Roy macht sich leider gerade dessen schuldig, was sie den Politikern vorwirft, nämlich einer demagogisch gefärbten Sprache und Verurteilung.
Dass die Hindu-Gesellschaft auch eine konstruktive, vom Nationalismus freie Rolle im Weltgeschehen spielen könnte, trotz struktureller Schwächen wie dem Kastenwesen, bleibt von vorneherein ausgeschlossen. Mahatma Gandhi ist für die Autorin ein rotes Tuch, vor allem weil er zu Beginn seiner politischen Laufbahn den Kasten einen - eingeschränkten - Wert zugemessen hatte. Roy hält es stattdessen mit dem Freiheitskämpfer und Sozialreformer R. B. Ambedkar, einem bedeutenden Gegenspieler des Mahatma, der sich für die Rechte der niederen Kasten und Stämme einsetzte, sich zuletzt vom Hinduismus lossagte und Buddhist wurde. Ihn ausführlich in unsere Diskurse einzubringen wäre tatsächlich ein wichtiges Anliegen.
Die Essays lassen sich bis in Einzelheiten auf die aktuelle nationale Politik ein, weshalb es wichtig gewesen wäre, die politische Entwicklung seit 2021 bis zum heutigen Zeitpunkt fortzuschreiben, etwa in einem Nachwort. Auch irritieren die vielen Wiederholungen, die entstanden sind, weil Roys Reden vor unterschiedlichen Zuhörerkreisen ähnliche Themen behandeln. MARTIN KÄMPCHEN
Arundhati Roy:
"Azadi heißt Freiheit". Essays.
Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 254 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arundhati Roys aktuelle Essays
Überblickt man die Literatur, die von Indien zu uns herüberschwappt, finden sich immer seltener jene großen Autoren, auf deren Romane man sich freute. Amitav Ghoshs letzte Bücher sind nicht ins Deutsche übersetzt worden, auch nicht die von Amit Choudhuri und Shashi Tharoor. Vikram Seths langerwartete Fortsetzung von "Eine gute Partie" ist noch nicht erschienen. Eine Ausnahme bildet die Schriftstellerin Arundhati Roy. Ihre Aufsatzsammlungen und zuletzt ihr zweiter Roman "Das Ministerium des äußersten Glücks" (2017) sind auf Deutsch erschienen, obwohl sie eine Wirklichkeit darstellen, die mit der deutschen wenig Berührung hat. Das gilt auch für ihren jüngsten Essayband unter dem bewusst provozierenden Titel "Azadi" - das Wort für Freiheit in Urdu.
Arundhati Roy war mit ihrem ersten Roman, "Der Gott der kleinen Dinge" (1987), pfeilschnell zu Weltruhm aufgestiegen. Danach schrieb sie zwanzig Jahre lang Essays und Reden, die sie als Aktivistin bekannt machten. Sie streitet für die Rechte der Ureinwohner-Stämme, der Dalits (die indischen Armen) und der kaschmirischen Bevölkerung, gegen den Bau des Narmada-Staudamms in Nordindien, gegen Kapitalismus und Zerstörung der Umwelt durch die Großindustrie.
Generell steht Roy in Opposition zum soziopolitischen Establishment in Indien und weltweit. Darum kann sie sich mit keiner Partei und keiner Regierung arrangieren. Nicht einmal eine Lichtgestalt wie Barack Obama ließ sie gelten. Seitdem 2014 die hindunationalistische Bharatiya Janata Party in Indien an die Macht kam, ist sie deren eingeschworene Feindin und drischt literarisch wie mit einem Knüppel auf deren Premierminister Narendra Modi ein. Die Essays im vorliegenden Band wurden von 2018 bis 2021 verfasst und behandeln die in jener Zeit brodelnden nationalen Streitfragen. Angeprangert werden die Inhaftierung zahlreicher Bürgerrechtler, die wachsende Lynchjustiz, die Benachteiligung und Schikanierung der muslimischen Minderheit, Korruption auf allen Ebenen, der Versuch im Bundesland Assam, zahlreichen Muslimen ihre Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Das geschieht in der Roy eigenen aufgeregten, weder Selbstzweifel noch Differenzierung duldenden Haltung.
Wohlgemerkt, den Hindu-Nationalismus als eine Gefahr für Indien und für die internationale politisch-gesellschaftliche Wetterlage zu erkennen ist bitter notwendig. Immer noch sieht man Indien einseitig als "größte Demokratie der Welt", ohne vor der Unterwanderung seiner demokratischen Strukturen zu warnen. Hier können die Brandreden von Arundhati Roy zumindest als Weckruf dienen. Zwar steigt sie in die zeitgenössische Geschichte des Hindu-Nationalismus ein, doch dessen eigentlicher, in der Kolonialgeschichte wurzelnder Ursprung wird in keinem ihrer Essays ausgearbeitet. Dafür ist Roy zu plakativ im Ausdruck, zu versessen auf rasche Urteile; sie schießt emphatische Leuchtkugeln ab, die aber grell immer nur die eine Seite der Situation zeigen. Die rhetorisch brillante Arundhati Roy macht sich leider gerade dessen schuldig, was sie den Politikern vorwirft, nämlich einer demagogisch gefärbten Sprache und Verurteilung.
Dass die Hindu-Gesellschaft auch eine konstruktive, vom Nationalismus freie Rolle im Weltgeschehen spielen könnte, trotz struktureller Schwächen wie dem Kastenwesen, bleibt von vorneherein ausgeschlossen. Mahatma Gandhi ist für die Autorin ein rotes Tuch, vor allem weil er zu Beginn seiner politischen Laufbahn den Kasten einen - eingeschränkten - Wert zugemessen hatte. Roy hält es stattdessen mit dem Freiheitskämpfer und Sozialreformer R. B. Ambedkar, einem bedeutenden Gegenspieler des Mahatma, der sich für die Rechte der niederen Kasten und Stämme einsetzte, sich zuletzt vom Hinduismus lossagte und Buddhist wurde. Ihn ausführlich in unsere Diskurse einzubringen wäre tatsächlich ein wichtiges Anliegen.
Die Essays lassen sich bis in Einzelheiten auf die aktuelle nationale Politik ein, weshalb es wichtig gewesen wäre, die politische Entwicklung seit 2021 bis zum heutigen Zeitpunkt fortzuschreiben, etwa in einem Nachwort. Auch irritieren die vielen Wiederholungen, die entstanden sind, weil Roys Reden vor unterschiedlichen Zuhörerkreisen ähnliche Themen behandeln. MARTIN KÄMPCHEN
Arundhati Roy:
"Azadi heißt Freiheit". Essays.
Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 254 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit [...] Azadi beschreibt die Schriftstellerin [...] die Möglichkeit fiktionale Welten zu entwickeln, die komplexer sind als die Realität und zugleich schonungslos deren blinde Flecken offen legen. Miriam Seidler literaturkritik.de 20220307
Rezensentin Claudia Kramatschek kann sich der inbrünstigen Kritik nur anschließen, die die Schriftstellerin Arundhati Roy in ihren nun erschienenen Essays aus den Jahren 2018 bis 2021 an der indischen Regierung übt. Vehement schreibe sie hier gegen die laut Kramatschek mittlerweile als faschistisch zu bezeichnende Führung des Landes durch Modi und die Bharatiya Janata Party an, die Kritiker aus dem Weg räumt und Muslime ablehnt. Wie "schonungslos" und mit welcher "Schärfe" Roy dabei vorgehe, findet Kramatschek unvergleichlich. Auch darin, dass Roy in ihren Essays über die Rolle von Sprache und Literatur nachdenkt, deren Freiheit in Indien unterdrückt wird, handelt es sich bei ihnen um eine "ausdrückliche Form des Widerstands", wie die Kritikerin abschließend betont.
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