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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wo der Gebrauchswert sein Recht verloren hat: Jule Govrin sondiert, wie sich Pekuniäres und Affektives miteinander verschränken.
Von Marianna Lieder
Von Don Draper, dem Kreativdirektor einer New Yorker Werbeagentur und charismatischen Hauptcharakter des Serienklassikers "Mad Man", stammen die Worte: "Was die Leute Liebe nennen, wurde von Typen wie mir erfunden, um Nylonstrümpfe zu verkaufen." Der Satz lässt sich als zynisch überspitzte Offenbarung eines Zusammenhangs lesen, mit dem es Jule Govrin in ihrem Essay "Begehrenswert" aufnimmt. Der Titel ist substantivisch zu verstehen. Der 1984 geborenen Philosophin geht es darum, mit diesem Ausdruck eine neue Kategorie zur Analyse kapitalistischer Wirkweisen zu etablieren, die sie mit den Begriffen der klassischen Ökonomie nur unzureichend beschrieben sieht. Demnach greift zu kurz, wer den Markt als rein zweckrational vorangetriebenes Geschehen betrachtet. Vielmehr müsse der Kapitalismus als von Emotionen und Passionen durchwirkte "Begehrensökonomie" verstanden werden, deren Bewertungsmuster sich auch dort fortsetzten, wo keine offensichtlichen Preisschilder hängen - in zwischenmenschlichen Beziehungen, bei der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Entsprechend verschränken sich in dem Begehrenswert pekuniäre und affektive Wertigkeiten, soziale und merkantile Dimensionen, Privates und Politisches, Intimität und Öffentlichkeit, Sein und Haben.
Zur Illustration werden zahlreiche Gegenwartsphänomene aus Alltags-, Netz-und Popkultur herangezogen. Es geht um den Begehrenswert eines unanständig teuren Verlobungsrings, der - so will es uns eine alte Meistererzählung weismachen - auf die Frau übergeht, die ihn am Finger trägt. Um wertvolle Gemälde, die zugleich das kulturelle Kapital ihres Besitzers aufwerten. Um den warenförmigen Erlebnishunger, mit dem die Tourismusindustrie spekuliert. Ausführlich befasst sich Govrin mit dem Jahrmarkt der Eitelkeiten und Anerkennungssehnsüchten, wie er in sozialen Medien, Dating-Apps, Casting-Shows und durch die seit Jahrzehnten boomende Selbstfindungsindustrie am Laufen gehalten wird.
Vieles davon hat man so ähnlich schon einmal gelesen, vor allem bei Eva Illouz. Die israelisch-französische Soziologin buchstabiert in ihren Büchern seit mindestens zwei Jahrzehnten bis in die feinsten Verästelungen den Gedanken aus, dass der Konsumkapitalismus das Bewusstsein formt, dass Waren Gefühle intensivieren und produzieren und umgekehrt Gefühle zu Waren werden.
Während Illouz den Prämissen der Frankfurter Schule treu bleibt, sieht Govrin, die Illouz ausführlich zitiert, ihre eigenen Ausführungen schwerpunktmäßig der genealogisch-diskursanalytischen Methode Michel Foucaults verpflichtet. Originelle Beobachtungen gelingen Govrin vor allem dort, wo sie Foucaults "Pastoralmacht"-These in die Gegenwart verlängert. So beschrieb der Verfasser von "Der Wille zum Wissen" (1976) den Menschen als "Bekenntnistier": Ständig sei er damit beschäftigt, etwas zu offenbaren, zu beichten und zu gestehen, der Ärztin, dem Priester, dem Therapeuten, der Partnerin. Dies geschehe in der Hoffnung, den geheimsten Wünschen, dem innersten Begehren und damit dem "wahren Ich" Ausdruck zu verleihen. Tatsächlich jedoch sei das, was sich hier als Authentizität präsentiere, der Effekt einer diskursiven Lenkung, eine sozial und kulturell bedingte Authentizitätskonstruktion.
Folgt man Govrin, ist inzwischen an die Stelle der Talking Cure die Performance getreten. Das Subjekt darf nicht mehr nur über sich reden, es ist zu permanenter affektiver und ästhetischer Arbeit am eigenen Ich aufgerufen, um die beste und damit die "eigentliche" Version dieses Ichs hervorzubringen. "Die Annahme eines essenzialistisch gegebenen Selbst wird ersetzt durch eine essenzialisierende Selbstgestaltung", schreibt Govrin. In den medialen und digitalen Personality-Vermarktungsplattformen besteht demnach kein Widerspruch mehr zwischen Authentizität und ihrer Inszenierung. Exemplarisch wird hier auf die Junge-Frauen-Quälshow "Germany's Next Topmodel" verwiesen, in der Heidi Klum die Kandidatinnen regelmäßig mit den Worten ermahnt: "Da warst du noch nicht authentisch genug, das musst du noch weiter einstudieren."
Soviel man den Analysen Govrins im Einzelnen auch abgewinnen kann, so sehr befremdet die Undifferenziertheit ihrer Kapitalismuskritik, die besonders im Nachwort pathetisch Fahrt aufnimmt. Wenn ein schneidernder Mittdreißiger auf Instagram "sein Business als Sinnerfüllung beschreibt", ist es zwar naheliegend, anzunehmen, dass er damit primär werbliche Zwecke verfolgt. Allerdings schließt die geschäftstüchtige Selbstinszenierung keineswegs aus, dass der Schneider seine Tätigkeit abseits der Kameras als sinnstiftend empfindet. Auch muss man kein Margaret-Thatcher-Fan sein, um folgende Behauptung unsinnig zu finden: "Bei allen Unterschieden ist das, was die Menschen miteinander teilen, das Leiden, das Leben im Kapitalismus erzeugt." Dieser Satz steht ganz am Ende des schmalen, ansonsten elegant und anregend geschriebenen Buchs. Hier scheint die Autorin jener vergeblichen Authentizitätssehnsucht zu frönen, die sie zuvor als spezifisch spätkapitalistische Pathologie beschrieben hat. Es gibt kein richtiges Bewusstsein im falschen, auch nicht außerhalb des Kapitalismus.
Jule Govrin: "Begehrenswert". Erotisches Kapital und Authentizität als Ware.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 191 S., br., 16,- Euro.
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