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Reformdebattenlektüre: Willibald Steinmetz untersucht die englische Justiz in Arbeitsbeziehungen
Eine der Meistererzählungen des Rechts handelt von der Verrechtlichung. Demnach hat sich das Recht im Verlauf der Geschichte über immer mehr Sachverhalte des Lebens ausgedehnt. Gesetze regeln das Leben, Konflikte werden zunehmend vor Gericht ausgetragen, die Bürokratie wächst. Der Unterton ist dabei meist kritisch, denn die Ausbreitung trägt eine "Kolonialisierung der Lebenswelt" als Dolch im Gewande, also die Enteignung anderer Regelungs- und Kommunikationsmechanismen. Die vorzügliche Arbeit von Willibald Steinmetz tritt demgegenüber in einer doppelt irritierenden Absicht auf: Sie beschreibt anhand des englischen Arbeitsrechts um 1900, wie sich ausgerechnet im Mutterland der industriellen Revolution das Recht aus einem zentralen Konfliktfeld der Moderne zurückgezogen hat, und sie begreift diesen Rückzug rechtspolitisch explizit als kritikwürdig.
Das historische Arbeitsrecht bietet für Steinmetz den idealen Testfall für eine Modifikation der Verrechtlichungsthese der Rechtssoziologie, gerade weil dieses normalerweise als Paradebeispiel für sie gilt. Zwar gab es schon lange vor dem neunzehnten Jahrhundert irgendwie geartete Regelungen von Arbeitsverhältnissen, die juristischer Natur waren. Handwerker schlossen Individualarbeitsverträge miteinander, die Obrigkeit regulierte zumal in der Vormoderne bestimmte Bedingungen, die in den Beschäftigungsverhältnissen eingehalten werden mußten. Doch in Reaktion auf die Massenbeschäftigung von Kindern in der Frühindustrialisierung und der Arbeit an gefährlichen Maschinen verdichtete sich die obrigkeitliche Normsetzung auf diesem Rechtsgebiet so signifikant, daß dieses jedenfalls ein neues Gepräge bekam. Vielleicht ist das Arbeitsrecht hier aber auch erst als solches entstanden.
Steinmetz orientiert sich über weite Strecken unausgesprochen am Maßstab der Entwicklung hierzulande, so daß die englischen Eigenheiten einem deutschen Leser um so drastischer erscheinen. Dabei war es weniger das Feld der Gesetzgebung, auf dem England einen Sonderweg einschlug. Im Gegenteil, auch dort gab es Kinderschutzbestimmungen, Vorkehrungen gegen die Ausbeutung von Schwangeren und ab 1880 auch ein Arbeitgeberhaftungsgesetz, das die Folgen von Unfällen sozialrechtlich abzumildern suchte.
Es gehört zu den bestechenden Ergebnissen dieser vorbildlich durchdachten Habilitationsschrift, daß Steinmetz aufgrund einer Fülle von Details nachweisen kann, wie sich gerade jenseits dieser nicht unfreundlich scheinenden Normsetzungsebene die Verhältnisse in Deutschland und England diametral unterschieden. Die einzelnen Schutznormen verdichteten sich auf der Insel nämlich nie zu einem System, welches den wirtschaftlich schwächeren Teil des Vertragsschlusses, den Arbeitnehmer, schützte. Im übrigen war das Verfahren dominiert von einer Gemengelage historischer Bestimmungen, die auf pikante Weise mit dem Case Law zusammenwirkten. Sie ließen nämlich gerade den normalen männlichen Arbeitnehmer in den typischen Konflikten entweder schutzlos oder belasteten ihn ob der Rechtsunsicherheit mit einem hohen Prozeßrisiko.
Steinmetz behauptet weder, daß die Benachteiligung der Arbeitnehmer vom Gesetzgeber beabsichtigt war, noch daß die Urteilssprüche der Richter "Klassenjustiz" gewesen seien. Dies ist um so bemerkenswerter, als die englische Selbstwahrnehmung sich in diesem Erzählmuster über Jahrzehnte hinweg eingerichtet hatte und damit die seitherige Entrechtlichung der Arbeitsbeziehungen historisch legitimierte. Doch Steinmetz kann sich bei der Widerlegung auf seine Auswertung von Tausenden von Gerichtsakten von Friedens- und Grafschaftsgerichten stützen, die gerade die Zustände in diesen Eingangsinstanzen veranschaulichen. Durch sie wird deutlich, über wie viele einzelne Punkte sich die Steuerungsdefizite zu einem Versagen des ganzen Rechtssystems summierten.
Zwar kannte das englische Recht sehr wohl differenzierte Regelungen des Arbeitsvertrages. Doch diese stammten aus einer vorindustriellen Epoche und führten in ihren überholten Unterscheidungen zu unsinnigen Ergebnissen, wenn man sie auf die hochkomplexen, arbeitsteiligen Verhältnisse des Fabrikzeitalters anwendete. Tatsächlich waren die Richter nicht professionell genug, um dieser kulturellen Verspätung des Rechts entgegenzuwirken. Die daraus resultierende Unvorhersehbarkeit des Verfahrensausgangs war eine jener Asymmetrien, die die wirtschaftlich schwachen Arbeitnehmer ungleich stärker traf als seinen master, und sie ließe sich um zahllose andere ergänzen. Vieles davon ist für das Rechtssystem im allgemeinen charakteristisch, etwa die Bevorzugung des sprachgewandteren Fabrikherrn vor dem wenig eloquenten und rechtsunkundigen Arbeiter. Auch die Aushöhlung der Bestimmungen über die Prozeßkostenhilfe an Bedürftige war gewiß nicht ein Spezifikum des englischen Arbeitsrechts.
Warum also traten dann ausgerechnet die englischen Arbeiter bei ihren Konfliktlösungsstrategien die Flucht aus dem Arbeitsrecht an? Entscheidend war Steinmetz zufolge, daß sie ein diffuses Gefühl von Benachteiligung im Rechtssystem spürten, das sie zur Abkehr von diesem veranlaßte. Außerdem war der Zugang zum Verfahren prohibitiv teuer, gerade im internationalen Vergleich. Statt dessen wandten sie sich außergerichtlichen Einigungsinstanzen, vor allem aber neuen kollektiven Konfliktlösungsstrategien zu, nämlich dem Aushandeln von Arbeitsbedingungen und -konflikten durch gewerkschaftliche Organisationen, die wiederum in zunehmend rechtsfreiem Raum agierten. So war es bis weit in die 1970er Jahre.
Steinmetz beschreibt diesen Rückzug eindringlich, kann seine überzeugende Beobachtung letztlich nicht erklären, warum die englischen Arbeitnehmer nicht den strukturellen Defiziten des Rechts auf den Grund gingen oder gar versuchten, sie zu ändern. Denn systemimmanente Reformen des Rechts standen nie ernsthaft zur Debatte. Hier wäre ein interessanter Ansatzpunkt für weitere rechtskulturvergleichende Forschungen, die gerade diese Abneigung gegen Recht und Justiz thematisierten. Erklärungsbedürftig scheint ferner der von Steinmetz konstatierte Unwillen der englischen Rechtswissenschaft, die genuinen Probleme des Arbeitsrechts wahrzunehmen. Gewiß hingen die Juristen auch dort dem Dogma der Vertragsfreiheit an und nahmen das Arbeitsrecht nur als dessen mißgestaltete Verfallsgeschichte wahr, die man akademisch nicht bearbeiten wollte. Aber muß es nicht auch hierfür spezifische rechtskulturelle Gründe gegeben haben?
Steinmetz kehrt am Ende seines dichten und nie redundanten Buches zu seinem Ausgangspunkt zurück und kritisiert die innere Auszehrung des Arbeitsrechts als Menetekel für die modernen Arbeitsbeziehungen. Zumal das individuelle Arbeitsvertragsrecht in England habe historisch unter der kollektivistischen und ajustitiellen Überformung gelitten, da es nicht zu adäquaten Problemlösungsmechanismen für Einzelfälle gefunden habe. Am Ende gingen ihm jene Konfliktfälle aus, von denen das Recht lebt. Das historische Deutschland wird hingegen recht munter gelobt, da Rechtsuchende und Rechtssystem besser interagierten.
Ob dieses Votum auch für die Bonner und Berliner Republik gelten darf? Zu Recht verweist der Historiker Steinmetz darauf, daß zwar der "Normalarbeitsvertrag" durch nationale gesetzliche Vorschriften und EU-Richtlinien fürsorglich umhegt wird, in der Praxis jedoch immer mehr Verträge dieses engmaschige Netz unterlaufen und es funktionslos werden lassen. Demnach könnte eine neue Entrechtlichung drohen. Ob allerdings jene "Verrichterlichung", in der Deutschland sich eingerichtet hat, der Königsweg ist, mag manchen Lesern fragwürdig erscheinen, erst recht vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Reformdebatten.
MILOS VEC.
Willibald Steinmetz: "Begegnungen vor Gericht". Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts 1850-1925. Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Band 51. R. Oldenbourg Verlag, München 2002. 728 S., geb., 79,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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