Die "Ausrottung" aller "unsichtbaren Feinde" des Menschen durch die medizinische Bakteriologie: Aufstieg und Fall einer Leitwissenschaft der Moderne. Als die WHO 1980 den "Tod der Pocken" verkündete, rückte die Vision einer Welt ohne Infektionskrankheiten in greifbare Nähe. Das Auftauchen neuer und die Rückkehr überwunden geglaubter Erreger machten jedoch wenig später klar, dass dies eine Illusion war. Silvia Berger beschäftigt sich mit der Geschichte jener Wissenschaft, durch deren Leistungen - allen voran der Entdeckung der pathogenen Bakterien - die "Ausrottung" der Seuchen erstmals möglich schien: die medizinische Bakteriologie. Die Autorin zeigt mit Blick auf Deutschland zwischen 1890 und 1933, dass der Glaube an die Beherrschbarkeit von Infektionskrankheiten nicht erst in neuester Zeit erschüttert wurde. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr die Bakteriologie eine tiefgreifende Krise. Der von Militärbakteriologen zwischen 1914 und 1918 rigoros verfolgte Traum von der Vernichtung aller "unsichtbaren Feinde" und der Herstellung "reiner" Körper und Territorien rückte in weite Ferne. Die einstige Renommierwissenschaft musste in den 1920er Jahren eingestehen, dass sie mit ihren Denkfiguren das komplexe Zusammenspiel von Mikro- und Makroorganismen nicht mehr erklären konnte. Statt als "Krieg" konzipierte man nun das Verhältnis zwischen Bakterien und Menschen mit Begriffen wie "Gleichgewicht" oder "Symbiose", einer Art friedlichen Koexistenz. Die Studie wurde 2008 mit dem Henry-E.-Sigerist-Preis für Nachwuchsförderung in der Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften ausgezeichnet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2009Warum mehr als die prekäre Kontrolle unserer viralen Parasiten nicht zu haben ist
Vorbei die Träume, dass sich Infektionskrankheiten ganz auslöschen lassen: Silvia Bergers Rückblick auf die Bakteriologie ist ein lesenswertes Lehrstück für eine aktuelle Einsicht.
Am Ende des 19. Jahrhunderts war im Deutschen Reich die medizinische Bakteriologie unter der Ägide Robert Kochs zur unumstrittenen Leitwissenschaft geworden. Die Versprechung dieser Wissenschaft lautete, dass die Menschheit vor einer Zukunft ohne Seuchen stehe. Grund dieses Optimismus war, dass man schließlich sicher zu wissen glaubte, wie Seuchen entstehen. Als hinreichende Ursache galten jetzt die Bakterien, und ihre Vernichtung war der einzige Weg, Krankheiten in den Griff zu bekommen. Vorstellungen, dass schlechte sanitäre Bedingungen oder sogenannte Miasmen aus dem Boden Seuchen auslösen könnten, galten damit als endgültig überwunden.
In ihrem beachtlichen Buch untersucht Silvia Berger, wie sich die Bakteriologie in Deutschland bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten entwickelte, sich an überraschende und neue Entdeckungen anzupassen versuchte und wie sich bakteriologische und politische Sprache gegenseitig beeinflussten.
Die Zuversicht der Bakteriologen gründete sich auf die Identifikation der spezifischen Erreger von Anthrax, Typhus, Cholera, Tuberkulose oder der Syphilis. Maßnahmen wie Impfung, Isolation, Quarantäne oder Desinfektion ließen einen endgültigen Sieg über Infektionskrankheiten möglich erscheinen. Es verwundert daher auch nicht, dass die Bakteriologie sich von Anbeginn einer martialischen Sprache bediente: Das Bakterium galt als Feind, der vernichtet werden musste - und der vernichtet werden konnte.
Aber Berger zeigt, wie fragil diese Zuversicht war. Kochs Ruf verdankte sich seiner Entdeckung des Tuberkulose-Bazillus. Seine Versuche, mit dem Tuberkulin ein Gegenmittel zu schaffen, scheiterten kläglich. Die Identifikation eines Erregers bedeutet also nicht, dass sofort eine Therapie gefunden werden konnte. Und in der Folge der Hamburger Cholera-Epidemie im Winter 1892/93 wurde die Bedeutung gesunder Infektionsträger zu einem ernsten Problem - also waren Erreger im Körper offensichtlich nicht hinreichend für den Ausbruch einer Erkrankung.
Mit diesen unerwarteten Befunden mussten die Bakteriologen umgehen. Gesunde infizierte Menschen wurden als versteckte Infektionsquellen beschrieben und rückten verstärkt ins Zentrum der Kontrollmaßnahmen der Epidemiologie. Die Frage, warum die Krankheit nicht ausbrach oder wie ansteckend diese Träger wirklich waren, gelangte jedoch nie in den Vordergrund - der Erreger und seine angeblich vom Wirt unabhängigen Eigenschaften blieben im Mittelpunkt des Interesses. Mit dem Beginn des Krieges stürzte die Bakteriologie in einen wahren Kriegstaumel und folgte willig der propagandistischen Rhetorik. Ein doppelter Verteidigungskrieg war demnach im Gang - jener der Nation und jener der individuellen Körper. Durch die Verknüpfung von politischer und medizinischer Kampfrhetorik steigerten die Bakteriologen das Ansehen ihrer Disziplin.
Aber die Jahre nach dem Weltkrieg stürzten die Bakteriologie in eine tiefe Krise: Die Spanische Grippe, als deren Verursacher nur zögernd ein Virus akzeptiert wurde, und das Ausbleiben von Seuchen, die mit der Rückkehr von Frontsoldaten und dem Zustrom von Flüchtlingen erwartet wurde, verunsicherte die Wissenschaftler zutiefst. Institutionell und theoretisch wurden sozialhygienische Positionen in der öffentlichen Gesundheitspflege gestärkt. Viele Bakteriologen passten sich dem neuen Trend an. Die Kochsche Bakteriologie mit ihrem eindimensionalen Bild der Verursachung war überwunden. Gleichgewichtsvorstellungen vom Kräftespiel zwischen Pathogen und Wirt gewannen an Einfluss.
Silvia Bergers Darstellung endet 1933, aber in der Einleitung wird deutlich, dass auch Lehren für unsere Gegenwart - mit HIV, Sars, H5N1, H1N1 ... - gezogen werden können. Die Autorin hofft, dass ökologische und evolutionäre Konzepte und Metaphern das nie völlig überwundene kriegerische Vernichtungsvokabular der klassischen Bakteriologie endgültig zu ersetzen vermögen. Im Kampf gegen Pathogene fällt aber der Abschied von alten Sprech- und Denkgewohnheiten offensichtlich nicht leicht.
Die Infektionsbiologie anerkannte schließlich, dass die Wechselwirkungen zwischen Wirt und Parasit außerordentlich dynamisch sind. So hat die Mehrzahl menschlicher Pathogene auch tierische Wirte, und was dort geschieht, hat - wie die Vogel- und die Schweinegrippe jetzt wieder lehren - einen gewaltigen Einfluss auf den Menschen. Deshalb wird das Verhältnis zwischen Mensch und Pathogenen an einer Vielzahl von "Fronten" andauernd neu entschieden. Die Auslöschung von Infektionskrankheiten wird darum nur noch vereinzelt ernsthaft diskutiert - eine Ausnahme ist die Malaria -, aber ebenso wenig wird ein friedvolles und ökologisch harmonisches Zusammenleben zwischen Wirten und Parasiten erhofft. Eine prekäre Kontrolle ineinander verschachtelter dynamischer Systeme ist möglicherweise die bestmögliche Option. Silvia Bergers Studie ist ein anspruchsvolles und lesenswertes Lehrstück für diese Einsicht.
THOMAS WEBER
Silvia Berger: "Bakterien in Krieg und Frieden". Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland, 1890-1933. Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 476 S., br., 46,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vorbei die Träume, dass sich Infektionskrankheiten ganz auslöschen lassen: Silvia Bergers Rückblick auf die Bakteriologie ist ein lesenswertes Lehrstück für eine aktuelle Einsicht.
Am Ende des 19. Jahrhunderts war im Deutschen Reich die medizinische Bakteriologie unter der Ägide Robert Kochs zur unumstrittenen Leitwissenschaft geworden. Die Versprechung dieser Wissenschaft lautete, dass die Menschheit vor einer Zukunft ohne Seuchen stehe. Grund dieses Optimismus war, dass man schließlich sicher zu wissen glaubte, wie Seuchen entstehen. Als hinreichende Ursache galten jetzt die Bakterien, und ihre Vernichtung war der einzige Weg, Krankheiten in den Griff zu bekommen. Vorstellungen, dass schlechte sanitäre Bedingungen oder sogenannte Miasmen aus dem Boden Seuchen auslösen könnten, galten damit als endgültig überwunden.
In ihrem beachtlichen Buch untersucht Silvia Berger, wie sich die Bakteriologie in Deutschland bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten entwickelte, sich an überraschende und neue Entdeckungen anzupassen versuchte und wie sich bakteriologische und politische Sprache gegenseitig beeinflussten.
Die Zuversicht der Bakteriologen gründete sich auf die Identifikation der spezifischen Erreger von Anthrax, Typhus, Cholera, Tuberkulose oder der Syphilis. Maßnahmen wie Impfung, Isolation, Quarantäne oder Desinfektion ließen einen endgültigen Sieg über Infektionskrankheiten möglich erscheinen. Es verwundert daher auch nicht, dass die Bakteriologie sich von Anbeginn einer martialischen Sprache bediente: Das Bakterium galt als Feind, der vernichtet werden musste - und der vernichtet werden konnte.
Aber Berger zeigt, wie fragil diese Zuversicht war. Kochs Ruf verdankte sich seiner Entdeckung des Tuberkulose-Bazillus. Seine Versuche, mit dem Tuberkulin ein Gegenmittel zu schaffen, scheiterten kläglich. Die Identifikation eines Erregers bedeutet also nicht, dass sofort eine Therapie gefunden werden konnte. Und in der Folge der Hamburger Cholera-Epidemie im Winter 1892/93 wurde die Bedeutung gesunder Infektionsträger zu einem ernsten Problem - also waren Erreger im Körper offensichtlich nicht hinreichend für den Ausbruch einer Erkrankung.
Mit diesen unerwarteten Befunden mussten die Bakteriologen umgehen. Gesunde infizierte Menschen wurden als versteckte Infektionsquellen beschrieben und rückten verstärkt ins Zentrum der Kontrollmaßnahmen der Epidemiologie. Die Frage, warum die Krankheit nicht ausbrach oder wie ansteckend diese Träger wirklich waren, gelangte jedoch nie in den Vordergrund - der Erreger und seine angeblich vom Wirt unabhängigen Eigenschaften blieben im Mittelpunkt des Interesses. Mit dem Beginn des Krieges stürzte die Bakteriologie in einen wahren Kriegstaumel und folgte willig der propagandistischen Rhetorik. Ein doppelter Verteidigungskrieg war demnach im Gang - jener der Nation und jener der individuellen Körper. Durch die Verknüpfung von politischer und medizinischer Kampfrhetorik steigerten die Bakteriologen das Ansehen ihrer Disziplin.
Aber die Jahre nach dem Weltkrieg stürzten die Bakteriologie in eine tiefe Krise: Die Spanische Grippe, als deren Verursacher nur zögernd ein Virus akzeptiert wurde, und das Ausbleiben von Seuchen, die mit der Rückkehr von Frontsoldaten und dem Zustrom von Flüchtlingen erwartet wurde, verunsicherte die Wissenschaftler zutiefst. Institutionell und theoretisch wurden sozialhygienische Positionen in der öffentlichen Gesundheitspflege gestärkt. Viele Bakteriologen passten sich dem neuen Trend an. Die Kochsche Bakteriologie mit ihrem eindimensionalen Bild der Verursachung war überwunden. Gleichgewichtsvorstellungen vom Kräftespiel zwischen Pathogen und Wirt gewannen an Einfluss.
Silvia Bergers Darstellung endet 1933, aber in der Einleitung wird deutlich, dass auch Lehren für unsere Gegenwart - mit HIV, Sars, H5N1, H1N1 ... - gezogen werden können. Die Autorin hofft, dass ökologische und evolutionäre Konzepte und Metaphern das nie völlig überwundene kriegerische Vernichtungsvokabular der klassischen Bakteriologie endgültig zu ersetzen vermögen. Im Kampf gegen Pathogene fällt aber der Abschied von alten Sprech- und Denkgewohnheiten offensichtlich nicht leicht.
Die Infektionsbiologie anerkannte schließlich, dass die Wechselwirkungen zwischen Wirt und Parasit außerordentlich dynamisch sind. So hat die Mehrzahl menschlicher Pathogene auch tierische Wirte, und was dort geschieht, hat - wie die Vogel- und die Schweinegrippe jetzt wieder lehren - einen gewaltigen Einfluss auf den Menschen. Deshalb wird das Verhältnis zwischen Mensch und Pathogenen an einer Vielzahl von "Fronten" andauernd neu entschieden. Die Auslöschung von Infektionskrankheiten wird darum nur noch vereinzelt ernsthaft diskutiert - eine Ausnahme ist die Malaria -, aber ebenso wenig wird ein friedvolles und ökologisch harmonisches Zusammenleben zwischen Wirten und Parasiten erhofft. Eine prekäre Kontrolle ineinander verschachtelter dynamischer Systeme ist möglicherweise die bestmögliche Option. Silvia Bergers Studie ist ein anspruchsvolles und lesenswertes Lehrstück für diese Einsicht.
THOMAS WEBER
Silvia Berger: "Bakterien in Krieg und Frieden". Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland, 1890-1933. Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 476 S., br., 46,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Thomas Weber würdigt Silvia Bergers Buch "Bakterien in Krieg und Frieden" als anspruchsvolle und überaus instruktive Geschichte der Bakteriologie in Deutschland von 1890 bis 1933. Im Mittelpunkt der Arbeit sieht er die Entwicklung der Bakteriologie, ihre Versuche, sich an neue Entdeckungen anzupassen, und die gegenseitige Beeinflussung von bakteriologischer und politischer Sprache. Deutlich wird für ihn dabei auch, wie der Traum der Bakteriologen, Infektionskrankheiten endgültig auszulöschen, scheiterte. Auch wenn die Darstellung 1933 endet, lassen sich aus dem Buch nach Ansicht Webers jede Menge aktuelle Einsichten im Blick auf HIV, Sars, H5N1, H1N1 und so weiter ziehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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