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Der eine wollte nur entdecken, ein anderer widerlegen, ein Dritter auftrumpfen: An den Ufern des Euphrats gräbt Kenah Cusanit in ihrem Romandebüt "Babel" einen archäologischen Solitär aus.
Hauptsache, erst einmal Streit anfangen: Die Grabungen in Fara in den mesopotamischen Schilfsümpfen hatten noch gar nicht richtig begonnen, da bot sich Robert Koldewey, Archäologe, Architekt und Leiter der Unternehmung, schon der ersehnte nichtige Anlass dazu. Jemand hatte sein Pferd vor dem frisch befestigten Lager der Deutschen abgestellt, "in unerlaubter Nähe zu den Räumlichkeiten seiner vom Sultan des Osmanischen Reiches persönlich genehmigten Expedition". Prompt meldete Koldewey diesen Vorfall gleich drei verschiedenen Behörden, bis hinauf zum Bagdader Konsulat, das ihn über die Botschaft in Konstantinopel der dortigen Regierung meldete - die natürlich Besseres zu tun hatte, als sich um einen vierbeinigen Falschparker im Zweistromland zu kümmern. Ein ebenfalls informierter Scheich der umliegenden Dörfer jedoch, Onkel des unbedarften Reiters, ist so entzückt von dem Aufheben, dass er den Deutschen umgehend einen Besuch abstattet, um den empfindlichen Fremden mühsam und ergeben zu besänftigen. So knüpft man Freundschaften, zumindest als gewiefter Expeditionsleiter im Zweistromland vor dem Ersten Weltkrieg - zumindest in Kenah Cusanits Debütroman "Babel", der seiner Hauptfigur Koldewey an Kühnheit und Eigenwilligkeit in nichts nachsteht.
Unerschrocken privat wird die Autorin bei einer der prominentesten Gestalten der wilhelminischen Ausgrabungsbegeisterung (Koldewey bescherte Berlin das Ischtar-Tor und die Thronsaalfassade Nebukadnezars, bis heute große Attraktionen im Pergamonmuseum). Als rücksichtslos gegen die missliebigen seiner Assistenten wie gegen die eigenen Bedürfnisse lernen die Leser diesen Robert Koldewey kennen, eigenwillig in seinen Methoden und einigermaßen widerwillig im Umgang mit Auftrag- und Geldgebern im fernen Berlin. Nicht nur einmal fragt sich der Leser, inwieweit der haarsträubende Umgang Koldeweys mit seiner Blinddarmentzündung, die Abfälligkeit im Umgang mit Untergebenen oder die an Respektlosigkeit grenzende Offenheit bei einer kaiserlichen Audienz dichterischer Freiheit entstammen oder aus Kalendereintragungen, Notizen und Briefen rekonstruiert werden konnten. "Sie waren die innovativsten Ausgräber, die jemals im Orient gegraben hatten, und die angeschlagensten", schreibt Kenah Cusanit, und beiden Eigenschaften widmet sie sich hingebungsvoll.
Dabei ist die Anlage ihrer Figur noch das kleinere Wagnis im Vergleich zu den geschichtlichen und diskursiven Linien, in deren Schnittpunkt die Geschichte der Ausgrabung von Babylon steht: Mit den archäologischen Expeditionen in Mesopotamien rückt Cusanit eine Gegend in den Blick, die in der aktuellen Diskussion um kulturelle Enteignung - Stichwort: koloniale Raubkunst - noch keine große Aufmerksamkeit erfahren hat. Um den Wettstreit mit Amerika, Frankreich und vor allem England um den Ruhm der Entdeckung und um die Reichtümer Vorderasiens geht es ebenso wie um die seinerzeit unerhörte These des Mitbegründers der Deutschen Orientgesellschaft, Friedrich Delitzsch, die Bibel, das Wort Gottes, habe eine heidnische Grundlage, nämlich Babylon.
Allein dem Mit- und Gegeneinander der unterschiedlichsten Berliner Ambitionen hätte ein eigenes Buch gelten können. Ein anderes den unterschiedlichen Ansätzen: "Die Engländer dachten in Funden, die Deutschen in Befunden", stellt Cusanit, selbst Altorientalistin, fest: "Denken in Zusammenhängen unter Berücksichtigung der Details war eine Vorgehensweise, mit der man sich aus englischer Sicht finanziell nur ruinieren konnte." Ein weiteres Buch hätte die Interessenlage zwischen osmanischen Herrschern, europäischen Ausgräbern und ebenso überforderten wie übervorteilten Einheimischen zum Thema haben können: "Es gab Kulturen, die ihre Vergangenheit wiederverwendeten, und es gab Kulturen, die ihre Vergangenheit ausstellten", fasst Cusanit den zentralen Unterschied zusammen, mit der Ergänzung, dass die Europäer zur eigenen Vergangenheit durchaus auch die außerkontinentalen Wurzeln ihrer Kultur zählten.
Dazu die weltpolitische Lage: Im Jahr 1913 ist Koldewey die Gefahr eines drohenden Kriegs mit England klar, genau so klar ist ihm, dass Deutschland im Kriegsfall den Kürzeren ziehen würde. Unklar hingegen, wie dann die 20 000 numerierten und 100 000 unnumerierten Fragmente in den fünfhundert Kisten nach Berlin zu bringen wären, die sich im Hof des Grabungshauses stapeln. Tatsächlich konnte der historische Koldewey in Babylon arbeiten, bis 1917 britische Truppen in Bagdad einmarschierten. Große Teile seiner Funde gelangten erst 1927 nach Berlin, zwei Jahre nach Koldeweys Tod.
Was für ein Stoff, was für ein köstliches Gewebe aus welt- und geistesgeschichtlich Großem und persönlichem Klein-Klein! Kenah Cusanit, bislang vor allem als Lyrikerin hervorgetreten, wirft sich hinein, mit Scharfsinn und Lust an der Pointe. Die eigentliche, nur wenige Stunden umfassende Handlung allerdings bleibt unter all den Abschweifungen und Ausdeutungen blass: In ihr machen Koldewey die Symptome einer Appendizitis zu schaffen, er nimmt wider besseres Wissen Rizinusöl, rappelt sich schließlich auf und quält sich durch das weitläufige Grabungsgelände, um an den Fundamenten des Turms von Babel Gertrude Bell zu treffen. Der englischen Abenteurerin und Archäologin gilt seine Bewunderung ebenso wie einige Befürchtungen - und seine Hoffnung auf Unterstützung beim Abtransport der Funde im Krisenfall. Doch Cusanits Roman endet vor der vielversprechenden Begegnung - und auch bevor sich zeigen kann, ob sich der Grabungsleiter mit seiner kühnen Selbstmedikamentierung gerettet oder nicht vielmehr in ernste gesundheitliche Schwierigkeiten gebracht hat. Die Eskalation von Koldeweys Konflikt mit seinem Assistenten Buddensieg bleibt ebenfalls eine noch vor dem ersten Kapitel gemachte Verheißung.
Wenn Kenah Cusanit mit den Erwartungen ihrer Leser spielt, dann nicht, um letztlich deren Herz zu gewinnen. Wenn Koldewey etwa, die Bauchschmerzen nach Kräften ignorierend, mit Blick auf den Euphrat fahrig sinniert oder sich von seinem Lager am Fenster des Arbeitszimmers zur Tür oder zum Schreibtisch schleppt, hat auch der Text etwas Fahriges, Schleppendes. Der Schwung, den Cusanit ihrer Geschichte geben kann, zeigt sich vor allem in den Anekdoten, Brief- oder Wortwechseln Koldeweys. Als er zusammen mit Delitzsch von Fara wieder in Richtung Babylon zurückkehrt, verstricken sich die beiden Deutschen auf der Bootsfahrt durch die Schilfsümpfe, nicht unerwartet für den zwischen ihnen sitzenden osmanischen Ausgrabungskommissar, in eine hitzige Diskussion über den Zusammenhang von Glauben und Wissenschaft.
Eingangs hatte dieser Bedri Bey bezweifelt, dass die Europäer die Geschichte des Turmbaus von Babel vor zweitausend Jahren kennen könnten, wo dessen Fundament doch gerade erst freigelegt worden sei und nicht einmal er, geschweige denn die Einheimischen, sonderlich viel darüber wissen. Jetzt kämpft der Türke mit dem Schlaf "angesichts des immergleichen europäischen Geredes darüber, wie etwas früher gewesen sein möge, das man heute nicht mehr haben wolle, aber dennoch ganz genau erforschen müsse, um zu zeigen, wie weit man sich davon entfernt habe, nur um zu entdecken, dass man sich offenbar überhaupt nicht weit entfernt habe, was einem gar nicht aufgefallen wäre, wenn man nicht mit der ganzen Forscherei angefangen hätte". Dabei ist es solcherlei Gerede, womit Kenah Cusanit die Herzen ihrer Leser gewinnt. Schließlich haben wir uns auch heute noch nicht allzu weit von den Überzeugungen und Eitelkeiten entfernt, von denen in "Babel" die Rede ist.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Kenah Cusanit:
"Babel". Roman.
Carl Hanser Verlag,
München 2019. 272 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
"Kenah Kusanit hat einen gebildeten wie unterhaltsamen Roman über das Großereignis der babylonischen Ausgrabung kurz vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Und damit - vielleicht ungewollt - einen interessanten Begleittext verfasst zur gegenwärtigen Raubkunst-Debatte. Wobei das Buch durchaus feine Zwischentöne anschlägt, die das Grabungsprojekt keineswegs nur im Licht von kolonialer Habgier und unstatthafter Bereicherung erscheinen lässt." Angela Gutzeit, Deutschlandfunk, 27.02.19
"Ein Roman über einen Archäologen - staubtrocken, was? Nein! Mit Witz erzählt Kenah Cusanit von Robert Koldewey und dem Grabungswahn - und kommentiert die Museumspolitik von heute. ... Das Debüt der Anthropologin ... ist die reinste Freude. Weil es so kostbar ist wie ein Stück Babylon, eine derart ungewöhnliche Stimme zu entdecken." Anne Haeming, Spiegel Online, 31.01.19
"'Babel' ist randvoll mit Atmosphäre, ohne deshalb ins Atmosphärische zu kippen. ... Eine grandiose und grandios kluge Feier der Vielsprachigkeit. Die Codes der Wissenschaften, der Religionen und der Kunst stellt dieser Roman mit grosser Lust nebeneinander. Denn er weiss, dass sie sich spätestens im Unendlichen treffen." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 30.01.19
"Kenah Cusanit hat weit mehr als einen historischen Roman geschrieben. Ihre Sprache ist farbig, innovativ und reflektiert. Dank der Erfindungskraft der Autorin wird uns bewusst, was für eine einzigartige Kulturlandschaft die Region von Syrien bis zum Irak einmal war." Gundula Ludwig, NZZ am Sonntag, 27.01.19
"Der Roman ist voller Reflexionen über Heimat und Fremde, Wissenschaft und Religion, Oberfläche und Untergrund, Vergangenheit und Zukunft. ... Ein famoses Romandebüt, das sprachlich und formal überzeugt." Stefan Gmünder, Der Standard, 29.01.19
"Eine ebenso gelehrsame wie unterhaltsame, mitunter saukomische Babel Rhapsodie. Ein komödiantisches Meisterwerk ... Genüsslich lässt sich die Autorin auf die farcenhaften Episoden ein, an denen das Grabungsunternehmen am Euphrat so reich ist. Doch mit leichter Hand und wie nebenbei bringt sie auch alle wichtigen Fakten zur Stadt- und Ausgrabungsgeschichte Babylons im Erzähl-Fluss unter, ebenso die Mythen, die sich seit biblischen Zeiten um den Turm von Babel ranken." Sigrid Löffler, SWR 2 Lesenswert Magazin, 27.01.19
"Ein flirrender Debütroman ... Es ist die Weltgeschichte als Farce und Stimmengewirr, die 'Babel' entfaltet, aber die sardonische Intelligenz von Kenah Cusanit macht gleichzeitig die erhabenen Züge dahinter sichtbar." Ijoma Mangold, Die Zeit, 24.01.19