Für Karsten Leiser ist es nicht Sommer, wenn es nicht nach Kamille riecht, sind Pappeln keine Pappeln, wenn sie nicht an einem Kanal stehen, sind Straßen keine richtigen Straßen, wenn es keine Chausseen sind. In einer schlaflosen Nacht erzählt er seiner Freundin Vera, warum das so ist: Seine Landschaft ist immer die Landschaft seiner Kindheit geblieben, die er eines Morgens für immer verlassen musste. »Sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst«, sagt die Mutter am Vorabend ihrer Flucht aus der DDR zu dem Jungen. Und Karsten prägt sich alles ein und kehrt nun jedes Mal, wenn sich der besagte Tag jährt, zu seinen Erinnerungen zurück. Ganz gleich, wie weit er als Reisejournalist reist, in wie vielen Hotels er übernachtet, um die entscheidende erste Nacht im Hotel ungeschehen zu machen, die Vergangenheit holt ihn immer wieder ein, wie jener lederne Koffer von damals, den er einfach nicht loswird. In dem schlanken, überaus kunstvollen Roman »Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist« legt Gert Loschütz, der große Vergangenheitsergründer der deutschen Gegenwartsliteratur, unerschrocken die Wut und Verzweiflung eines Mannes frei, dem jeder Mittelpunkt genommen wurde.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Helmut Böttiger setzt an zu einer Hymne auf Gert Loschütz, den Meister der Andeutung und Autor brillanter Hörspiele, wie der Kritiker findet. Verdient findet Böttiger die Anerkennung, die Loschütz jetzt in breitem Umfang zuteil werde, und äußerst lesenswert auch diese Romanfassung eines Hörspiels, das bereist 1988 gesendet wurde. Sie erzählt von Karsten Leiser, der mit seinen Eltern in den fünfziger Jahren aus der DDR in die Bundesrepublik flieht. Allerdings spielt die Handlung des Romans kaum eine Rolle, vielmehr geht es um jenes Gefühl der Entwurzelung, der Zeitverlorenheit, die Loschütz' Helden umtreibt, erklärt der Kritiker: Orte und Zeitebenen verschwimmen, von Plothow und Wildenburg geht es nach Irland und Sardinien, Schulprügeleien und erste Geliebte wechseln einander ab und bleiben mitunter "rätselhafte Vignetten", stets zurückgeführt auf jenen traumatischen Tag der Flucht, resümiert Böttiger. Das "Irisierende", Suggestive des Romans wirkt im Hörspiel allerdings noch stärker, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2022Flucht ohne Ende
Endlich bekommt der Schriftsteller Gert Loschütz die Anerkennung, die er verdient. Jetzt ist ein
frühes Buch von ihm wieder zu lesen: ein Roman über ein posttraumatisches Zeitgefühl
VON HELMUT BÖTTIGER
Gert Loschütz ist ein Andeuter. Er schürt eine große Intensität, lässt dabei aber vieles offen. Rätselhafte Konstellationen, irrlichternde Suchbewegungen bilden das Zentrum seiner Texte, und das entspricht einerseits dem Lebensgefühl der Gegenwart, andererseits hat es aber eine verblüffende technisch-formale Grundlage. Die Prosastücke von Loschütz sind in vielen Fällen aus Hörspielen hervorgegangen, er beherrscht diese Gattung virtuos. Da treten einzelne Momente prägnant hervor, und durch assoziative Verknüpfungen entsteht ein Hallraum, im idealen Fall eine spezifische Magie. Es geht weniger um die Handlung oder um ein psychologisch detailliert gezeichnetes Personentableau. Auch die Prosa von Gert Loschütz arbeitet mit diesen Mitteln.
Der im letzten Jahr sehr erfolgreiche Roman „Besichtigung eines Unglücks“ verdankte sich einem 2001 produzierten Hörspiel, und auch die „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“, die der Schöffling Verlag wegen der endlich eingetretenen Anerkennung dieses Autors gleich nachlegt, beruht auf einem 1988 gesendeten Hörspiel. Zum Roman umgearbeitet erschien das Buch bereits 1990 zum ersten Mal, allerdings unter dem Titel „Flucht“. Dass Gert Loschütz, abseits des allzu großen Rampenlichts, sehr langsam arbeitet und lange an seinen Sätzen feilt, zeigt schon diese große Zeiträume umfassende Werkgeschichte.
1990 war das Jahr der deutsch-deutschen Vereinigung, und alles war fixiert auf diese vibrierende Gegenwart. Der Titel „Flucht“ war eindeutig diesen Zeitumständen geschuldet, aber der Text beschäftigt sich nirgends mit Politik. Im Zentrum steht ein weit entlegener Tag in den fünfziger Jahren, an dem der Protagonist mit dem sprechenden Namen Karsten Leiser als Schüler mit seinen Eltern aus der DDR in die Bundesrepublik floh. Dieser Tag geistert durch den ganzen Roman als der Moment, an dem sich das Schicksal des Ich-Erzählers Leiser entschied, und die existenzielle Dimension wird im ursprünglichen Hörspieltitel „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“ betont, der jetzt wieder aufgenommen worden ist.
Es handelt sich also um einen Tag im Mai, ein konkreter Grund für die Flucht wird nicht benannt, alles hat etwas zeitlos Bedrohliches. Die Kindheit ist für Karsten Leiser mit diesem Tag abgeschnitten, im hessischen „Wildenburg“ fühlt er sich fremd, und er wird diese Fremde auch nie mehr abstreifen. Die Grundstimmung des Entwurzelten, Umhergetriebenen, Orientierungslosen entspricht dem durch Sartre und Camus entworfenen existenzialistischem Zeitgefühl. Dass es für den Erzähler einen konkreten biografischen Auslöser hat, schafft eine eigentümliche Spannung, die das Hörspiel auszeichnete, den Roman aber auf neue Weise herausfordert.
Es geht hier nicht ums Erzählen. Es gibt keine chronologisch nachvollziehbare Handlung, und die vereinzelt auf- und wieder abtauchenden Personen erscheinen eher als Phantasmagorien. In Karsten Leisers Kopf kreuzen sich verschiedene Zeitebenen und Schlüsselerlebnisse. Dass der Dreh- und Angelpunkt des inneren Geschehens der frühe Ortswechsel in den fünfziger Jahren ist, wird erst allmählich deutlich. Der Text beginnt mit rhetorischen Anrufungen jenes Tages, ohne zu benennen, was an ihm geschah, und durch pathetisch auflodernde Momentaufnahmen lugt die Ästhetik des Hörspiels durch: Es wird etwas vorbereitet, es liegt etwas in der Luft.
Abrupt stehen einzelne Geschehnisse nebeneinander, die am Datum jenes Tages in unterschiedlichsten Jahren stattfanden. Sie spielen an fast schon exterritorial erscheinenden Orten: auf den irischen Inseln, die den äußersten Rand Europas markieren, oder in Sardinien. So weit wie möglich weg also von Plothow, dem Heimatort in der DDR, und Wildenburg, dem ersten Ziel in der Bundesrepublik. Aber auch an den geografischen Extremen wird der Protagonist das Schlüsseldatum nicht los, und er rekapituliert in mehreren Anläufen den Ablauf jenes Tages. Kindheitserinnerungen werden herangespült, sie werden im Verlauf des Textes immer klarer und detaillierter, und die ersten Jahre im Westen schieben sich dazwischen, mit dem sich steigernden Gefühl einer Heimatlosigkeit.
Langsam kristallisieren sich bestimmte Motive heraus. Leiser stieß im westlichen Wildenburg in seiner Schulklasse auf einen gewissen Burckhardt. In einem sinnlos erscheinenden Akt von Verzweiflung und Gewalt hat er ihn einmal zusammengeschlagen, und das tritt durch konzentrische Kreisbewegungen des Textes mit dem Aufenthalt in Irland in Verbindung. In verzerrt vergrößerten Szenen holt ihn seine Vergangenheit wieder ein. In der italienischen Sphäre, der genius loci legt dies nahe, geschieht das eher durch Geliebte und fehllaufende Beziehungen.
Zunächst wirkt die gesamte Erzählung, als sei sie an ein weibliches „Du“ gerichtet – das dann als eine „Vera“ in dritter Person in die Handlung eintritt. Ein Netz von Bezügen bildet sich, in das Karsten Leiser so verstrickt ist, dass er die Fäden nie selbst in der Hand hat. Dass er aus dem vermeintlich geschützten Raum der Kindheit plötzlich hinauskatapultiert worden ist, beeinflusst bis in die unmittelbare Jetztzeit seine Handlungen und Gefühle.
Die stärksten Momente hat dieser Roman in irisierenden Szenen, die auf etwas Unausgesprochenes verweisen. Einmal verbringt Karsten Leiser mit einer bezaubernden Geliebten ein paar Tage an der sardischen Küste. Eines Nachmittags, während sie schläft, geht er einem ausgetrockneten Flussbett entlang, bis er an eine Stelle kommt, an der er sich plötzlich eins mit sich fühlt. Da stellt sich ein „Zusammenhang“ her, und man ahnt, dass diese Landschaft, der Blick auf den sich wieder ein bisschen mit Wasser füllenden Fluss und die „Kiefern“, die ihn begrenzen, ihn an das ihm eingeschriebene Plothow erinnert.
Er kann das Gefühl mit niemandem teilen. Seine Geliebte wird argwöhnisch, als er jeden Nachmittag verschwindet, um diese Stelle aufzusuchen, sie verdächtigt ihn, sich heimlich mit einem Dienstmädchen zu treffen. Daraus entsteht eine Eigendynamik, eine Traumlogik, die ihn diesem Mädchen einmal wirklich bis zu ihrer Wohnung folgen lässt, obwohl er sich von seiner Geliebten beobachtet weiß. Am nächsten Tag findet er das Hotelzimmer leer, sie ist abgereist. In Episoden wie dieser wird sein Ausgesetztsein in undurchschaubare Zusammenhänge auf raffinierte Weise verdichtet. Gestochen scharf wirkende Bilder, die sich bei näherem Hinsehen wieder entziehen, gibt es mehrere in diesem Buch.
Suggestiv lässt Loschütz einzelne Vignetten rätselhaft im Text stehen. In einem Roman allerdings stößt diese Technik an Grenzen. Die Idee, jenen Tag der Flucht als bleibendes Trauma zu inszenieren, wird auf die Dauer überstrapaziert. Sie soll dem Roman auch formal einen Fluchtpunkt geben, wirkt letztlich aber als Schablone für die geheimnisvollen Verlorenheitsmomente zu aufgesetzt. Ähnlich verhält es sich mit der Figur des schreibenden, vielreisenden Kollegen Götz, der als souveräner Antipode des Protagonisten Leiser erscheint und mit dem das Buch fragend ausklingt. Dieser Charakter scheint zu wenig geeignet, etwas zu bündeln und das Ende eines Romans zu tragen. Ins Grundsätzliche gehen solche Bedenken aber nicht. Die Stärke von Gert Loschütz ist die kleine Form. Sie mit den Formvorgaben eines Romans auszutarieren, ist eine Herausforderung, die niemals endet.
Die Kindheit ist für Karsten Leiser
auf einmal zu Ende, die Fremdheit
wird er nie mehr los
Irisierende Szenen, rätselhafte
Vignetten: Formen des Hörspiels,
die im Roman nicht aufgehen
Gert Loschütz:
Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist. Roman.
Schöffling,
Frankfurt am Main 2022.
199 Seiten, 22 Euro.
Traumatische Teile der Geschichte wiederholen sich ewig, wenn sie auch lange vorbei sind: Ehemalige Grenzanlagen erinnern im thüringischen Mödlareuth an die deutsch-deutsche Grenze, die hier verlief.
Foto: Rolf Zöllner/imago
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Endlich bekommt der Schriftsteller Gert Loschütz die Anerkennung, die er verdient. Jetzt ist ein
frühes Buch von ihm wieder zu lesen: ein Roman über ein posttraumatisches Zeitgefühl
VON HELMUT BÖTTIGER
Gert Loschütz ist ein Andeuter. Er schürt eine große Intensität, lässt dabei aber vieles offen. Rätselhafte Konstellationen, irrlichternde Suchbewegungen bilden das Zentrum seiner Texte, und das entspricht einerseits dem Lebensgefühl der Gegenwart, andererseits hat es aber eine verblüffende technisch-formale Grundlage. Die Prosastücke von Loschütz sind in vielen Fällen aus Hörspielen hervorgegangen, er beherrscht diese Gattung virtuos. Da treten einzelne Momente prägnant hervor, und durch assoziative Verknüpfungen entsteht ein Hallraum, im idealen Fall eine spezifische Magie. Es geht weniger um die Handlung oder um ein psychologisch detailliert gezeichnetes Personentableau. Auch die Prosa von Gert Loschütz arbeitet mit diesen Mitteln.
Der im letzten Jahr sehr erfolgreiche Roman „Besichtigung eines Unglücks“ verdankte sich einem 2001 produzierten Hörspiel, und auch die „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“, die der Schöffling Verlag wegen der endlich eingetretenen Anerkennung dieses Autors gleich nachlegt, beruht auf einem 1988 gesendeten Hörspiel. Zum Roman umgearbeitet erschien das Buch bereits 1990 zum ersten Mal, allerdings unter dem Titel „Flucht“. Dass Gert Loschütz, abseits des allzu großen Rampenlichts, sehr langsam arbeitet und lange an seinen Sätzen feilt, zeigt schon diese große Zeiträume umfassende Werkgeschichte.
1990 war das Jahr der deutsch-deutschen Vereinigung, und alles war fixiert auf diese vibrierende Gegenwart. Der Titel „Flucht“ war eindeutig diesen Zeitumständen geschuldet, aber der Text beschäftigt sich nirgends mit Politik. Im Zentrum steht ein weit entlegener Tag in den fünfziger Jahren, an dem der Protagonist mit dem sprechenden Namen Karsten Leiser als Schüler mit seinen Eltern aus der DDR in die Bundesrepublik floh. Dieser Tag geistert durch den ganzen Roman als der Moment, an dem sich das Schicksal des Ich-Erzählers Leiser entschied, und die existenzielle Dimension wird im ursprünglichen Hörspieltitel „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“ betont, der jetzt wieder aufgenommen worden ist.
Es handelt sich also um einen Tag im Mai, ein konkreter Grund für die Flucht wird nicht benannt, alles hat etwas zeitlos Bedrohliches. Die Kindheit ist für Karsten Leiser mit diesem Tag abgeschnitten, im hessischen „Wildenburg“ fühlt er sich fremd, und er wird diese Fremde auch nie mehr abstreifen. Die Grundstimmung des Entwurzelten, Umhergetriebenen, Orientierungslosen entspricht dem durch Sartre und Camus entworfenen existenzialistischem Zeitgefühl. Dass es für den Erzähler einen konkreten biografischen Auslöser hat, schafft eine eigentümliche Spannung, die das Hörspiel auszeichnete, den Roman aber auf neue Weise herausfordert.
Es geht hier nicht ums Erzählen. Es gibt keine chronologisch nachvollziehbare Handlung, und die vereinzelt auf- und wieder abtauchenden Personen erscheinen eher als Phantasmagorien. In Karsten Leisers Kopf kreuzen sich verschiedene Zeitebenen und Schlüsselerlebnisse. Dass der Dreh- und Angelpunkt des inneren Geschehens der frühe Ortswechsel in den fünfziger Jahren ist, wird erst allmählich deutlich. Der Text beginnt mit rhetorischen Anrufungen jenes Tages, ohne zu benennen, was an ihm geschah, und durch pathetisch auflodernde Momentaufnahmen lugt die Ästhetik des Hörspiels durch: Es wird etwas vorbereitet, es liegt etwas in der Luft.
Abrupt stehen einzelne Geschehnisse nebeneinander, die am Datum jenes Tages in unterschiedlichsten Jahren stattfanden. Sie spielen an fast schon exterritorial erscheinenden Orten: auf den irischen Inseln, die den äußersten Rand Europas markieren, oder in Sardinien. So weit wie möglich weg also von Plothow, dem Heimatort in der DDR, und Wildenburg, dem ersten Ziel in der Bundesrepublik. Aber auch an den geografischen Extremen wird der Protagonist das Schlüsseldatum nicht los, und er rekapituliert in mehreren Anläufen den Ablauf jenes Tages. Kindheitserinnerungen werden herangespült, sie werden im Verlauf des Textes immer klarer und detaillierter, und die ersten Jahre im Westen schieben sich dazwischen, mit dem sich steigernden Gefühl einer Heimatlosigkeit.
Langsam kristallisieren sich bestimmte Motive heraus. Leiser stieß im westlichen Wildenburg in seiner Schulklasse auf einen gewissen Burckhardt. In einem sinnlos erscheinenden Akt von Verzweiflung und Gewalt hat er ihn einmal zusammengeschlagen, und das tritt durch konzentrische Kreisbewegungen des Textes mit dem Aufenthalt in Irland in Verbindung. In verzerrt vergrößerten Szenen holt ihn seine Vergangenheit wieder ein. In der italienischen Sphäre, der genius loci legt dies nahe, geschieht das eher durch Geliebte und fehllaufende Beziehungen.
Zunächst wirkt die gesamte Erzählung, als sei sie an ein weibliches „Du“ gerichtet – das dann als eine „Vera“ in dritter Person in die Handlung eintritt. Ein Netz von Bezügen bildet sich, in das Karsten Leiser so verstrickt ist, dass er die Fäden nie selbst in der Hand hat. Dass er aus dem vermeintlich geschützten Raum der Kindheit plötzlich hinauskatapultiert worden ist, beeinflusst bis in die unmittelbare Jetztzeit seine Handlungen und Gefühle.
Die stärksten Momente hat dieser Roman in irisierenden Szenen, die auf etwas Unausgesprochenes verweisen. Einmal verbringt Karsten Leiser mit einer bezaubernden Geliebten ein paar Tage an der sardischen Küste. Eines Nachmittags, während sie schläft, geht er einem ausgetrockneten Flussbett entlang, bis er an eine Stelle kommt, an der er sich plötzlich eins mit sich fühlt. Da stellt sich ein „Zusammenhang“ her, und man ahnt, dass diese Landschaft, der Blick auf den sich wieder ein bisschen mit Wasser füllenden Fluss und die „Kiefern“, die ihn begrenzen, ihn an das ihm eingeschriebene Plothow erinnert.
Er kann das Gefühl mit niemandem teilen. Seine Geliebte wird argwöhnisch, als er jeden Nachmittag verschwindet, um diese Stelle aufzusuchen, sie verdächtigt ihn, sich heimlich mit einem Dienstmädchen zu treffen. Daraus entsteht eine Eigendynamik, eine Traumlogik, die ihn diesem Mädchen einmal wirklich bis zu ihrer Wohnung folgen lässt, obwohl er sich von seiner Geliebten beobachtet weiß. Am nächsten Tag findet er das Hotelzimmer leer, sie ist abgereist. In Episoden wie dieser wird sein Ausgesetztsein in undurchschaubare Zusammenhänge auf raffinierte Weise verdichtet. Gestochen scharf wirkende Bilder, die sich bei näherem Hinsehen wieder entziehen, gibt es mehrere in diesem Buch.
Suggestiv lässt Loschütz einzelne Vignetten rätselhaft im Text stehen. In einem Roman allerdings stößt diese Technik an Grenzen. Die Idee, jenen Tag der Flucht als bleibendes Trauma zu inszenieren, wird auf die Dauer überstrapaziert. Sie soll dem Roman auch formal einen Fluchtpunkt geben, wirkt letztlich aber als Schablone für die geheimnisvollen Verlorenheitsmomente zu aufgesetzt. Ähnlich verhält es sich mit der Figur des schreibenden, vielreisenden Kollegen Götz, der als souveräner Antipode des Protagonisten Leiser erscheint und mit dem das Buch fragend ausklingt. Dieser Charakter scheint zu wenig geeignet, etwas zu bündeln und das Ende eines Romans zu tragen. Ins Grundsätzliche gehen solche Bedenken aber nicht. Die Stärke von Gert Loschütz ist die kleine Form. Sie mit den Formvorgaben eines Romans auszutarieren, ist eine Herausforderung, die niemals endet.
Die Kindheit ist für Karsten Leiser
auf einmal zu Ende, die Fremdheit
wird er nie mehr los
Irisierende Szenen, rätselhafte
Vignetten: Formen des Hörspiels,
die im Roman nicht aufgehen
Gert Loschütz:
Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist. Roman.
Schöffling,
Frankfurt am Main 2022.
199 Seiten, 22 Euro.
Traumatische Teile der Geschichte wiederholen sich ewig, wenn sie auch lange vorbei sind: Ehemalige Grenzanlagen erinnern im thüringischen Mödlareuth an die deutsch-deutsche Grenze, die hier verlief.
Foto: Rolf Zöllner/imago
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»In diesem Buch liegt der Grundstein seines Erzählens, alle weiteren lassen sich darauf zurückführen.«
Ulrich Sonnenschein, hr2 »Doppelkopf«
Ulrich Sonnenschein, hr2 »Doppelkopf«