Eine unerwartete Erbschaft, zwei Säcke randvoll mit Steinen, katapultiert Iggy zurück in eine Kindheit voll Alkoholmissbrauch, körperlicher Gewalt und bizarrer DDR-Obsession. Es sind die Steine eines abgeschlagenen Wandgemäldes. Als Iggy in ihrer Genter Dachgeschosswohnung das sechs mal drei Meter große Bild zusammenfügt, stellt sich heraus, dass einige Steine fehlen. Iggy, die ihr eigenes Leben nur mit Mühe zusammenhält, tritt die Flucht nach vorn an. Gemeinsam mit ihrer Ex, der Künstlerin Luka, macht sie sich auf die Suche nach den fehlenden Puzzleteilen und der Wahrheit. Die Suche führt sie nach Berlin, wo Iggy der größten Lüge ihres verstorbenen Vaters auf die Spur kommt, eine Reise, die ihr Leben verändert. Immer an ihrer Seite, die wahre Heldin und treue Seele: Mopsdame Kuro. Backstein ist ein aufwühlendes Buch über das Aufwachsen in einer Familie, in der nichts sicher ist, außer, dass es niemanden etwas angeht. Ein beißender, feinfühlig geschriebener Entwicklungsroman mit Blick für die Möglichkeiten menschlicher Resilienz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Geht Vaters DDR-Besessenheit nicht etwas zu weit?
Wenn die Kindheit zu Besuch kommt und nicht verschwinden will: Femke Vindevogels rasanter Roman "Backstein"
Von Nils Kahlefendt
Manchmal findet man den eigenen Vater in einem Sack Bauschutt." Was sich wie der knallende erste Satz eines Mafia-Thrillers anhört, markiert im zweiten Roman der flämischen Künstlerin und Lyrikerin Femke Vindevogel den Beginn einer langen und schmerzvollen Reise in den Hochsicherheitstrakt der eigenen Kindheit. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Roald Dahl, Tove Ditlevsen oder Sylvia Plath. "It is so much safer not to feel, not to let the world touch me", schrieb Plath, ein Wissen, das sie nicht rettete - was aber die Icherzählerin von "Backstein" nicht hindert, selbst zu einer Mauer zu werden, stabiler als die Berliner und höher als die Chinesische. "Niemand konnte mich erklimmen, niemand konnte mich erfassen. Erst war ich ein Kind. Dann ein Fossil."
Iggy, eine junge Frau von 30 Jahren, die als Aufsicht in einem Genter Kunstmuseum arbeitet und außer ihrer Ex-Freundin Luka (Status Es-ist-kompliziert) und der Mopsdame Kuro (80.000 Instagram-Follower) kaum Sozialkontakte unterhält, wird durch die zwei brusthoch mit Backsteinen gefüllten Säcke vor ihrer Tür in die eigene Vergangenheit katapultiert. Die Steine, die, bestreut mit einer dünnen Schneeschicht, wie "unschuldige frischgebackene Brote" wirken, sind in Wahrheit hoch toxisch: Es ist das Kunstwerk, das Iggys Vater Dirk kurz vor seinem Tod an die Refektoriumswand des Psychiatrischen Zentrums von Sint-Jan de Deo gemalt hat. Als Iggy das sechs mal drei Meter große Bild in ihrer Dachgeschosswohnung zusammenfügt, stellt sich heraus, dass einige Puzzleteile fehlen - und dass die Suche nach ihnen der Weg sein könnte, die eigenen Versteinerungen aufzubrechen: "Seit ich Vaters Steine in meine Wohnung geholt habe, steht der Schlagbaum zu meiner Vergangenheit offen und meine Kindheit hat sich in langen Reihen bei mir für einen Besuch angestellt."
Iggys flashbackartige Erinnerungen leuchten den Alltag einer vierköpfigen Familie zwischen Alkoholmissbrauch und körperlicher wie seelischer Gewalt aus: Die Schwestern Iggy und Pinkie, noch klein, im Dröhnen eines Rockfestivals, umringt von kiffenden Männern, eine Sixpack-Pappe als Sonnenschutz auf dem Kopf. Die Ferien in der Sommerkolonie mit dem Charme eines irischen Jungeninternats aus den Fünfzigerjahren. Scheidung und Pflichtsonntage. Besuche bei intakten Familien, wo "Worte Blumen, keine Disteln" bedeuten. Der vergebliche Versuch, zu begreifen, was die Wutausbrüche des Vaters ausgelöst hat, "manchmal haben Väter einfach Hunger auf Wehrlosigkeit". Seine Alkoholsucht finanziert Dirk mit dem Verkauf von Jeans in Ostberlin, darüber hinaus geht er einer bizarren, in der niederländischen Literatur ziemlich einzigartigen DDR-Obsession nach - mit Pioniergruß, Dederon-Einkaufsbeuteln und Eierbechern in Hühnerform, aber auch einer Geruchsprobe von Iggy im Einweckglas. Flucht zwecklos, last exit Mielke. Ist dieser Mann mit dem Peace-Anhänger, der VW Käfer und, natürlich, "The Wall" von Pink Floyd liebt, ein Psychopath? Oder einfach nur ein großes Kind, ein Narzisst? Iggy tritt die Flucht nach vorn an und macht sich, unterstützt von Luka, auf die Suche nach den fehlenden Puzzlesteinen. Sie verlangt Einsicht in die psychiatrische Krankenakte des Vaters und erfährt, dass Dirk am Korsakow-Syndrom litt. Mit fast schon detektivischen Mitteln setzt sich die Protagonistin auf die Spur einer Ostberliner Geliebten des Vaters. Berlin wird zur "Loreley", die die Icherzählerin "mit Erwartungen und Hoffnungen bezirzt".
Spielverderber mögen es wohl überorchestriert finden, dass Iggy ausgerechnet in einem Ostalgie-Hotel eincheckt, in dem die Duftmischung aus dem Geruch von Braunkohle, Zweitaktmotoren und Lysol als Spray oder Duftkerze in der Lobby zu erwerben ist. Vielleicht ist es der Übermut der Autorin und ihr Hang zu schwarzem Humor? Sprachlich gehören die Passagen, in denen sich die junge Frau - trunken vor aufgestauter Wut und Sehnsucht - durch das frostklirrende Berlin schiebt, zu den stärksten Passagen des Buchs. Ein psychotischer Schub lässt die Vaterfigur "in das Fell von Berlin" schlüpfen: "Die U-Bahn, die unter mir durchfährt, lässt Vaters unterirdisches Grummeln durch meine Knochen vibrieren, die Straßen stinken nach seinem Atem, sein wüstes Gekläffe legt sich mit dem Frost an, quillt aus den Schornsteinen, den Dunstabzugshauben und den Auspuffen des vorbeiziehenden Verkehrs."
Ingrid Ostermann hat den expressiven, schnoddrigen, immer leicht übersteuert wirkenden Sound von Vindevogels Prosa genau getroffen; der Wirkung ihrer enorm bildhaften, am Gedicht geschulten Sprache kann man sich schwerlich entziehen. "Ich muss meine Kindheit in die Waschmaschine stopfen und bei 95 Grad waschen, bis sie nur noch eine verfilzte Socke ist, so klein und steif, dass ich nie mehr in die Versuchung gerate, sie anziehen zu wollen", ist Iggy noch am Anfang ihrer Reise überzeugt. Irgendwann wird sie von dieser Kindheit sprechen können wie von einer überstandenen Krankheit.
Femke Vindevogel: "Backstein". Roman.
Aus dem Niederländischen von Ingrid Ostermann. Steidl Verlag, Göttingen 2024. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn die Kindheit zu Besuch kommt und nicht verschwinden will: Femke Vindevogels rasanter Roman "Backstein"
Von Nils Kahlefendt
Manchmal findet man den eigenen Vater in einem Sack Bauschutt." Was sich wie der knallende erste Satz eines Mafia-Thrillers anhört, markiert im zweiten Roman der flämischen Künstlerin und Lyrikerin Femke Vindevogel den Beginn einer langen und schmerzvollen Reise in den Hochsicherheitstrakt der eigenen Kindheit. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Roald Dahl, Tove Ditlevsen oder Sylvia Plath. "It is so much safer not to feel, not to let the world touch me", schrieb Plath, ein Wissen, das sie nicht rettete - was aber die Icherzählerin von "Backstein" nicht hindert, selbst zu einer Mauer zu werden, stabiler als die Berliner und höher als die Chinesische. "Niemand konnte mich erklimmen, niemand konnte mich erfassen. Erst war ich ein Kind. Dann ein Fossil."
Iggy, eine junge Frau von 30 Jahren, die als Aufsicht in einem Genter Kunstmuseum arbeitet und außer ihrer Ex-Freundin Luka (Status Es-ist-kompliziert) und der Mopsdame Kuro (80.000 Instagram-Follower) kaum Sozialkontakte unterhält, wird durch die zwei brusthoch mit Backsteinen gefüllten Säcke vor ihrer Tür in die eigene Vergangenheit katapultiert. Die Steine, die, bestreut mit einer dünnen Schneeschicht, wie "unschuldige frischgebackene Brote" wirken, sind in Wahrheit hoch toxisch: Es ist das Kunstwerk, das Iggys Vater Dirk kurz vor seinem Tod an die Refektoriumswand des Psychiatrischen Zentrums von Sint-Jan de Deo gemalt hat. Als Iggy das sechs mal drei Meter große Bild in ihrer Dachgeschosswohnung zusammenfügt, stellt sich heraus, dass einige Puzzleteile fehlen - und dass die Suche nach ihnen der Weg sein könnte, die eigenen Versteinerungen aufzubrechen: "Seit ich Vaters Steine in meine Wohnung geholt habe, steht der Schlagbaum zu meiner Vergangenheit offen und meine Kindheit hat sich in langen Reihen bei mir für einen Besuch angestellt."
Iggys flashbackartige Erinnerungen leuchten den Alltag einer vierköpfigen Familie zwischen Alkoholmissbrauch und körperlicher wie seelischer Gewalt aus: Die Schwestern Iggy und Pinkie, noch klein, im Dröhnen eines Rockfestivals, umringt von kiffenden Männern, eine Sixpack-Pappe als Sonnenschutz auf dem Kopf. Die Ferien in der Sommerkolonie mit dem Charme eines irischen Jungeninternats aus den Fünfzigerjahren. Scheidung und Pflichtsonntage. Besuche bei intakten Familien, wo "Worte Blumen, keine Disteln" bedeuten. Der vergebliche Versuch, zu begreifen, was die Wutausbrüche des Vaters ausgelöst hat, "manchmal haben Väter einfach Hunger auf Wehrlosigkeit". Seine Alkoholsucht finanziert Dirk mit dem Verkauf von Jeans in Ostberlin, darüber hinaus geht er einer bizarren, in der niederländischen Literatur ziemlich einzigartigen DDR-Obsession nach - mit Pioniergruß, Dederon-Einkaufsbeuteln und Eierbechern in Hühnerform, aber auch einer Geruchsprobe von Iggy im Einweckglas. Flucht zwecklos, last exit Mielke. Ist dieser Mann mit dem Peace-Anhänger, der VW Käfer und, natürlich, "The Wall" von Pink Floyd liebt, ein Psychopath? Oder einfach nur ein großes Kind, ein Narzisst? Iggy tritt die Flucht nach vorn an und macht sich, unterstützt von Luka, auf die Suche nach den fehlenden Puzzlesteinen. Sie verlangt Einsicht in die psychiatrische Krankenakte des Vaters und erfährt, dass Dirk am Korsakow-Syndrom litt. Mit fast schon detektivischen Mitteln setzt sich die Protagonistin auf die Spur einer Ostberliner Geliebten des Vaters. Berlin wird zur "Loreley", die die Icherzählerin "mit Erwartungen und Hoffnungen bezirzt".
Spielverderber mögen es wohl überorchestriert finden, dass Iggy ausgerechnet in einem Ostalgie-Hotel eincheckt, in dem die Duftmischung aus dem Geruch von Braunkohle, Zweitaktmotoren und Lysol als Spray oder Duftkerze in der Lobby zu erwerben ist. Vielleicht ist es der Übermut der Autorin und ihr Hang zu schwarzem Humor? Sprachlich gehören die Passagen, in denen sich die junge Frau - trunken vor aufgestauter Wut und Sehnsucht - durch das frostklirrende Berlin schiebt, zu den stärksten Passagen des Buchs. Ein psychotischer Schub lässt die Vaterfigur "in das Fell von Berlin" schlüpfen: "Die U-Bahn, die unter mir durchfährt, lässt Vaters unterirdisches Grummeln durch meine Knochen vibrieren, die Straßen stinken nach seinem Atem, sein wüstes Gekläffe legt sich mit dem Frost an, quillt aus den Schornsteinen, den Dunstabzugshauben und den Auspuffen des vorbeiziehenden Verkehrs."
Ingrid Ostermann hat den expressiven, schnoddrigen, immer leicht übersteuert wirkenden Sound von Vindevogels Prosa genau getroffen; der Wirkung ihrer enorm bildhaften, am Gedicht geschulten Sprache kann man sich schwerlich entziehen. "Ich muss meine Kindheit in die Waschmaschine stopfen und bei 95 Grad waschen, bis sie nur noch eine verfilzte Socke ist, so klein und steif, dass ich nie mehr in die Versuchung gerate, sie anziehen zu wollen", ist Iggy noch am Anfang ihrer Reise überzeugt. Irgendwann wird sie von dieser Kindheit sprechen können wie von einer überstandenen Krankheit.
Femke Vindevogel: "Backstein". Roman.
Aus dem Niederländischen von Ingrid Ostermann. Steidl Verlag, Göttingen 2024. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Kaum ein gutes Haar lässt Rezensent Samuel Hamen an Femke Vindevogels Roman, in dem sich eine in ihrem privaten Leben kaum mitteilsame junge Frau an ihren gewalttätigen Vater erinnert. Das ist, stellt Hamen klar, auch schon fast alles, was hier passiert: wieder und wieder werde das Bild eines traumatisierenden Familienlebens gezeichnet, dominiert von einem brutalen, emotional kalten Vater. Die Figuren bleiben durchweg eindimensional, kritisiert der Rezensent, auch die Sprache des Romans ist nicht nuancenreich genug, bleibt in Hyperemotionalität stecken. Dass Vindevogel außerdem die Faszination des Vaters für die DDR ins Spiel bringt, hält Hamen gleichfalls für problematisch, weil das Buch lediglich auf die Gleichsetzung böser Vater = böser Staat hinaus wolle. Der Akt des Erzählens mündet hier nicht, wie wohl von Vindevogel erhofft, in Befreiung, sondern in sprachlich dürftige Zeitgeistprosa, so das unbarmherzige Resümee.
© Perlentaucher Medien GmbH
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