Fragile Tontafeln aus Mesopotamien, kostbare Bände mittelalterlicher Gelehrsamkeit, grandiose Bibliotheken in Alexandria und Sarajevo – seit Wissen schriftlich fixiert wird, haben Menschen versucht, es unter ihre Kontrolle zu bringen. Ihre Heldinnen und Helden: Mönche und Hobbyarchäologen, Philanthropen und Freiheitskämpfer und vor allem Bibliothekare und Archivare, die sich dem Erhalt von Wissen verschrieben haben, nicht selten unter Einsatz ihres Lebens.
Richard Ovenden führt uns in fesselnd erzählten Schlüsselepisoden durch die dreitausendjährige Geschichte der Angriffe auf Bücher, Bibliotheken und Archive. Eine faszinierende Kulturgeschichte, die bis in unsere digitale Gegenwart und zu den neuartigen Gefahren, denen das Wissen der Welt heute ausgesetzt ist, reicht.
Richard Ovenden führt uns in fesselnd erzählten Schlüsselepisoden durch die dreitausendjährige Geschichte der Angriffe auf Bücher, Bibliotheken und Archive. Eine faszinierende Kulturgeschichte, die bis in unsere digitale Gegenwart und zu den neuartigen Gefahren, denen das Wissen der Welt heute ausgesetzt ist, reicht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Gedächtnis braucht Archive
Verwundbare Schutzorte des Wissens: Richard Ovenden durchquert Jahrhunderte, um die Bedeutung von Bibliotheken zu zeigen.
Von Michael Knoche
Wer nach einem Bild für die Bedrohung des Geistes sucht, bedient sich gerne des Topos der brennenden Bibliothek. Aber ausgerechnet der berühmteste Brand einer Bibliothek ist eine Legende. Die Bibliothek im Museion von Alexandria, die eine umfassende Sammlung des antiken Wissens der Welt enthielt, ist verschwunden. Aber sie wurde wohl weder von Cäsar, Aurelian, dem christlichen Bischof Theophilos noch dem Kalifen Omar in Brand gesetzt oder zerstört. Eher war es ein jahrhundertelanger Mangel an Aufsicht, Führung und Investitionen, der sie um ihr Fortbestehen brachte.
Der Autor, der diese Geschichte erzählt, kennt sich aus: Richard Ovenden steht in Oxford als Bodley's Librarian einer der bedeutendsten Bibliotheken Europas vor, zumal einer, die im Furor der Reformation selbst einmal komplett untergegangen ist. Für ihn ist das sechzehnte Jahrhundert besonders im eigenen Land eine der schlimmsten Perioden in der Geschichte des Wissens. An historischen Fallbeispielen zeigt er die unterschiedlichen Motive auf, die zur Zerstörung von Wissensspeichern, aber auch zu ihrer Verteidigung geführt haben. Die Fakten sind anhand der neuesten Forschungsliteratur souverän aufbereitet und werden in angelsächsisch klarer Diktion präsentiert. Das Lesevergnügen ist groß, weil viele oft unbekannte Geschehnisse spannend erzählt werden. So ist das Buch fast eine Helden- und Heiligengeschichte der Bibliothekare und Archivare geworden, aber auch vieler beherzter Privatpersonen.
Ovenden beginnt mit der Bibliothek Assurbanipals im siebten Jahrhundert vor Christus und schreitet dann in Siebenmeilenstiefeln durch die Epochen, nicht ohne dem Namenspatron seiner eigenen Bibliothek ausgiebig Reverenz zu erweisen. Sir Thomas Bodley war so eine verdienstvolle Privatperson, die im Jahr 1602 die eigene Bibliothek an die Universität verschenkte und zum Entsetzen seiner Erben noch eine Stiftung für künftige Anschaffungen errichtete. Ausführlich behandelt wird das zwanzigste Jahrhundert: die zweifache Zerstörung der Universitätsbibliothek Löwen durch deutsche Truppen in den Jahren 1914 und 1940, die Rettungsarbeit der Papierbrigade in Wilna während der Schoa oder das herzzerreißende Schicksal der National- und Universitätsbibliothek Sarajewo. Ihre Bestände wären nach dem Granatenbeschuss durch die serbische Miliz am 25. August 1992 noch zu retten gewesen, wenn nicht Scharfschützen während der Bergungsversuche auf die Helfer gezielt hätten.
Kriege des 21. Jahrhunderts wie der im Irak werfen das Problem verschleppter Archiv- und Bibliotheksbestände auf: Dürfen die Sammlungen gefährdeter Einrichtungen aus Sicherheitsgründen ins Ausland gebracht werden? Und dürfen sie den Nationen, aus denen sie stammen, jahrelang vorenthalten werden? Die Stasi-Unterlagen in Deutschland sind ein Beispiel dafür, wie wichtig Akten für den Heilungsprozess einer zerrütteten Gesellschaft sein können. Ovenden scheut sich nicht, problematische Beispiele aus der Kolonialpolitik des eigenen Landes und sogar der eigenen Institution anzusprechen.
Der Begriff der bedrohten Bücher wird von Ovenden weit gefasst und schließt auch fortdauernde Geringschätzung ein, für die die Bibliothek von Alexandria nur das erste Beispiel war. Diese Prämisse erlaubt ihm, aktuell zu werden und präzise formulierte Begründungen vorzutragen, warum wir heute mehr Kraft und Geld investieren sollten, um Wissen vor Angriffen zu schützen. Sein Appell lautet, langfristig und gemeinnützig zu denken. Öffentliche Bibliotheken und Archive, so formuliert er es in fünf Thesen, sind von zentraler Bedeutung für Bildung, Gedankenvielfalt, offene Gesellschaften, Faktenkontrolle und kulturelle Identitäten. Vernachlässige man sie, gefährde man die Idee der Demokratie.
In diesem Zusammenhang fällt mehrmals der Name von Donald Trump. Nach Meinung von Ovenden ist unsere Gesellschaft den Herausforderungen des digitalen Zeitalters noch lange nicht gewachsen. Unternehmen wie Google, Facebook und Twitter richteten ihr Handeln an kommerziellen Interessen aus, aber nicht am langfristigen Gemeinwohl. Der Autor lobt unerschrockene Privatleute wie etwa die Betreiber der Wayback-Maschine, die eine Recherche nach obsoleten Internetseiten ermöglichen. Aber er fordert, dass die internationale Gemeinschaft der Bibliothekare und Archivare aufwacht und endlich selber Strukturen dafür schafft, das Internet zu archivieren und die Kommunikation auf den Social-Media-Plattformen zu dokumentieren. Um die Finanzierung sicherzustellen, empfiehlt er die Erhebung einer "Gedächtnissteuer" bei den Digitalkonzernen in Höhe von 0,5 Prozent des Umsatzes.
Den eigenen Zunftgenossen wirft Ovenden vor, stets die aktuellen Benutzerbedürfnisse zum Maßstab ihres Handelns gemacht, aber die Kernaufgabe vernachlässigt zu haben: die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses. Das ist richtig diagnostiziert. Aber aus der Perspektive des deutschen Fachdiskurses ist es verwunderlich, dass Ovenden die dauerhafte Erhaltung der physischen Überlieferung nur am Rande thematisiert. Die Sicherung der Handschriften, Archivalien und Bücher ist jedoch genauso unerlässlich und genauso unterfinanziert wie die Bewahrung des digitalen Wissens. Hier hätte man sich ein ebenso kräftiges Wort von ihm gewünscht. Um die Zukunft der originalen Quellen ist es doch auch in Großbritannien nicht gut bestellt.
"Burning the books", wie der Originaltitel lautet, hat international große Beachtung gefunden. Gut, dass eine deutsche Ausgabe erscheint. Aber die Übersetzung kann nicht befriedigen. Aus der "profession" der Archivare und Bibliothekare werden "einschlägige Berufsgruppen", aus "cultures" "antike Gemeinschaften" und aus einer "collection of record" eine "Rekordsammlung" statt eine Sammlung von Schriftstücken. Das Bemühen um geschlechtergerechte Sprache führt zu uneinheitlichen und missverständlichen Entscheidungen. Es gibt "Einwanderinnen und Einwanderer", aber nur männliche "Nationalisten". "Scholar" hingegen wird durchgängig mit "Forscherin" übersetzt. Zitierfähig ist nur die Originalausgabe.
Hermann Parzinger hat sich vor Kurzem in seinem Buch "Verdammt und vernichtet" mit der absichtlichen Destruktion von Bildern und Symbolen befasst (F.A.Z. vom 27. April). Ovenden, der nach der Bedrohung des Wissens fragt, hat das politischere Buch geschrieben. Es ist nicht nur ein historischer Rückblick geworden, sondern ein aufrüttelndes Manifest mit klaren Handlungsempfehlungen.
Richard Ovenden: "Bedrohte Bücher". Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens.
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 416 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verwundbare Schutzorte des Wissens: Richard Ovenden durchquert Jahrhunderte, um die Bedeutung von Bibliotheken zu zeigen.
Von Michael Knoche
Wer nach einem Bild für die Bedrohung des Geistes sucht, bedient sich gerne des Topos der brennenden Bibliothek. Aber ausgerechnet der berühmteste Brand einer Bibliothek ist eine Legende. Die Bibliothek im Museion von Alexandria, die eine umfassende Sammlung des antiken Wissens der Welt enthielt, ist verschwunden. Aber sie wurde wohl weder von Cäsar, Aurelian, dem christlichen Bischof Theophilos noch dem Kalifen Omar in Brand gesetzt oder zerstört. Eher war es ein jahrhundertelanger Mangel an Aufsicht, Führung und Investitionen, der sie um ihr Fortbestehen brachte.
Der Autor, der diese Geschichte erzählt, kennt sich aus: Richard Ovenden steht in Oxford als Bodley's Librarian einer der bedeutendsten Bibliotheken Europas vor, zumal einer, die im Furor der Reformation selbst einmal komplett untergegangen ist. Für ihn ist das sechzehnte Jahrhundert besonders im eigenen Land eine der schlimmsten Perioden in der Geschichte des Wissens. An historischen Fallbeispielen zeigt er die unterschiedlichen Motive auf, die zur Zerstörung von Wissensspeichern, aber auch zu ihrer Verteidigung geführt haben. Die Fakten sind anhand der neuesten Forschungsliteratur souverän aufbereitet und werden in angelsächsisch klarer Diktion präsentiert. Das Lesevergnügen ist groß, weil viele oft unbekannte Geschehnisse spannend erzählt werden. So ist das Buch fast eine Helden- und Heiligengeschichte der Bibliothekare und Archivare geworden, aber auch vieler beherzter Privatpersonen.
Ovenden beginnt mit der Bibliothek Assurbanipals im siebten Jahrhundert vor Christus und schreitet dann in Siebenmeilenstiefeln durch die Epochen, nicht ohne dem Namenspatron seiner eigenen Bibliothek ausgiebig Reverenz zu erweisen. Sir Thomas Bodley war so eine verdienstvolle Privatperson, die im Jahr 1602 die eigene Bibliothek an die Universität verschenkte und zum Entsetzen seiner Erben noch eine Stiftung für künftige Anschaffungen errichtete. Ausführlich behandelt wird das zwanzigste Jahrhundert: die zweifache Zerstörung der Universitätsbibliothek Löwen durch deutsche Truppen in den Jahren 1914 und 1940, die Rettungsarbeit der Papierbrigade in Wilna während der Schoa oder das herzzerreißende Schicksal der National- und Universitätsbibliothek Sarajewo. Ihre Bestände wären nach dem Granatenbeschuss durch die serbische Miliz am 25. August 1992 noch zu retten gewesen, wenn nicht Scharfschützen während der Bergungsversuche auf die Helfer gezielt hätten.
Kriege des 21. Jahrhunderts wie der im Irak werfen das Problem verschleppter Archiv- und Bibliotheksbestände auf: Dürfen die Sammlungen gefährdeter Einrichtungen aus Sicherheitsgründen ins Ausland gebracht werden? Und dürfen sie den Nationen, aus denen sie stammen, jahrelang vorenthalten werden? Die Stasi-Unterlagen in Deutschland sind ein Beispiel dafür, wie wichtig Akten für den Heilungsprozess einer zerrütteten Gesellschaft sein können. Ovenden scheut sich nicht, problematische Beispiele aus der Kolonialpolitik des eigenen Landes und sogar der eigenen Institution anzusprechen.
Der Begriff der bedrohten Bücher wird von Ovenden weit gefasst und schließt auch fortdauernde Geringschätzung ein, für die die Bibliothek von Alexandria nur das erste Beispiel war. Diese Prämisse erlaubt ihm, aktuell zu werden und präzise formulierte Begründungen vorzutragen, warum wir heute mehr Kraft und Geld investieren sollten, um Wissen vor Angriffen zu schützen. Sein Appell lautet, langfristig und gemeinnützig zu denken. Öffentliche Bibliotheken und Archive, so formuliert er es in fünf Thesen, sind von zentraler Bedeutung für Bildung, Gedankenvielfalt, offene Gesellschaften, Faktenkontrolle und kulturelle Identitäten. Vernachlässige man sie, gefährde man die Idee der Demokratie.
In diesem Zusammenhang fällt mehrmals der Name von Donald Trump. Nach Meinung von Ovenden ist unsere Gesellschaft den Herausforderungen des digitalen Zeitalters noch lange nicht gewachsen. Unternehmen wie Google, Facebook und Twitter richteten ihr Handeln an kommerziellen Interessen aus, aber nicht am langfristigen Gemeinwohl. Der Autor lobt unerschrockene Privatleute wie etwa die Betreiber der Wayback-Maschine, die eine Recherche nach obsoleten Internetseiten ermöglichen. Aber er fordert, dass die internationale Gemeinschaft der Bibliothekare und Archivare aufwacht und endlich selber Strukturen dafür schafft, das Internet zu archivieren und die Kommunikation auf den Social-Media-Plattformen zu dokumentieren. Um die Finanzierung sicherzustellen, empfiehlt er die Erhebung einer "Gedächtnissteuer" bei den Digitalkonzernen in Höhe von 0,5 Prozent des Umsatzes.
Den eigenen Zunftgenossen wirft Ovenden vor, stets die aktuellen Benutzerbedürfnisse zum Maßstab ihres Handelns gemacht, aber die Kernaufgabe vernachlässigt zu haben: die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses. Das ist richtig diagnostiziert. Aber aus der Perspektive des deutschen Fachdiskurses ist es verwunderlich, dass Ovenden die dauerhafte Erhaltung der physischen Überlieferung nur am Rande thematisiert. Die Sicherung der Handschriften, Archivalien und Bücher ist jedoch genauso unerlässlich und genauso unterfinanziert wie die Bewahrung des digitalen Wissens. Hier hätte man sich ein ebenso kräftiges Wort von ihm gewünscht. Um die Zukunft der originalen Quellen ist es doch auch in Großbritannien nicht gut bestellt.
"Burning the books", wie der Originaltitel lautet, hat international große Beachtung gefunden. Gut, dass eine deutsche Ausgabe erscheint. Aber die Übersetzung kann nicht befriedigen. Aus der "profession" der Archivare und Bibliothekare werden "einschlägige Berufsgruppen", aus "cultures" "antike Gemeinschaften" und aus einer "collection of record" eine "Rekordsammlung" statt eine Sammlung von Schriftstücken. Das Bemühen um geschlechtergerechte Sprache führt zu uneinheitlichen und missverständlichen Entscheidungen. Es gibt "Einwanderinnen und Einwanderer", aber nur männliche "Nationalisten". "Scholar" hingegen wird durchgängig mit "Forscherin" übersetzt. Zitierfähig ist nur die Originalausgabe.
Hermann Parzinger hat sich vor Kurzem in seinem Buch "Verdammt und vernichtet" mit der absichtlichen Destruktion von Bildern und Symbolen befasst (F.A.Z. vom 27. April). Ovenden, der nach der Bedrohung des Wissens fragt, hat das politischere Buch geschrieben. Es ist nicht nur ein historischer Rückblick geworden, sondern ein aufrüttelndes Manifest mit klaren Handlungsempfehlungen.
Richard Ovenden: "Bedrohte Bücher". Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens.
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 416 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Klaus Hillenbrand ackert sich durch 3.000 Jahre Bibliotheksgeschichte mit Richard Ovendens Mini-Essays über Erhalt und Zerstörung des Weltwissen. Beginnend mit den Keilschrifttafeln von Ninive über die Papyrus-Rollen aus Alexandria bis zur Library of Congress in Washington, den Beständen der Oxforder Bodleian Library, dessen Direktor der Autor ist, und zu Überlegungen Tweets zu archivieren, reicht die Geschichte der bedrohten Bücher, die Ovenden aufschreibt. Ein glänzendes, hoch spannendes und gleichfalls bewahrenswertes Buch, findet Hillenbrand.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2022Fette
Beute
Bibliotheken sollten Orte sein,
an denen Bücher sicher sind.
Richard Ovenden beschreibt,
warum das nicht selbstverständlich ist
VON LOTHAR MÜLLER
Im Sommer 1596, während des englisch-spanischen Krieges, ging Robert Devereux, der Herzog von Essex, in Plymouth an Bord und segelte mit seinen Soldaten Richtung Süden. Nachdem er in einem Überraschungsangriff die Hafenstadt Cádiz erobert und gebrandschatzt hatte, wiederholte er das Manöver wenige Tage etwas weiter westlich im portugiesischen Fargo an der Algarve. Dort quartierte er sich in der Bischofsresidenz ein und requirierte aus ihrer Bibliothek eine Truhe wertvoller Bücher. Nach England zurückgekehrt, stiftete er die Kriegsbeute der neu entstehenden Bibliothek, die Sir Thomas Bodley gerade in Oxford aufzubauen begann.
Bodley hatte in Oxford studiert, war erfolgreich als Kaufmann in Exeter tätig gewesen und hatte im diplomatischen Dienst Elisabeths I. gestanden. Als Mann von gut fünfzig Jahren kehrte er nach Oxford zurück, die Errichtung der Bibliothek war sein Alterswerk. Sie sollte die Verluste kompensieren, die im Zuge der englischen Reformation durch die Auflösung der mittelalterlichen Kloster- und Universitätsbibliotheken entstanden waren.
Die Provenienzgeschichte der mit einem Wappen des Bischofs von Faro versehenen Bücher in den Gründungsbeständen der Bodleian Library, die Richard Ovenden erzählt, ist charakteristisch für sein Buch „Bedrohte Bücher. Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens“. Er nimmt sein Thema nicht enzyklopädisch, schreibt keine Universalgeschichte. Sein perspektivischer Fixpunkt, der die Auswahl prägt, und an den er immer wieder zurückkehrt, ist England.
Seit 2014 steht er als 25. „Bodley’s Librarian“ der Bodleian Library in Oxford vor, ihrer Gründungsgeschichte widmet er ein eigenes Kapitel. Ausgangspunkt seiner Erzählung ist die Bibliothek des gelehrten assyrischen Herrschers Assurbanipal, die nach dem Tod ihres Gründers von einer Invasionsarmee aus Babyloniern, Medern und Skythen bei der Eroberung Ninives im Jahr 612 v. Chr. zerstört wurde. Ovenden interessiert sich sowohl für den Hintergrund ihrer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert, die auf die Aktivitäten der East India Company zurückgehende britische Präsenz im heutigen Irak, wie für die Binnenstruktur der Bibliothek, die sich in den geborgenen Keilschrifttafeln abzeichnet.
Von der Amateurarchäologie des Sammlers und Reisenden Claudius James Rich führt der Weg in der nächsten Generation über Austen Henry Layard zu den systematischen, vom British Museum finanzierten Grabungen, durch die über dreißigtausend Tontafeln nach England kamen. Der Überblick über die Bestände, darunter das Gilgamesch-Epos, mündet in die Beobachtung, dass sich schon in der Bibliothek Assurbanipals Markierungen, Äquivalente zu modernen Titeleien und Kolophone, also Nachschriften zu den Dokumenten selbst finden lassen, mithin „die älteste Form von Metadaten“.
Die Zerstörung von Bibliotheken durch Invasionsarmeen erscheint bei Ovenden als negative Anerkennung der Bedeutung des in ihnen gespeicherten Wissens für die Gesellschaften, von denen sie errichtet wurden. Er schaltet jeweils dem eigentlichen Zerstörungsakt eine knappe Geschichte des Bestandsaufbaus vor.
Dieser Strang seiner Erzählung führt von Mesopotamien über die Brandschatzung der Library of Congress in Washington durch die Briten und die doppelte Zerstörung der Bibliothek von Loewen durch die Deutschen im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg bis hin zur Zerstörung der Bibliothek von Sarajevo 1992. Er verbindet sich mit den Destruktionsenergien, die aus innergesellschaftlichen Feinderklärungen resultieren wie bei den Bücherverbrennungen in Deutschland im Mai 1933 kurz nach Antritt der von Hitler und der NSDAP angeführten Regierung, die Ovenden in seiner Einleitung knapp schildert.
Ausführlich stellt er die systematische Plünderung der Bibliotheksbestände zur jüdischen Kultur und Geschichte, zumal des Jiddischen, durch die deutschen Besatzer in Wilna dar, hier wie stets im Rückgriff auf die historische Spezialforschung. Im Mittelpunkt dieser reichen Bibliothekslandschaft stand das 1924 von Max Weinreich und Zalman Reisen gegründete YIVO (Yidisher Visnshaftlekher Institut).
In diesem Kapitel bewährt sich Ovendens Prinzip, die Geschichte des Bestandsaufbaus und der Zerstörung von Bibliotheken miteinander zu verschränken. Die jüdischen Mitglieder der „Papierbrigade“, selbst dem YIVO verbunden, sollten als Zwangsarbeiter durch Selektion Teile der Bestände der Vernichtung, andere der Verschickung nach Deutschland überantworten. Während dieser Arbeit bauten sie raffinierte Routinen des Bücherschmuggels auf, durch die im Verborgenen eine dritte Kategorie entstand: gerettete Bücher. Die Existenz dieser Bücher, die wiederum nicht alle dauerhaft gerettet werden konnten, führt zur Nachgeschichte der jüdischen Wilnaer Buchbestände im Nachkriegslitauen und über die Unabhängigkeitserklärung Litauens von der Sowjetunion im Jahr 1990 hinaus bis zu den Restitutionsbemühungen geraubter Bücher in deutschen Bibliotheken.
Die Bodleian Library verfügt über ihre umfangreichen Kafka-Bestände nur, weil Max Brod die Verfügung seines Freundes Franz Kafkas nicht erfüllt hat, dessen Manuskripte und Zeichnungen nach seinem Tod zu vernichten. Ovenden hat eine kleine kursorische Geschichte solcher Vernichtungsverfügungen teils durch Autoren selbst, teils durch ihre Familien oder Freundeskreise, in sein Buch eingebaut.
Sie umfasst nach Seitenblicken auf Vergil und die Briefe Heinrichs VIII. exemplarische Fälle der Moderne wie das Manuskript der Memoiren, das Lord Byron im Jahr 1819 seinem Freund Thomas Moore übergab, und das nach heftigen Auseinandersetzungen um sein Skandalpotenzial fünf Jahre später im Kamin des Verlegers John Murray in London in Flammen aufging, die Tagebücher des englischen Dichters und Bibliothekars Philip Larkin, die wenige Tage nach seinem Tod Anfang Dezember 1985 die Sekretärin Betty Mackereth sorgfältig zerschredderte und im Heizungsraum der University of Hull verbrannte, getreu dem Auftrag, den Larkin seiner Lebensgefährtin Monica Jones gegeben hatte.
Hier wie in den Passagen zur Vernichtung der letzten Tagebücher von Sylvia Plath durch ihren Ehemann Ted Hughes ist unverkennbar, welche Lösung Ovenden bevorzugt hätte: einen Kompromiss zwischen Persönlichkeitsschutz und öffentlichem Interesse an literarischen Werken durch Überlieferung bei gleichzeitiger Errichtung von Einsichts- und Publikationshürden durch – womöglich langfristige – Sperrvermerke.
Wie die Literaturarchive nimmt Ovenden auch aus politischen Quellen gespeiste Archive in den Blick wie die Akten der Baath-Partei im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins und die Stasi-Akten nach dem Ende der DDR 1990, aber auch die Aktenbestände des Foreign and Commonwealth Office in England selbst, die von englischen Regierungen wegen ihres Materials zur Kolonialgeschichte jahrelang geleugnet oder der Forschung vorenthalten wurden. In diesen Kapiteln über die Effekte von Vernichtung und Überlieferung erzählt das Buch anschauliche Zeitgeschichte. Die Vernichtung der ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Akten der Kolonialverwaltung in Malaysia vor der Unabhängigkeit des Landes von Großbritannien im Jahr 1957, sollte, so der Direktor der Bodleian Library in Oxford, „das rassistische und von Vorurteilen geprägte Verhalten der ehemaligen Kolonialbeamten vertuschen“.
Ovenden versteht aber unter „Zerstörung“ nicht lediglich aktive Vernichtung. Programmatisch setzt er zu Beginn dem Brand der Bibliothek Assurbanipals in Ninive den Brand der Bibliothek von Alexandria gegenüber – um diesen Brand als Mythos der Nachwelt zu dekonstruieren. Die Bibliothek bleibt das hoch entwickelte, in zwei Institutionen gegliederte, mit reichen Beständen und leistungsfähigen Erschließungs- und Katalogisierungsroutinen versehene Wissenszentrum. Aber für ihr Ende ist eher der Begriff „Verfall“ zuständig. Dass sie während des Kriegs, den Cäsar gegen seinen Rivalen Pompeius führte, brannte, muss nicht gleichbedeutend mit ihrer Zerstörung als Institution gewesen sein: „Letztlich war ein jahrhundertelanger Mangel an Aufsicht, Führung und Investitionen wohl die Ursache für die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria“. Dieser Befund wird zu einem Leitmotiv.
Ovendens Buch ist nicht nur zwischen den Zeilen eine Streitschrift gegen die Wissenschaftspolitik der jüngeren britischen Regierungen und die damit einhergehende Unterfinanzierung der öffentlichen Bibliotheken. Mit diesem Grundimpuls des Buches mag sein größtes Problem zusammenhängen. Es stellt die Bibliotheken und ihr Personal durchgängig als Hüter und Bündnispartner des „Wissens“ dar, über die das Unheil der Zerstörung von außen hereinbricht. Helles Licht fällt auf die Ausfertigung der Magna Carta, die trotz aller Zerstörungen in die Bodleian Library gelangte und zu einem „Schlüsselelement der konstitutionellen Argumente für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wurde“, Wissen, Demokratie und Bücher scheinen miteinander im Bunde zu sein. Ovendens Begriff von „Knowledge“ durchtränkt, was er berührt, mit diesem positiven Aroma. Eher gegenläufig zur generellen Koppelung von Wissen, Toleranz und Recht und zur säkularen Heiligen- und Märtyrergeschichte der Bibliothekare, die sich der Zerstörungen zu erwehren suchen, erzählt sein Buch aber zugleich von den Vernichtungsenergien, die aus den Bibliotheken selbst hervorgehen.
Der Zwangsrequirierung von Privatsammlungen verdankte schon die Bibliothek Assurbanipals Teile ihrer Bestände. Der gelehrte Humanist John Leland, großer Kenner der Artussage, durchforstet im Auftrag Heinrichs VIII. die Bibliotheken nach Dokumenten, die ihn in seinem Konflikt mit Rom unterstützen, und trägt zur Dezimierung der katholischen Bestände bei.
Deutsche Bibliothekare arbeiten der Bücherverbrennung des Jahres 1933 zu. Das von Alfred Rosenberg aufgebaute System organisierter Plünderung in den vom Deutschen Reich überfallenen Ländern speiste über 550 000 Bände in das „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ in Frankfurt am Main ein. Dr. Johannes Pohl, vormals Kurator für die Hebraica und Judaica an der Berliner Staatsbibliothek, verwaltete die so entstehende Sammlung und inspizierte mit seinem Kollegen Dr. Herbert Gotthardt unter anderem die Bestände der jüdischen Bibliotheken in Wilna.
Zur „Knowledge“-Dimension von Bibliotheken gehört, dass sie Waffenlager des Nationalismus, Rassismus, der Anheizung innergesellschaftlicher Spaltungen und Konflikte sein können. Die Energieströme, aus denen Bibliothekszerstörungen hervorgehen, werden durch Bücher nicht nur gezähmt, sondern auch angefacht. Wer für diese Einsicht offen ist, liest Ovendens Buch mit umso größerem Gewinn.
Durch Schmuggel entstand im
Verborgenen eine dritte
Kategorie: gerettete Bücher
Nicht nur zwischen den Zeilen:
Auch eine Streitschrift gegen
britische Wissenschaftspolitik
Richard Ovenden:
Bedrohte Bücher.
Eine Geschichte der Zerstörung und
Bewahrung des Wissens. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff.
Suhrkamp, Berlin 2021. 416 Seiten, 28 Euro.
Der Autor Richard
Ovenden steht der
Bodleian Library in
Oxford vor, hier einer ihrer Lesesäle. Eines der Kapitel seines Buches
handelt vom Aufbau der Sammlung dieser
Bibliothek.
Foto: mauritius images / Oxford
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Beute
Bibliotheken sollten Orte sein,
an denen Bücher sicher sind.
Richard Ovenden beschreibt,
warum das nicht selbstverständlich ist
VON LOTHAR MÜLLER
Im Sommer 1596, während des englisch-spanischen Krieges, ging Robert Devereux, der Herzog von Essex, in Plymouth an Bord und segelte mit seinen Soldaten Richtung Süden. Nachdem er in einem Überraschungsangriff die Hafenstadt Cádiz erobert und gebrandschatzt hatte, wiederholte er das Manöver wenige Tage etwas weiter westlich im portugiesischen Fargo an der Algarve. Dort quartierte er sich in der Bischofsresidenz ein und requirierte aus ihrer Bibliothek eine Truhe wertvoller Bücher. Nach England zurückgekehrt, stiftete er die Kriegsbeute der neu entstehenden Bibliothek, die Sir Thomas Bodley gerade in Oxford aufzubauen begann.
Bodley hatte in Oxford studiert, war erfolgreich als Kaufmann in Exeter tätig gewesen und hatte im diplomatischen Dienst Elisabeths I. gestanden. Als Mann von gut fünfzig Jahren kehrte er nach Oxford zurück, die Errichtung der Bibliothek war sein Alterswerk. Sie sollte die Verluste kompensieren, die im Zuge der englischen Reformation durch die Auflösung der mittelalterlichen Kloster- und Universitätsbibliotheken entstanden waren.
Die Provenienzgeschichte der mit einem Wappen des Bischofs von Faro versehenen Bücher in den Gründungsbeständen der Bodleian Library, die Richard Ovenden erzählt, ist charakteristisch für sein Buch „Bedrohte Bücher. Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens“. Er nimmt sein Thema nicht enzyklopädisch, schreibt keine Universalgeschichte. Sein perspektivischer Fixpunkt, der die Auswahl prägt, und an den er immer wieder zurückkehrt, ist England.
Seit 2014 steht er als 25. „Bodley’s Librarian“ der Bodleian Library in Oxford vor, ihrer Gründungsgeschichte widmet er ein eigenes Kapitel. Ausgangspunkt seiner Erzählung ist die Bibliothek des gelehrten assyrischen Herrschers Assurbanipal, die nach dem Tod ihres Gründers von einer Invasionsarmee aus Babyloniern, Medern und Skythen bei der Eroberung Ninives im Jahr 612 v. Chr. zerstört wurde. Ovenden interessiert sich sowohl für den Hintergrund ihrer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert, die auf die Aktivitäten der East India Company zurückgehende britische Präsenz im heutigen Irak, wie für die Binnenstruktur der Bibliothek, die sich in den geborgenen Keilschrifttafeln abzeichnet.
Von der Amateurarchäologie des Sammlers und Reisenden Claudius James Rich führt der Weg in der nächsten Generation über Austen Henry Layard zu den systematischen, vom British Museum finanzierten Grabungen, durch die über dreißigtausend Tontafeln nach England kamen. Der Überblick über die Bestände, darunter das Gilgamesch-Epos, mündet in die Beobachtung, dass sich schon in der Bibliothek Assurbanipals Markierungen, Äquivalente zu modernen Titeleien und Kolophone, also Nachschriften zu den Dokumenten selbst finden lassen, mithin „die älteste Form von Metadaten“.
Die Zerstörung von Bibliotheken durch Invasionsarmeen erscheint bei Ovenden als negative Anerkennung der Bedeutung des in ihnen gespeicherten Wissens für die Gesellschaften, von denen sie errichtet wurden. Er schaltet jeweils dem eigentlichen Zerstörungsakt eine knappe Geschichte des Bestandsaufbaus vor.
Dieser Strang seiner Erzählung führt von Mesopotamien über die Brandschatzung der Library of Congress in Washington durch die Briten und die doppelte Zerstörung der Bibliothek von Loewen durch die Deutschen im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg bis hin zur Zerstörung der Bibliothek von Sarajevo 1992. Er verbindet sich mit den Destruktionsenergien, die aus innergesellschaftlichen Feinderklärungen resultieren wie bei den Bücherverbrennungen in Deutschland im Mai 1933 kurz nach Antritt der von Hitler und der NSDAP angeführten Regierung, die Ovenden in seiner Einleitung knapp schildert.
Ausführlich stellt er die systematische Plünderung der Bibliotheksbestände zur jüdischen Kultur und Geschichte, zumal des Jiddischen, durch die deutschen Besatzer in Wilna dar, hier wie stets im Rückgriff auf die historische Spezialforschung. Im Mittelpunkt dieser reichen Bibliothekslandschaft stand das 1924 von Max Weinreich und Zalman Reisen gegründete YIVO (Yidisher Visnshaftlekher Institut).
In diesem Kapitel bewährt sich Ovendens Prinzip, die Geschichte des Bestandsaufbaus und der Zerstörung von Bibliotheken miteinander zu verschränken. Die jüdischen Mitglieder der „Papierbrigade“, selbst dem YIVO verbunden, sollten als Zwangsarbeiter durch Selektion Teile der Bestände der Vernichtung, andere der Verschickung nach Deutschland überantworten. Während dieser Arbeit bauten sie raffinierte Routinen des Bücherschmuggels auf, durch die im Verborgenen eine dritte Kategorie entstand: gerettete Bücher. Die Existenz dieser Bücher, die wiederum nicht alle dauerhaft gerettet werden konnten, führt zur Nachgeschichte der jüdischen Wilnaer Buchbestände im Nachkriegslitauen und über die Unabhängigkeitserklärung Litauens von der Sowjetunion im Jahr 1990 hinaus bis zu den Restitutionsbemühungen geraubter Bücher in deutschen Bibliotheken.
Die Bodleian Library verfügt über ihre umfangreichen Kafka-Bestände nur, weil Max Brod die Verfügung seines Freundes Franz Kafkas nicht erfüllt hat, dessen Manuskripte und Zeichnungen nach seinem Tod zu vernichten. Ovenden hat eine kleine kursorische Geschichte solcher Vernichtungsverfügungen teils durch Autoren selbst, teils durch ihre Familien oder Freundeskreise, in sein Buch eingebaut.
Sie umfasst nach Seitenblicken auf Vergil und die Briefe Heinrichs VIII. exemplarische Fälle der Moderne wie das Manuskript der Memoiren, das Lord Byron im Jahr 1819 seinem Freund Thomas Moore übergab, und das nach heftigen Auseinandersetzungen um sein Skandalpotenzial fünf Jahre später im Kamin des Verlegers John Murray in London in Flammen aufging, die Tagebücher des englischen Dichters und Bibliothekars Philip Larkin, die wenige Tage nach seinem Tod Anfang Dezember 1985 die Sekretärin Betty Mackereth sorgfältig zerschredderte und im Heizungsraum der University of Hull verbrannte, getreu dem Auftrag, den Larkin seiner Lebensgefährtin Monica Jones gegeben hatte.
Hier wie in den Passagen zur Vernichtung der letzten Tagebücher von Sylvia Plath durch ihren Ehemann Ted Hughes ist unverkennbar, welche Lösung Ovenden bevorzugt hätte: einen Kompromiss zwischen Persönlichkeitsschutz und öffentlichem Interesse an literarischen Werken durch Überlieferung bei gleichzeitiger Errichtung von Einsichts- und Publikationshürden durch – womöglich langfristige – Sperrvermerke.
Wie die Literaturarchive nimmt Ovenden auch aus politischen Quellen gespeiste Archive in den Blick wie die Akten der Baath-Partei im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins und die Stasi-Akten nach dem Ende der DDR 1990, aber auch die Aktenbestände des Foreign and Commonwealth Office in England selbst, die von englischen Regierungen wegen ihres Materials zur Kolonialgeschichte jahrelang geleugnet oder der Forschung vorenthalten wurden. In diesen Kapiteln über die Effekte von Vernichtung und Überlieferung erzählt das Buch anschauliche Zeitgeschichte. Die Vernichtung der ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Akten der Kolonialverwaltung in Malaysia vor der Unabhängigkeit des Landes von Großbritannien im Jahr 1957, sollte, so der Direktor der Bodleian Library in Oxford, „das rassistische und von Vorurteilen geprägte Verhalten der ehemaligen Kolonialbeamten vertuschen“.
Ovenden versteht aber unter „Zerstörung“ nicht lediglich aktive Vernichtung. Programmatisch setzt er zu Beginn dem Brand der Bibliothek Assurbanipals in Ninive den Brand der Bibliothek von Alexandria gegenüber – um diesen Brand als Mythos der Nachwelt zu dekonstruieren. Die Bibliothek bleibt das hoch entwickelte, in zwei Institutionen gegliederte, mit reichen Beständen und leistungsfähigen Erschließungs- und Katalogisierungsroutinen versehene Wissenszentrum. Aber für ihr Ende ist eher der Begriff „Verfall“ zuständig. Dass sie während des Kriegs, den Cäsar gegen seinen Rivalen Pompeius führte, brannte, muss nicht gleichbedeutend mit ihrer Zerstörung als Institution gewesen sein: „Letztlich war ein jahrhundertelanger Mangel an Aufsicht, Führung und Investitionen wohl die Ursache für die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria“. Dieser Befund wird zu einem Leitmotiv.
Ovendens Buch ist nicht nur zwischen den Zeilen eine Streitschrift gegen die Wissenschaftspolitik der jüngeren britischen Regierungen und die damit einhergehende Unterfinanzierung der öffentlichen Bibliotheken. Mit diesem Grundimpuls des Buches mag sein größtes Problem zusammenhängen. Es stellt die Bibliotheken und ihr Personal durchgängig als Hüter und Bündnispartner des „Wissens“ dar, über die das Unheil der Zerstörung von außen hereinbricht. Helles Licht fällt auf die Ausfertigung der Magna Carta, die trotz aller Zerstörungen in die Bodleian Library gelangte und zu einem „Schlüsselelement der konstitutionellen Argumente für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wurde“, Wissen, Demokratie und Bücher scheinen miteinander im Bunde zu sein. Ovendens Begriff von „Knowledge“ durchtränkt, was er berührt, mit diesem positiven Aroma. Eher gegenläufig zur generellen Koppelung von Wissen, Toleranz und Recht und zur säkularen Heiligen- und Märtyrergeschichte der Bibliothekare, die sich der Zerstörungen zu erwehren suchen, erzählt sein Buch aber zugleich von den Vernichtungsenergien, die aus den Bibliotheken selbst hervorgehen.
Der Zwangsrequirierung von Privatsammlungen verdankte schon die Bibliothek Assurbanipals Teile ihrer Bestände. Der gelehrte Humanist John Leland, großer Kenner der Artussage, durchforstet im Auftrag Heinrichs VIII. die Bibliotheken nach Dokumenten, die ihn in seinem Konflikt mit Rom unterstützen, und trägt zur Dezimierung der katholischen Bestände bei.
Deutsche Bibliothekare arbeiten der Bücherverbrennung des Jahres 1933 zu. Das von Alfred Rosenberg aufgebaute System organisierter Plünderung in den vom Deutschen Reich überfallenen Ländern speiste über 550 000 Bände in das „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ in Frankfurt am Main ein. Dr. Johannes Pohl, vormals Kurator für die Hebraica und Judaica an der Berliner Staatsbibliothek, verwaltete die so entstehende Sammlung und inspizierte mit seinem Kollegen Dr. Herbert Gotthardt unter anderem die Bestände der jüdischen Bibliotheken in Wilna.
Zur „Knowledge“-Dimension von Bibliotheken gehört, dass sie Waffenlager des Nationalismus, Rassismus, der Anheizung innergesellschaftlicher Spaltungen und Konflikte sein können. Die Energieströme, aus denen Bibliothekszerstörungen hervorgehen, werden durch Bücher nicht nur gezähmt, sondern auch angefacht. Wer für diese Einsicht offen ist, liest Ovendens Buch mit umso größerem Gewinn.
Durch Schmuggel entstand im
Verborgenen eine dritte
Kategorie: gerettete Bücher
Nicht nur zwischen den Zeilen:
Auch eine Streitschrift gegen
britische Wissenschaftspolitik
Richard Ovenden:
Bedrohte Bücher.
Eine Geschichte der Zerstörung und
Bewahrung des Wissens. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff.
Suhrkamp, Berlin 2021. 416 Seiten, 28 Euro.
Der Autor Richard
Ovenden steht der
Bodleian Library in
Oxford vor, hier einer ihrer Lesesäle. Eines der Kapitel seines Buches
handelt vom Aufbau der Sammlung dieser
Bibliothek.
Foto: mauritius images / Oxford
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»Richard Ovendens glänzendes Buch über die Zerstörung des Wissens in den Bibliotheken und Archiven der Welt zeigt, dass das Bewahren unseres Wissens bis heute mannigfach bedroht ist.« Klaus Hillenbrand taz. die tageszeitung 20220503