Bürger aus den neuen Bundesländern bedauern häufig, daß es eine solche Organisation, die sich um den Freizeitbereich der Kinder und Jugendlichen kümmert, nicht mehr gibt, und den Altbundesbürgern fällt meist nur der Vergleich zur Hitlerjugend ein. Barbara Felsmann führte zahlreiche Gespräche sowohl mit ehemaligen Pionieren als auch mit Menschen, die sich der staatlichen Organisation verweigerten, und ließ sie von deren Erlebnissen, Konflikten und Träumen in ihrer Kindheit in der DDR berichten. Besonders interessierte die Herausgeberin, wie diese Erlebnisse das spätere Leben der Befragten prägten, welche unterschiedliche Wege sie, obwohl sie doch alle zu "klassenbewußten Sozialisten" erzogen werden sollten, schließlich gegangen sind. Die Berichte werden flankiert und teilweise gebrochen von historischen Dokumenten, beispielsweise von Zitaten aus dem "Handbuch der Pionierleiter", aus den Zeitschriften "Trommel" und "Frösi", aber auch aus Kinderaufsätzen. Am Ende des Buches findet sich eine Zeittafel mit wichtigen Daten und Fakten von der Gründung bis zur Auflösung der Organisation.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2004Militaristisches Getue
Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der DDR
Barbara Felsmann: Beim Kleinen Trompeter habe ich immer geweint. Kindheit in der DDR - Erinnerungen an die Jungen Pioniere. Lukas Verlag, Berlin 2003. 375 Seiten, 19,80 [Euro].
Politiker und Intellektuelle haben die Deutschen in Ost und West wiederholt aufgefordert, einander ihre Lebensgeschichten zu erzählen und damit der angeblich drohenden Entfremdung entgegenzuwirken. Diesem Ziel fühlt sich wohl auch Barbara Felsmann verpflichtet. Ihr Buch bringt 18 in Gesprächsform dargebotene Erinnerungen von DDR-Bürgern an Kindheit und Jugend, insbesondere an die Jungen Pioniere, die Kinderorganisation der kommunistischen Freien Deutschen Jugend (FDJ). Nicht alle Gesprächspartner können überall auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Vor allem Kinder aus christlichen Elternhäusern gehörten oft dieser Organisation nicht an. Die Verweigerung geschah zwar selten demonstrativ, wurde aber fast immer von Schule und SED als Absage an die sozialistische DDR verstanden und mit Ausschluß vom Studium, manchmal sogar von der Teilnahme an Klassenfahrten geahndet. Ansonsten gab es bei den Kindern die unterschiedlichsten Reaktionen.
Für die einen, oft aus kommunistischen Elternhäusern stammend, waren die Jungen Pioniere der schönste Teil der Kindheit mit Bastelnachmittagen, Abenteuerurlaub und der Chance, frühzeitig für andere Verantwortung zu übernehmen. Andere nahmen die Jungen Pioniere als Erscheinung wahr, die kaum bleibende Eindrücke hinterließ, weil man die ganze kommunistische Erziehung in der DDR als unvermeidliches Übel betrachtete, dem man durch Wegducken zu entkommen trachtete. Hin und wieder wurden auch die klassenkämpferischen und antiwestlichen Parolen geglaubt, aber das galt wohl immer nur so lange, bis die Pubertät mit ihrem Mißtrauen gegen die Welt der Erwachsenen auch den Unterschied zwischen Theorie und Praxis in der DDR ins jugendliche Bewußtsein hob.
Wie oft im Leben verklärt die Erinnerung einiges - und dann wird besonders der Gegensatz zur heutigen Jugendpolitik im wiedervereinigten Deutschland herausgestellt, wo der Jugend statt beaufsichtigten Freizeitheimen nur das Wartehäuschen an der Bushaltestelle als Versammlungsort und statt Spiel und Sport nur der Drogenkonsum bleibe. Immerhin, aus der Rückschau lehnen selbst die einstigen Pionierleiter unter den Gesprächspartnern das militaristische Getue bei den allwöchentlichen Appellen mit Meldung durch den Gruppenratsvorsitzenden an den Direktor der Schule, Flaggenhissung und Gruß-Zeremoniell ab. Da sich die Erinnerungen erfreulicherweise meistens nicht auf die Jungen Pioniere beschränken, sondern alle Facetten des Lebens in der DDR umfassen, kann auch der westdeutsche Leser viel über System und Alltag in der DDR erfahren. Gerade ihm, aber auch den Jugendlichen im heutigen Ostdeutschland, die sich für die Vergangenheit ihrer Eltern interessieren, ist das Buch nicht zuletzt wegen der lesenswerten Einleitung von Klaus-Dieter Felsmann zu empfehlen.
Allerdings hat Barbara Felsmann den Ehrgeiz, nicht nur ein Erinnerungsbuch, sondern mindestens auch eine Materialsammlung für eine politische Geschichte der Jungen Pioniere zu veröffentlichen. Dem dient, neben einem fast hundert Seiten umfassenden Anhang, unter anderem der Beitrag von Wilfried Poßner, dem letzten Vorsitzenden der Jungen Pioniere in der DDR, der mitteilt, er habe "nicht schlechthin Vorsitzender und Sekretär des Zentralrats" der FDJ sein wollen, "ich wollte Poßner sein". Deshalb habe er zu den wenigen gehört, die ihre Reden selbst geschrieben haben. Die mitgeteilten Beispiele seiner Grußworte lassen aber nicht den Eindruck zu, das sei ihrer Qualität zugute gekommen. Von Manfred Kapluck, dem Vorsitzenden der Jungen Pioniere in Westdeutschland in den Jahren 1949 bis 1951, erfährt man, daß seine Organisation in den siebziger Jahren - "günstig beeinflußt auch durch die '68er Bewegung" - in der alten Bundesrepublik einen "großen Zulauf" gehabt habe und "bis zum Zusammenbruch der DDR eine bewegende Kinderorganisation" gewesen sei. Richtig an dieser Aussage ist wohl nur, daß auch die Jungen Pioniere im Westen die SED-Führung erhebliche Summen in harter Währung gekostet haben. Ansonsten war ihr Wirken kaum erfolgreicher als das der DKP.
Der Anhang ist nur bedingt brauchbar. Zahlreiche Beispiele illustrieren die allgegenwärtige politische Indoktrination in Schulbüchern und Jugendpresse der DDR, das "Reglement der Pionierorganisation ,Ernst Thälmann'" unterstreicht die Rolle der Jungen Pioniere in der vormilitärischen Ausbildung. Die Begriffserklärungen sind nützlich. Mißglückt sind dagegen die 15 Seiten "Aus der Geschichte der Pionierbewegung", die Propagandaschriften der DDR entnommen sind. Es fehlt jedoch ein kritischer Abriß der Geschichte der kommunistischen Kinderorganisationen.
DETLEF KÜHN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der DDR
Barbara Felsmann: Beim Kleinen Trompeter habe ich immer geweint. Kindheit in der DDR - Erinnerungen an die Jungen Pioniere. Lukas Verlag, Berlin 2003. 375 Seiten, 19,80 [Euro].
Politiker und Intellektuelle haben die Deutschen in Ost und West wiederholt aufgefordert, einander ihre Lebensgeschichten zu erzählen und damit der angeblich drohenden Entfremdung entgegenzuwirken. Diesem Ziel fühlt sich wohl auch Barbara Felsmann verpflichtet. Ihr Buch bringt 18 in Gesprächsform dargebotene Erinnerungen von DDR-Bürgern an Kindheit und Jugend, insbesondere an die Jungen Pioniere, die Kinderorganisation der kommunistischen Freien Deutschen Jugend (FDJ). Nicht alle Gesprächspartner können überall auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Vor allem Kinder aus christlichen Elternhäusern gehörten oft dieser Organisation nicht an. Die Verweigerung geschah zwar selten demonstrativ, wurde aber fast immer von Schule und SED als Absage an die sozialistische DDR verstanden und mit Ausschluß vom Studium, manchmal sogar von der Teilnahme an Klassenfahrten geahndet. Ansonsten gab es bei den Kindern die unterschiedlichsten Reaktionen.
Für die einen, oft aus kommunistischen Elternhäusern stammend, waren die Jungen Pioniere der schönste Teil der Kindheit mit Bastelnachmittagen, Abenteuerurlaub und der Chance, frühzeitig für andere Verantwortung zu übernehmen. Andere nahmen die Jungen Pioniere als Erscheinung wahr, die kaum bleibende Eindrücke hinterließ, weil man die ganze kommunistische Erziehung in der DDR als unvermeidliches Übel betrachtete, dem man durch Wegducken zu entkommen trachtete. Hin und wieder wurden auch die klassenkämpferischen und antiwestlichen Parolen geglaubt, aber das galt wohl immer nur so lange, bis die Pubertät mit ihrem Mißtrauen gegen die Welt der Erwachsenen auch den Unterschied zwischen Theorie und Praxis in der DDR ins jugendliche Bewußtsein hob.
Wie oft im Leben verklärt die Erinnerung einiges - und dann wird besonders der Gegensatz zur heutigen Jugendpolitik im wiedervereinigten Deutschland herausgestellt, wo der Jugend statt beaufsichtigten Freizeitheimen nur das Wartehäuschen an der Bushaltestelle als Versammlungsort und statt Spiel und Sport nur der Drogenkonsum bleibe. Immerhin, aus der Rückschau lehnen selbst die einstigen Pionierleiter unter den Gesprächspartnern das militaristische Getue bei den allwöchentlichen Appellen mit Meldung durch den Gruppenratsvorsitzenden an den Direktor der Schule, Flaggenhissung und Gruß-Zeremoniell ab. Da sich die Erinnerungen erfreulicherweise meistens nicht auf die Jungen Pioniere beschränken, sondern alle Facetten des Lebens in der DDR umfassen, kann auch der westdeutsche Leser viel über System und Alltag in der DDR erfahren. Gerade ihm, aber auch den Jugendlichen im heutigen Ostdeutschland, die sich für die Vergangenheit ihrer Eltern interessieren, ist das Buch nicht zuletzt wegen der lesenswerten Einleitung von Klaus-Dieter Felsmann zu empfehlen.
Allerdings hat Barbara Felsmann den Ehrgeiz, nicht nur ein Erinnerungsbuch, sondern mindestens auch eine Materialsammlung für eine politische Geschichte der Jungen Pioniere zu veröffentlichen. Dem dient, neben einem fast hundert Seiten umfassenden Anhang, unter anderem der Beitrag von Wilfried Poßner, dem letzten Vorsitzenden der Jungen Pioniere in der DDR, der mitteilt, er habe "nicht schlechthin Vorsitzender und Sekretär des Zentralrats" der FDJ sein wollen, "ich wollte Poßner sein". Deshalb habe er zu den wenigen gehört, die ihre Reden selbst geschrieben haben. Die mitgeteilten Beispiele seiner Grußworte lassen aber nicht den Eindruck zu, das sei ihrer Qualität zugute gekommen. Von Manfred Kapluck, dem Vorsitzenden der Jungen Pioniere in Westdeutschland in den Jahren 1949 bis 1951, erfährt man, daß seine Organisation in den siebziger Jahren - "günstig beeinflußt auch durch die '68er Bewegung" - in der alten Bundesrepublik einen "großen Zulauf" gehabt habe und "bis zum Zusammenbruch der DDR eine bewegende Kinderorganisation" gewesen sei. Richtig an dieser Aussage ist wohl nur, daß auch die Jungen Pioniere im Westen die SED-Führung erhebliche Summen in harter Währung gekostet haben. Ansonsten war ihr Wirken kaum erfolgreicher als das der DKP.
Der Anhang ist nur bedingt brauchbar. Zahlreiche Beispiele illustrieren die allgegenwärtige politische Indoktrination in Schulbüchern und Jugendpresse der DDR, das "Reglement der Pionierorganisation ,Ernst Thälmann'" unterstreicht die Rolle der Jungen Pioniere in der vormilitärischen Ausbildung. Die Begriffserklärungen sind nützlich. Mißglückt sind dagegen die 15 Seiten "Aus der Geschichte der Pionierbewegung", die Propagandaschriften der DDR entnommen sind. Es fehlt jedoch ein kritischer Abriß der Geschichte der kommunistischen Kinderorganisationen.
DETLEF KÜHN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ganz nützlich, aber insgesamt nicht gelungen findet Detlef Kühn diese Veröffentlichung. Man hätte es beim Hauptteil belassen sollen, den verschiedenen, auch durchaus heterogenen Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der DDR - speziell an die Jungen Pioniere, aber auch an alle anderen "Facetten des Lebens". Besonders Leser aus dem Westen könnten hier vieles "über System und Alltag in der DDR" erfahren, zudem sei die Einleitung von Klaus-Dieter Felsmann sehr lesenwert. Den Rest, einen seltsamen Rechtfertigungsbeitrag des letzten Vorsitzenden der Jungen Pioniere und einen hundertseitigen Anhang mit immerhin ganz brauchbaren Begriffserklärungen, aber auch unkommentiertem Dokumentationsmaterial, hätte der Rezensent weggelassen - der übertriebene "Ehrgeiz, nicht nur ein Erinnerungsbuch, sondern mindestens auch eine Materialsammlung für eine politische Geschichte der Jungen Pioniere zu veröffentlichen" offenbare am Ende nämlich nur, dass eine kritische Geschichte der Organisation nach wie vor fehlt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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