In der modernen Hirnforschung wurden bahnbrechende Entdeckungen gemacht. Die sogenannte Plastizität des menschlichen Gehirns bedeutet, dass es lebenslang veränderbar, ausbaubar, anpassungsfähig ist. Sogar die Masse der Gehirnzellen ist, entgegengesetzt der früheren Auffassung der Wissenschaftler, nicht endgültig festgelegt, sondern kann im Verlauf des Lebens noch zunehmen. Nach den neuesten Erkenntnissen der Hirnforscher hat die Art und Weise der Nutzung des Gehirns einen entscheidenden Einfluss darauf, welche neuronalen Verschaltungen angelegt und stabilisiert oder auch destabilisiert werden. Die innere Struktur und Organisation des Gehirns passt sich also an seine konkrete Benutzung an.Wenn das Gehirn eines Menschen aber so wird, wie es gebraucht wird und bisher gebraucht wurde, dann stellt sich die Frage, wie wir eigentlich mit unserem Gehirn umgehen müssten, damit es zur vollen Entfaltung der in ihm angelegten Möglichkeiten kommen kann.In einer leicht lesbaren, bildreichen Sprache geht der Neurobiologe Gerald Hüther diesem Fragenkomplex nach und gelangt zu Erkenntnissen, die unser gegenwärtiges Weltbild erschüttern und die uns zwingen, etwas zu übernehmen, was wir bisher allzu gern an andere Instanzen abgegeben haben: Verantwortung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2001Bleib erschütterbar und widersteh
Wie es Dinge gibt, die man nicht nicht wissen kann, gibt es Bücher, zu denen man nie zu greifen braucht, um ihren Inhalt doch zu kennen. Noch im Rücken, den man etwa den Psychoratgebern zukehrt, ist zu spüren, wie dieses Schrifttum unfehlbar die goldene Mitte zwischen den Extremen des Verhaltens ansteuert. Der heimliche Protagonist, der hinterm Ideal der ausgewogenen Persönlichkeit waltet, ist nun in einem schlanken Bändchen beim Namen genannt worden, das somit Anspruch auf den Ehrentitel des Ratgebers aller Ratgeber erheben darf. Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, hat eine "Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn" vorgelegt (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001. 139 S., br., 29,80 DM). Zwar spannt das Werk des Hirnforschers den klassischen Bogen eines Computerhandbuchs: vom Gefahrenhinweis über die Entfernung der Schutzvorrichtungen, Aufbau und Einsatzmöglichkeiten, Hinweise auf bereits erfolgte Installationen bis zu Wartungsmaßnahmen und dem Verhalten bei Störfällen. Doch ist der Verfasser mitnichten szientistisch gesinnt; "Erfahrung" lautet vielmehr das Schlüsselwort des Manuals, das sich entschieden gegen die populäre Vorstellung richtet, die einmal im Gehirn entstandenen Verschaltungen seien genetisch festgelegt. Das menschliche Gehirn ist vielmehr ein selbstprogrammierbares, lernfähiges und, wie sich herausstellt, weniger ein Denk- als ein Sozialorgan. Das lehrt seine Entwicklungsgeschichte, deren straffe Zusammenfassung die Grundlage für die Anwendungsregeln liefert. "Alles, was lebt, auch ein Gehirn, steckt in einem großen Dilemma", schreibt Hüther. Das Gehirn muß sich nämlich jenen Außenweltinformationen öffnen, die es zum Aufrechterhalten seiner inneren Ordnung benötigt, und zugleich so abschotten, daß Störungen von außen nicht auf die Innenwelt durchschlagen. Primitivere Lebewesen lösen dieses Problem durch eine evolutionäre Anpassung an ihre Umweltbedingungen und werden zu zerebralen Nischenspezialisten. Da sie, wie der Bandwurm, zur Denkfaulheit neigen, sobald sie sich in ihrer inneren Organisation auf einen angenehmen Lebensraum optimal eingestimmt haben, können sie ihr einmal genetisch festgelegtes Programm nicht mehr ändern. Hingegen der Mensch: Für keine Umgebung optimiert, war es für ihn ein Vorteil, seine zerebralen Verschaltungsmuster möglichst lange offenzulassen. Lernfähigkeit, Veränderungsbereitschaft, soziale Kooperation, ja Feinfühligkeit stellten - so Hüther - funktionale Erfordernisse dar, um in stets widriger Umgebung zu überleben. Über die Partnerwahl ließen sich neugewonnene Erfahrungen an die Nachkommen weitergeben, indem man deren Entwicklungsbedingungen beeinflußte; ein Prozeß, der in anderem Zusammenhang als Tradition aller toten Geschlechter bekannt wurde, die wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden lasten. Damit das Junghirn hier nicht Opfer familienspezifischer "Kanalisierungsprozesse" wird, die zu "sehr fragwürdigen Betätigungsfeldern (Mafia, Camorra)" führen können, muß es sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich jedenfalls um ein flexibleres Netz an Schaltungen bemühen, als es die Londoner Taxifahrer aufweisen, bei denen vor allem die für die räumliche Orientierung zuständige Hirnpartie mit den Berufsjahren wächst. In diesem Sinne empfiehlt Hüther: Frage nicht, was dein Gehirn für dich tun kann, frage, was du für dein Gehirn tun kannst! Wie lautet also die praktische Richtschnur, die es uns erlaubt, "die gegenwärtigen Verhältnisse so zu verändern, daß sie die Ausbildung immer menschlicherer Gehirne ermöglichen"? Ach, es ist wieder die goldene Mitte zwischen Gefühl und Verstand, Abhängigkeit und Autonomie, Offenheit und Abgrenzung, Pfahlwurzlern (kommen nicht hoch) und Flachwurzlern (heben zu schnell ab). Das wichtigste jedoch: Um lernen, um sich selbst umprogrammieren zu können, muß das Gehirn erschütterbar bleiben. Die Abwehr von Betroffenheit ist der schlimmste Bedienungsfehler, den wir machen können. Sagen aber nicht genau das schon alle anderen Verhaltensführer? Schade: Das psychosozial gewendete Gehirn der Neurobiologie können wir herauskürzen wie Wittgensteins Käfer in der Schachtel - und wieder die herkömmlichen Ratgeber nicht lesen.
MICHAEL ADRIAN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie es Dinge gibt, die man nicht nicht wissen kann, gibt es Bücher, zu denen man nie zu greifen braucht, um ihren Inhalt doch zu kennen. Noch im Rücken, den man etwa den Psychoratgebern zukehrt, ist zu spüren, wie dieses Schrifttum unfehlbar die goldene Mitte zwischen den Extremen des Verhaltens ansteuert. Der heimliche Protagonist, der hinterm Ideal der ausgewogenen Persönlichkeit waltet, ist nun in einem schlanken Bändchen beim Namen genannt worden, das somit Anspruch auf den Ehrentitel des Ratgebers aller Ratgeber erheben darf. Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, hat eine "Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn" vorgelegt (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001. 139 S., br., 29,80 DM). Zwar spannt das Werk des Hirnforschers den klassischen Bogen eines Computerhandbuchs: vom Gefahrenhinweis über die Entfernung der Schutzvorrichtungen, Aufbau und Einsatzmöglichkeiten, Hinweise auf bereits erfolgte Installationen bis zu Wartungsmaßnahmen und dem Verhalten bei Störfällen. Doch ist der Verfasser mitnichten szientistisch gesinnt; "Erfahrung" lautet vielmehr das Schlüsselwort des Manuals, das sich entschieden gegen die populäre Vorstellung richtet, die einmal im Gehirn entstandenen Verschaltungen seien genetisch festgelegt. Das menschliche Gehirn ist vielmehr ein selbstprogrammierbares, lernfähiges und, wie sich herausstellt, weniger ein Denk- als ein Sozialorgan. Das lehrt seine Entwicklungsgeschichte, deren straffe Zusammenfassung die Grundlage für die Anwendungsregeln liefert. "Alles, was lebt, auch ein Gehirn, steckt in einem großen Dilemma", schreibt Hüther. Das Gehirn muß sich nämlich jenen Außenweltinformationen öffnen, die es zum Aufrechterhalten seiner inneren Ordnung benötigt, und zugleich so abschotten, daß Störungen von außen nicht auf die Innenwelt durchschlagen. Primitivere Lebewesen lösen dieses Problem durch eine evolutionäre Anpassung an ihre Umweltbedingungen und werden zu zerebralen Nischenspezialisten. Da sie, wie der Bandwurm, zur Denkfaulheit neigen, sobald sie sich in ihrer inneren Organisation auf einen angenehmen Lebensraum optimal eingestimmt haben, können sie ihr einmal genetisch festgelegtes Programm nicht mehr ändern. Hingegen der Mensch: Für keine Umgebung optimiert, war es für ihn ein Vorteil, seine zerebralen Verschaltungsmuster möglichst lange offenzulassen. Lernfähigkeit, Veränderungsbereitschaft, soziale Kooperation, ja Feinfühligkeit stellten - so Hüther - funktionale Erfordernisse dar, um in stets widriger Umgebung zu überleben. Über die Partnerwahl ließen sich neugewonnene Erfahrungen an die Nachkommen weitergeben, indem man deren Entwicklungsbedingungen beeinflußte; ein Prozeß, der in anderem Zusammenhang als Tradition aller toten Geschlechter bekannt wurde, die wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden lasten. Damit das Junghirn hier nicht Opfer familienspezifischer "Kanalisierungsprozesse" wird, die zu "sehr fragwürdigen Betätigungsfeldern (Mafia, Camorra)" führen können, muß es sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich jedenfalls um ein flexibleres Netz an Schaltungen bemühen, als es die Londoner Taxifahrer aufweisen, bei denen vor allem die für die räumliche Orientierung zuständige Hirnpartie mit den Berufsjahren wächst. In diesem Sinne empfiehlt Hüther: Frage nicht, was dein Gehirn für dich tun kann, frage, was du für dein Gehirn tun kannst! Wie lautet also die praktische Richtschnur, die es uns erlaubt, "die gegenwärtigen Verhältnisse so zu verändern, daß sie die Ausbildung immer menschlicherer Gehirne ermöglichen"? Ach, es ist wieder die goldene Mitte zwischen Gefühl und Verstand, Abhängigkeit und Autonomie, Offenheit und Abgrenzung, Pfahlwurzlern (kommen nicht hoch) und Flachwurzlern (heben zu schnell ab). Das wichtigste jedoch: Um lernen, um sich selbst umprogrammieren zu können, muß das Gehirn erschütterbar bleiben. Die Abwehr von Betroffenheit ist der schlimmste Bedienungsfehler, den wir machen können. Sagen aber nicht genau das schon alle anderen Verhaltensführer? Schade: Das psychosozial gewendete Gehirn der Neurobiologie können wir herauskürzen wie Wittgensteins Käfer in der Schachtel - und wieder die herkömmlichen Ratgeber nicht lesen.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Mann ist Moralist, meint Ulrich Kühne über den Autor. Und findet dessen Ratschläge für ein glückliches, erfülltes Leben ja nicht schlecht. Nur fragt er sich, wieso ein Neurobiologe die Themen, Sinnhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Verbindlichkeit und dergleichen Tugenden mehr nicht wie ein Neurobiologe, also Gymnastikübungen für den Hippokampus erteilend, angeht, sondern schlicht "als ein Mann, der Fehler gemacht hat und jetzt Lebenserfahrung weitergeben kann." Dabei ist der Ausgangspunkt so einleuchtend: zu denken, bei sinnvollem Gebrauch ließe sich das Hirn "auch zur Bewältigung der praktischen Lebensprobleme einsetzen". Muss ja so sein, meint Kühne, denn abgesehen von der Begabung zu List und Tücke, was besitzt der Mensch schließlich, um ihm ein Überleben zu sichern?
© Perlentaucher Medien GmbH
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