Professor S. T. Baumgartner, unter Freunden Sy, ist ein über siebzigjähriger emeritierter Phänomenologe aus Princeton, der sich dem Schreiben philosophischer Bücher und, zunehmend, seinen Jugendreminiszenzen widmet: seiner kleinbürgerlichen Herkunft aus Newark; der schwierigen Ehe der Eltern, dem Collegebesuch und einem Studienaufenthalt in Paris; schließlich der wie ein Blitz einschlagenden Liebe zur Übersetzerin und Dichterin Anna, mit der er die glücklichsten Jahre verbrachte, bevor sie vor zehn Jahren einem Badeunfall zum Opfer fiel. Annas Tod hat ein tiefes Loch in seinem Leben hinterlassen, das aller Pragmatismus, alle Selbstironie nicht füllen kann. Denn Anna war wirklich das, was man seine bessere Hälfte nennt. Eines Tages, um sich zu trösten, wagt sich Sy endlich in ihr Arbeitszimmer, das er seit ihrem Tod nicht betreten hat ... Eine Mut machende, tröstliche und optimistische Betrachtung der letzten Lebensjahre, die sich des baldigen Endes stoisch bewusst ist.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Die Schlichtheit der sprachlichen Mittel steht im Kontrast zur Intensität der Gefühle, die in Paul Austers Roman über einen trauernden Universitätsprofessor verhandelt werden, stellt Rezensent Michael Wolf fest. Jener Baumgartner versucht, sich mit intellektueller Betätigung vom Schmerz über den Verlust seiner verstorbenen Frau abzulenken. Wie immer bei Auster gibt es hier biografische Parallelen, so Wolf, man täusche sich aber, wenn man Baumgartner als Alter Ego von Auster begreifen wollte. Denn der Professor sei ein Typus, ein "Gewinner" des amerikanischen Traums, der durch den Tod den Halt verliere. Die einzige Hoffnung für ihn ist, sich von seiner intellektuellen Weltabkehr zu befreien und sich der Realität zu stellen, weiß Wolf, der dem Protagonisten abschließend von Herzen ein Happy End wünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2023Eines Nachts läutet das Telefon seiner toten Frau
In seinem Roman "Baumgarten" fragt Paul Auster, was uns von unseren Liebsten bleibt
Wenn der Mensch verschwindet, holt sich der Wolf die Landschaft zurück - so stellt man es sich vor, und so erzählt es auch ein ukrainischer Dichter über die Monate am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Bewohner der Stadt Stanislaw ganz im Westen der Ukraine bereits geflohen und die sowjetischen Truppen noch nicht erschienen waren, seinem Besucher aus Princeton. Der Gast, ein siebzigjähriger Professor namens Seymour T. Baumgartner, war in die Stadt gekommen, um den Spuren seines Großvaters Auster nachzugehen, der von hier aus ins amerikanische Exil gegangen war. Nun lauscht er der suggestiven Wolfsgeschichte, kann aber später keinen Beweis für sie finden, auch nicht in einem Dokumentarfilm, der den Einzug der Sowjetarmee in Stanislaw zeigt. Irgendwann schreibt er sein Erlebnis in der Ukraine auf. Und fragt sich: "Was soll man glauben, wenn man sich nicht sicher sein kann, ob eine angebliche Tatsache wahr oder nicht wahr ist?"
Ja, was? Von Erinnerung, getäuschter, geformter und gelenkter, ist viel die Rede in Paul Austers neuem Roman "Baumgartner", vom Totengedenken vor allem und davon, wie man das in eine Vergegenwärtigung der einst Lebenden verwandeln kann. Den Rahmen bilden einige Monate im Dasein von Seymour, zehn Jahre und mehr nach dem Tod seiner Frau Anna. Im Zentrum steht die vielfach fragmentierte Erinnerung an die Liebesgeschichte, die er mit Anna erlebte. Alles beginnt mit einer Zufallsbegegnung in einem Laden für gebrauchte Haushaltsgegenstände. Der zwanzigjährige Seymour will dort einen Aluminiumtopf kaufen, an dem er sich ein halbes Jahrhundert später die Finger verbrennen und der ihn in die Erinnerung an Anna führen wird; jene Anna aber sieht ihn kurz über die gestapelte Ware an und erwidert sein Lächeln.
Damit hätte es sein Bewenden haben können, aber acht Monate danach kommt es zu einer weiteren Begegnung in einem Café - nur an Annas Tisch ist noch ein Platz frei, den dann Seymour einnimmt. Die Anatomie dieser zweiten Zusammenkunft wird später von beiden ergründet, Anna nimmt sie sogar zum Anlass für eine autobiographische Erzählung. Einig sind sie sich darin, dass das Besondere gar nicht diese zweite Begegnung selbst war. Sondern die Tatsache, dass sich beide noch an das kurze Lächeln erinnern, dass sie sich ein knappes Dreivierteljahr zuvor geschenkt hatten. Groß und bedeutend wird das erste Zusammentreffen, und mit ihm auch das zweite, nicht durch sich selbst, sondern durch die Spuren, die es in den Köpfen von Seymour und Anna hinterlassen hat. Sie werden mehr als dreißig Jahre miteinander verbringen, bis zu Annas Tod.
Austers Roman umfasst kaum mehr als zweihundert Seiten und lotet zugleich nicht nur Seymours Leben aus, sondern berührt auch Biographien aus seiner Familie und seiner Umgebung. Der verwitwete Professor ist dabei derjenige, dessen Erinnerung als Quelle für die Vergangenheit dient, unterstützt und mitunter auch kontrastiert durch die Schriften seiner Frau - nach ihrem Tod hatte er Stück für Stück das Haus komplett umgestaltet, ihr Arbeitszimmer aber so belassen. Und wenn Seymour immer wieder die Frage aufwirft, was eigentlich von einem Menschen bleibt, solange man nicht bereit ist, an ein Jenseits zu glauben, dann ist das schriftliche Erbe ein gewichtiger Teil dessen, wie man in Erinnerung bleibt. Gegen Ende des Romans erlebt er ein reines, aufrüttelndes Glück, als sich eine junge Studentin für Annas Nachlass interessiert, den sie einsehen und untersuchen möchte - für Seymour ist das der Anlass, über eine Lyrikpublikation mit Annas Werken nachzudenken, "ein Denkmal aus singenden Seiten, die das Schweigen aus Annas Grab übertönen werden".
Es sind unterschiedliche Phasen des Gedenkens, die Auster die Titelfigur seines Romans erleben lässt, und wenn der Text hier und da etwas übermäßig geformt wirkt, dann kann man manches davon dem Autor, einiges aber auch seiner Figur zuschreiben. Immer wieder spielt Auster auf Literatur an - Baumgartners Frau heißt mit vollem Namen Anna Blume, er studierte im Oberlin College und findet sich irgendwann wie Kellers Grüner Heinrich zwischen Anna und Judith wieder -, und dass ein Erinnerungsschub durch den Sturz von der morschen Kellertreppe ausgelöst wird, kann man ebenfalls als etwas allzu passend empfinden.
Zugleich macht Auster deutlich, wie Seymours Erinnerungen zustande kommen und wie sich der Witwer selbst darüber klar wird. Einmal läutet im Wegdämmern Annas längst abgemeldetes rotes Telefon in ihrem Arbeitszimmer, und Seymour - so viel zum "Schweigen aus Annas Grab" - nimmt den Hörer ab, um sich von ihr übers Jenseits erzählen zu lassen, bis er aus dem Traum erwacht. Der gewiefte Erzähler aber lässt den Witwer nichts anderes hören, als was er im Grunde schon weiß: Das Fortbestehen eines Menschen ist an diejenigen geknüpft, die sich noch an ihn erinnern, und im Akt des Publizierens der Gedichte ist mehr als nur ein Gran Verzweiflung enthalten.
Dem Verlust, dem Seymour sich immer mehr stellt, ist ein anderer Gedanke verschwistert: Wer wie die Hauptfigur des Romans das Bilanzieren der Lebensläufe anderer lernt, der wird das auch auf den eigenen anwenden. Und er wird erstaunt feststellen, dass seine eigene Rechnung, in ehrlicher Überzeugung erstellt, nicht notwendig akzeptiert wird. Was ist mit seiner Mutter Ruth, der er nur allzu bereitwillig bescheinigt, sie hätte - wie der Vater, wie die Schwester - die Träume ihres Lebens aufgegeben, während sie allmählich ganz andere Vorstellungen von einem zu ihr passenden geglückten Leben entwickelt hat?
Am Ende lässt Seymour seine morsche Kellertreppe richten, auch der verwilderte Garten kommt in Schuss, und das Appartement über der Garage wird für die Studentin renoviert, die Annas Nachlass sichten soll. Niemand ist seinen Erinnerungen ausgeliefert, erkennt der Gelehrte, manchmal ist es an uns, Entscheidungen zu treffen, wenn es nicht anders geht: "Mangels jeglicher Fakten, die die Geschichte als wahr oder falsch erweisen könnten, glaube ich dem Dichter. Und ob es sie damals dort gab oder nicht, ich glaube an die Wölfe." TILMAN SPRECKELSEN
Paul Auster: "Baumgartner". Roman.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem Roman "Baumgarten" fragt Paul Auster, was uns von unseren Liebsten bleibt
Wenn der Mensch verschwindet, holt sich der Wolf die Landschaft zurück - so stellt man es sich vor, und so erzählt es auch ein ukrainischer Dichter über die Monate am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Bewohner der Stadt Stanislaw ganz im Westen der Ukraine bereits geflohen und die sowjetischen Truppen noch nicht erschienen waren, seinem Besucher aus Princeton. Der Gast, ein siebzigjähriger Professor namens Seymour T. Baumgartner, war in die Stadt gekommen, um den Spuren seines Großvaters Auster nachzugehen, der von hier aus ins amerikanische Exil gegangen war. Nun lauscht er der suggestiven Wolfsgeschichte, kann aber später keinen Beweis für sie finden, auch nicht in einem Dokumentarfilm, der den Einzug der Sowjetarmee in Stanislaw zeigt. Irgendwann schreibt er sein Erlebnis in der Ukraine auf. Und fragt sich: "Was soll man glauben, wenn man sich nicht sicher sein kann, ob eine angebliche Tatsache wahr oder nicht wahr ist?"
Ja, was? Von Erinnerung, getäuschter, geformter und gelenkter, ist viel die Rede in Paul Austers neuem Roman "Baumgartner", vom Totengedenken vor allem und davon, wie man das in eine Vergegenwärtigung der einst Lebenden verwandeln kann. Den Rahmen bilden einige Monate im Dasein von Seymour, zehn Jahre und mehr nach dem Tod seiner Frau Anna. Im Zentrum steht die vielfach fragmentierte Erinnerung an die Liebesgeschichte, die er mit Anna erlebte. Alles beginnt mit einer Zufallsbegegnung in einem Laden für gebrauchte Haushaltsgegenstände. Der zwanzigjährige Seymour will dort einen Aluminiumtopf kaufen, an dem er sich ein halbes Jahrhundert später die Finger verbrennen und der ihn in die Erinnerung an Anna führen wird; jene Anna aber sieht ihn kurz über die gestapelte Ware an und erwidert sein Lächeln.
Damit hätte es sein Bewenden haben können, aber acht Monate danach kommt es zu einer weiteren Begegnung in einem Café - nur an Annas Tisch ist noch ein Platz frei, den dann Seymour einnimmt. Die Anatomie dieser zweiten Zusammenkunft wird später von beiden ergründet, Anna nimmt sie sogar zum Anlass für eine autobiographische Erzählung. Einig sind sie sich darin, dass das Besondere gar nicht diese zweite Begegnung selbst war. Sondern die Tatsache, dass sich beide noch an das kurze Lächeln erinnern, dass sie sich ein knappes Dreivierteljahr zuvor geschenkt hatten. Groß und bedeutend wird das erste Zusammentreffen, und mit ihm auch das zweite, nicht durch sich selbst, sondern durch die Spuren, die es in den Köpfen von Seymour und Anna hinterlassen hat. Sie werden mehr als dreißig Jahre miteinander verbringen, bis zu Annas Tod.
Austers Roman umfasst kaum mehr als zweihundert Seiten und lotet zugleich nicht nur Seymours Leben aus, sondern berührt auch Biographien aus seiner Familie und seiner Umgebung. Der verwitwete Professor ist dabei derjenige, dessen Erinnerung als Quelle für die Vergangenheit dient, unterstützt und mitunter auch kontrastiert durch die Schriften seiner Frau - nach ihrem Tod hatte er Stück für Stück das Haus komplett umgestaltet, ihr Arbeitszimmer aber so belassen. Und wenn Seymour immer wieder die Frage aufwirft, was eigentlich von einem Menschen bleibt, solange man nicht bereit ist, an ein Jenseits zu glauben, dann ist das schriftliche Erbe ein gewichtiger Teil dessen, wie man in Erinnerung bleibt. Gegen Ende des Romans erlebt er ein reines, aufrüttelndes Glück, als sich eine junge Studentin für Annas Nachlass interessiert, den sie einsehen und untersuchen möchte - für Seymour ist das der Anlass, über eine Lyrikpublikation mit Annas Werken nachzudenken, "ein Denkmal aus singenden Seiten, die das Schweigen aus Annas Grab übertönen werden".
Es sind unterschiedliche Phasen des Gedenkens, die Auster die Titelfigur seines Romans erleben lässt, und wenn der Text hier und da etwas übermäßig geformt wirkt, dann kann man manches davon dem Autor, einiges aber auch seiner Figur zuschreiben. Immer wieder spielt Auster auf Literatur an - Baumgartners Frau heißt mit vollem Namen Anna Blume, er studierte im Oberlin College und findet sich irgendwann wie Kellers Grüner Heinrich zwischen Anna und Judith wieder -, und dass ein Erinnerungsschub durch den Sturz von der morschen Kellertreppe ausgelöst wird, kann man ebenfalls als etwas allzu passend empfinden.
Zugleich macht Auster deutlich, wie Seymours Erinnerungen zustande kommen und wie sich der Witwer selbst darüber klar wird. Einmal läutet im Wegdämmern Annas längst abgemeldetes rotes Telefon in ihrem Arbeitszimmer, und Seymour - so viel zum "Schweigen aus Annas Grab" - nimmt den Hörer ab, um sich von ihr übers Jenseits erzählen zu lassen, bis er aus dem Traum erwacht. Der gewiefte Erzähler aber lässt den Witwer nichts anderes hören, als was er im Grunde schon weiß: Das Fortbestehen eines Menschen ist an diejenigen geknüpft, die sich noch an ihn erinnern, und im Akt des Publizierens der Gedichte ist mehr als nur ein Gran Verzweiflung enthalten.
Dem Verlust, dem Seymour sich immer mehr stellt, ist ein anderer Gedanke verschwistert: Wer wie die Hauptfigur des Romans das Bilanzieren der Lebensläufe anderer lernt, der wird das auch auf den eigenen anwenden. Und er wird erstaunt feststellen, dass seine eigene Rechnung, in ehrlicher Überzeugung erstellt, nicht notwendig akzeptiert wird. Was ist mit seiner Mutter Ruth, der er nur allzu bereitwillig bescheinigt, sie hätte - wie der Vater, wie die Schwester - die Träume ihres Lebens aufgegeben, während sie allmählich ganz andere Vorstellungen von einem zu ihr passenden geglückten Leben entwickelt hat?
Am Ende lässt Seymour seine morsche Kellertreppe richten, auch der verwilderte Garten kommt in Schuss, und das Appartement über der Garage wird für die Studentin renoviert, die Annas Nachlass sichten soll. Niemand ist seinen Erinnerungen ausgeliefert, erkennt der Gelehrte, manchmal ist es an uns, Entscheidungen zu treffen, wenn es nicht anders geht: "Mangels jeglicher Fakten, die die Geschichte als wahr oder falsch erweisen könnten, glaube ich dem Dichter. Und ob es sie damals dort gab oder nicht, ich glaube an die Wölfe." TILMAN SPRECKELSEN
Paul Auster: "Baumgartner". Roman.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber das eigentlich Besondere am Buch ist, mit welcher Nähe das Leben des alternden, einsamen Mannes geschildert wird: wie viel Schmerz, Wut und Reflexion über die Endlichkeit Auster sich und uns zugesteht. Berührend. Tages-Anzeiger 20231128