New York in den 1850er-Jahren: An der Wall Street führt ein namenloser Anwalt ein recht genügsames Leben. Um große Fälle bemüht er sich gar nicht erst, in seiner Kanzlei herrscht der alltägliche Bürowahnsinn. Dies ändert sich zunächst auch nicht, als er mit Bartleby einen neuen Schreibgehilfen
einstellt. Der unauffällige, blasse Mann arbeitet äußerst fleißig und gewissenhaft. Doch eines Tages…mehrNew York in den 1850er-Jahren: An der Wall Street führt ein namenloser Anwalt ein recht genügsames Leben. Um große Fälle bemüht er sich gar nicht erst, in seiner Kanzlei herrscht der alltägliche Bürowahnsinn. Dies ändert sich zunächst auch nicht, als er mit Bartleby einen neuen Schreibgehilfen einstellt. Der unauffällige, blasse Mann arbeitet äußerst fleißig und gewissenhaft. Doch eines Tages lehnt Bartleby es schlichtweg ab, seine Arbeit noch einmal Wort für Wort zu prüfen. "Ich möchte lieber nicht", lautet seine Antwort, die zum geflügelten Wort wird. Denn es bleibt nicht bei dieser einen Verweigerung...
Vor knapp einem Jahr startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. Der jüngste knallgelbe Beitrag dieser Reihe ist Herman Melvilles 1853 erschienene Erzählung "Bartleby, der Schreibgehilfe" in der Übersetzung von Elisabeth Schnack und versehen mit einem Nachwort von H. M. Compagnon. Es ist eine lobenswerte Entscheidung des Verlags, denn "Bartleby" verblüfft nicht nur mit wunderbaren Figuren, sondern auch mit einer zeitlosen Aktualität.
Wer kennt sie nicht, diese Bürotätigkeiten, die nicht nur äußerst lästig scheinen, sondern deren Sinnhaftigkeit man bestenfalls hinterfragt oder schlechtestenfalls einfach nur hinnimmt? So mag sich auch Bartleby fühlen, als sein Chef, der namenlose Ich-Erzähler, von ihm fordert, mit ihm gemeinsam ein kurzes Aktenstück zu vergleichen. Dennoch sorgt das sanft ausgesprochene "Ich möchte lieber nicht" für Bestürzung beim Anwalt, und es ist aufregend zu lesen, wie sehr er sich bemüht, seinen Angestellten wieder auf den "rechten Weg" zu bringen - und wie sehr er gleichermaßen scheitert. Denn Bartleby entpuppt sich als "faszinierendster Arbeitsverweigerer der Weltliteratur", wie es im Klappentext heißt. Jede zusätzliche Aufgabe, ja sogar die Aufforderung, das Büro umgehend zu verlassen, kontert der Schreibgehilfe mit den Worten "Ich möchte lieber nicht".
Dabei ist der Ich-Erzähler gar nicht einmal der Prototyp eines fordernden oder verständnislosen Arbeitgebers. Ganz im Gegenteil, macht er doch gleich zu Beginn deutlich: "Ich bin ein Mann, der von Jugend auf zutiefst von der Überzeugung durchdrungen war, dass die bequemste Lebensführung die beste ist" (S. 6). Doch mit dieser Bequemlichkeit ist es vorbei, gerade eben weil jemand nicht arbeiten möchte. Diese Doppeldeutigkeit, den Triumph des Ungehorsams gegen eine Ja-Sager-Gesellschaft, den Sieg des Individualismus über den Kapitalismus, macht Melville brillant deutlich und die Erzählung ganz nebenbei zu einem Stückchen mit höchster Aktualität.
Melvilles Schreibstil ist dabei so einnehmend wie unterhaltsam. Die Charakterisierung der herrlich verschrobenen Figuren gelingt ihm eindrücklich bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein. Die mit feinsinnigem Humor unterlegte erste Hälfte verwandelt sich mit zunehmender Verweigerung Bartlebys zu einer tragischen Groteske. Untermalt wird das Ganze mit einer gehörigen Portion Rätselhaftigkeit, denn letztlich bleiben die Motive des Schreibgehilfen nebulös und regen die ohnehin schon geschärften Sinne der Leser:innen zum Nachdenken an.
Und so bringt "Bartleby, der Schreibgehilfe" nicht nur wegen der auffälligen Colorierung Farbe ins Bücherregal, sondern auch wegen seines zeitlosen Inhalts. "Bartlebys aller Länder, vereinigt euch!", möchte man den stillen Büroangestellten dieser Welt zurufen und sich in Gedanken an diese wunderbare Erzählung schon auf den Gesichtsausdruck der Chefin freuen, wenn man ihr beim nächsten Arbeitsauftrag sanft, aber bestimmt entgegnet: "Ich möchte lieber nicht!"