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Joseph Garncarz präsentiert neue Erkenntnisse über die Filmkultur zur Zeit des Nationalsozialismus
Diese Zahl bot für die Filmhistorie immer eine Herausforderung: 7,6 Milliarden Kinobesucher in knapp zwölfeinhalb Jahren, nämlich jenen der nationalsozialistischen Herrschaft, als während des Krieges bis zu 1,3 Milliarden Menschen jährlich in die Kinos strömten. Ein einsamer Spitzenwert, allenfalls in den Fünfzigerjahren, vor der Konkurrenz des Fernsehens, annähernd wieder erreicht, als in der Bundesrepublik bis zu 800 Millionen Besuche jährlich gezählt wurden (valide Zahlen für die DDR fehlen). Der Film im Nationalsozialismus bediente Publikumserwartungen offenbar erfolgreich. Das ist der Ausgangspunkt von Joseph Garncarz' Studie "Begeisterte Zuschauer". Der Autor interessiert sich nicht vorrangig dafür, warum diese Filmproduktion so erfolgreich war. Zentral ist für ihn die Frage, welche Filme die Zuschauer massenhaft in die Vorführungen brachten und welche Genres besonders populär waren.
Die Überlieferung jedoch ist höchst spärlich und fragmentarisch, eine kontinuierlich gepflegte Erfolgsstatistik gab es nicht. Auch deswegen hat sich die Filmgeschichtsschreibung lange schwer damit getan, die offenkundige Popularität der Filme in der NS-Zeit angemessen anzugehen, ebenso wie die nicht nur in Deutschland zu beobachtende Präferenz des Publikums für einheimische Produktionen. Nur vereinzelt konnten sich in Deutschland außer österreichischen Filmen auch Hollywood-Produktionen unter die kassenstärksten Titel einreihen. Andere Produktionsländer spielten damals unter den Kinohits keine Rolle.
Karsten Wittes Diktum, das Kino des Nationalsozialismus, das er hervorragend kannte, habe wenig Eigenes hervorgebracht, mag aus einer am Autorenfilm geschulten Perspektive stimmig sein. Dem Publikumserfolg dieser Filme kommt sie nicht näher. Garncarz' These lautet nun: Was in den Kinos erfolgreich war, ja auch, was für die Kinos produziert wurde, folgte gar nicht so sehr staatlichen Vorgaben, sondern reagierte auf die Vorlieben des Publikums und bediente sie.
Dass im Nationalsozialismus der Marktmechanismus weitgehend intakt blieb, ungeachtet der Auftragsproduktionen von Partei und Staat, ist mittlerweile ziemlich unstrittig. Und Joseph Garncarz versucht die Frage zu beantworten, wie es überhaupt möglich sein könnte, über diese 7,6 Milliarden Kinobesuche näheren Aufschluss zu gewinnen und annähernd zu bestimmen, welche Titel in den Produktionsjahren wie viele Zuschauer erreichten. Er geht dabei von der Anzahl der Spieltage der Filme aus, korreliert sie mit dem Platzangebot der jeweiligen Kinos und gewichtet sie nach bestimmten Kriterien. Da eine solche Erhebung für Deutschland insgesamt nicht leistbar wäre, wählt er ein repräsentative Stichprobe, nämlich eine Auswahl Berliner Kinos.
Das mag zunächst überraschen, schließlich stand Berlin zwar für zwanzig Prozent der Einspielergebnisse, war aber zugleich die bei Weitem größte Metropole, was aussagekräftige Rückschlüsse auf Zuschauervorlieben in der Provinz kaum erwarten lässt. Garncarz hält sich hier an die These, dass das erst 1920 geschaffene Groß-Berlin über viele nicht strikt urbane Milieus und damit auch über Kinos verfügte, die andere Interessen und Vorlieben als die der Großstädter bedienten. Er überprüft diese These mit Hilfe der wenigen verfügbaren Statistiken anderer Herkunft und legt nicht nur hier mit Sorgfalt sein Vorgehen und die ihm unterlegten Annahmen offen. Sein Ziel ist es, anhand der gewählten und möglichst genau dargelegten Parameter zu Zahlen zu kommen, mit denen die Einspielergebnisse der Filme je einer Produktionsstaffel erschlossen werden.
Dass es sich um rechnerisch gewonnene Resultate handelt, nicht um durch zeitgenössische Dokumente belegte Realergebnisse, sollte bei der Lektüre nicht vergessen werden; Garncarz weist öfter darauf hin. Mit seiner Methode lassen sich Trends identifizieren, lassen sich innerhalb einer Produktionsstaffel Relationen im Erfolg einzelner Titel, zwischen den Produktionsstaffeln Vergleiche anstellen. Es handelt sich, wie viele Grafiken veranschaulichen, um Werte, die gegenüber belegten, also überprüfbaren Entwicklungen keine zu deutliche Abweichung aufweisen.
Die Ergebnisse sind höchst interessant und aufschlussreich. Dass einige Beispiele große Abweichungen des errechneten Resultats zu dokumentierten Einspielergebnissen aufweisen, zeigt Garncarz an zwei Fällen. So ergibt sich nach seiner Statistik für Georg Jacobys "Gasparone" ein Ergebnis von 14 Millionen Besuchern - belegt sind jedoch "nur" 8,6 Millionen. Umgekehrt verhält es sich bei Leni Riefenstahls "Olympia", für den die Zahl von 8,9 Millionen Zuschauern überliefert ist, während er nach Garncarz' Methode nur auf 3,4 Millionen kommt. Diese Abweichungen zeigen, wofür die Methode nicht geeignet ist, nämlich als alleinige Basis für die Bewertung von Einzeltiteln. Dagegen scheint sie für größerer Samples und Zeiträume ergiebig zu sein.
Im Fall der ersten "Konjunkturfilme", mit denen deutsche Filmgesellschaften auf die nationalsozialistische Herrschaft reagierten, zeigt sich womöglich eine andere Schwierigkeit. Garncarz kalkuliert für zwei der sogenannten Märtyrerfilme - "Hitlerjunge Quex" und "Hans Westmar" - Besucherzahlen von jeweils knapp über drei Millionen, für den ersten dieser Titel, "S.A.-Mann Brand", produziert von der Bavaria, jedoch nur 0,02 Millionen. Wenn dies kein Druckfehler ist, wäre also der Film von Franz Seitz um Größenordnungen schwächer besucht gewesen, was kaum wahrscheinlich, aber vielleicht auf das untersuchte Sample der Berliner Kinos zurückzuführen ist, in dem die bayerische Perspektive nicht so erfolgreich war.
Zu der inhaltlichen Konfiguration der gebildeten Gruppen - wie "NS-nahe Filme" oder "Filme nach adressiertem Geschlecht" - würde man sich gelegentlich Präzisierungen wünschen. Trotzdem stellt diese lesenswerte Studie einen großen Schritt zum besseren Verständnis jener erstaunlichen Zahl der 7,6 Milliarden Kinobesuche während der Zeit des Nationalsozialismus dar. RAINER ROTHER
Joseph Garncarz: "Begeisterte Zuschauer". Die Macht des Kinopublikums in der NS-Diktatur.
Herbert von Halem Verlag, Köln 2021. 360 S., Abb., geb., 38,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH