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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Kampf der evangelischen Kirchen gegen Atomenergie (1970 bis 1990)
Evangelische Geistliche zählten zu den besonders sichtbaren Gegnern der Anti-Atomkraft-Bewegung. Sie kamen in Talaren zu Demonstrationen, veranstalteten Gottesdienste auf Bauplätzen, und im Hüttendorf der "Freien Republik Wendland" entstand sogar eine kleine Kirche. Besonderes Aufsehen erweckte die Aktion "Kreuzweg für die Schöpfung", bei der ein großes Holzkreuz von Wackersdorf bis Gorleben getragen wurde. Denn, so die Aktivisten, "im Leiden von Menschen und Natur geht die Kreuzigung Jesu weiter!"
Wenngleich sich nur wenige Geistliche derartig exponiert engagierten, diskutierten seit den späten 1970er Jahren viele Protestanten über die Gefahren der Atomkraft. Michael Schüring seziert diese Debatten. Ihm geht es weniger um die Entwicklung und die Folgen der kirchlichen Proteste. Vielmehr arbeitet er systematisch aus zahlreichen evangelischen Schriften typische Diskursmuster heraus. Zentrale Topoi waren etwa die "Bewahrung der Schöpfung" und die Warnung vor menschlicher Hybris und Machbarkeitswahn. Ein Bekenntnis zur Angst und emotionale Ausdrucksformen seien ebenfalls charakteristisch. Vornehmlich Stimmen der Kritiker finden Beachtung, deren "prophetischen Habitus" Schüring betont. Viele lehnten sich an Vorstellungen vom christlichen Widerstand an. Die Versäumnisse im Nationalsozialismus sollten nun im Kampf gegen die "falschen Götter" wiedergutgemacht werden, um eine "erneute Schuld" zu verhindern.
Der Aktivismus von protestierenden Pastoren im Talar wurde Ende der 1970er Jahre vielfach kritisiert. Da der Geistliche allen Gemeindemitgliedern verpflichtet sein sollte, verlangte die Kirchenleitung ihnen öffentliche Zurückhaltung ab. Umstritten war bereits die Frage, ob die Kirchen sich überhaupt eine Expertise zur Energiepolitik leisten dürften. So spöttelte die F.A.Z. schon 1977: "Es bleibt uns nur der Trost, dass die Bergassesoren und die Vorstände der Energieversorgungsunternehmen nicht anfangen, öffentlich Bibelexegese zu betreiben." Andere fühlten sich durch die zunehmende Zahl an Stellungnahmen überfordert. "Gestern haben wir eine Erklärung zu Südafrika verabschiedet, jetzt kommt eine Erklärung zur Kernenergie", klagte ein Synodaler.
Die Kirche sah sich lange in der Rolle des Versöhners und brachte Bauplatzbesetzer und Polizisten an einem Tisch. Besonders die Kirchenleitung scheute lange eindeutige Aussagen zur Kernkraft. Sie warnte zwar früh vor der "Ausbeutung der Schöpfung", mied aber einseitige Empfehlungen. Stattdessen forderte sie eine "bedächtige Haltung". Konservative Geistliche betonten die "auf Christus gerichtete Hoffnung." Erst nach dem Unfall von Tschernobyl trat auch die Kirchenleitung mehrheitlich - ähnlich wie auch die SPD und die Gewerkschaften - klarer gegen die Atomkraft ein. Der Berliner Bischof Martin Kruse sprach vom "lebensfeindlichen Charakter der Kernenergie" und die Nordelbische Landeskirche positionierte sich als Erste klar gegen sie. Im folgenden Jahr plädierten 10 von 17 Landeskirchen für den Ausstieg.
Eine treibende Kraft bei der atomkritischen Positionierung war dabei der langjährige EKD-Beauftragte für Umweltfragen, Kurt Oeser. Seine Expertise und Vernetzung mit den Landeskirchen forcierte die Auseinandersetzung, wenngleich die EKD ihn nicht selten bremste. Eine Schlüsselrolle spielten zudem die evangelischen Akademien, wo seit 1975 vielfach Gespräche zur Energieversorgung stattfanden und auch das Freiburger Öko-Institut seine erste Mitgliederversammlung abhielt. Die evangelischen Kirchen erscheinen somit wie ein Resonanzraum der Gesellschaft, der sich der öffentlichen Meinung weitgehend anpasste. Sie waren aktiver als die Protestanten in den Vereinigten Staaten, wie Schüring in einem knappen Ausblick andeutet. Und sie entwickelten eine kritischere Haltung als die katholische Kirche, die sich auch nach Tschernobyl nicht derartig klar von der Kernkraft distanzierte.
Schürings Buch bietet ein breites Panorama der damaligen Debatten. Der diskursanalytische Blick des Buches hat freilich seinen Preis. Wie sich die Haltung der evangelischen Kirchen konkret entwickelte, bleibt oft unklar. So hätte man gern mehr darüber gewusst, welche Landeskirchen sich warum für oder gegen die Atomkraft aussprachen. Tschernobyl ist in gewisser Weise der einzige Fokus in diesem Gewebe aus Texten der 1970/80er Jahre. Auch über die Personen, die hier ihr Wort erhoben, und über ihre Erfahrungen und Motive erfährt der Leser kaum etwas.
Ebenso wird der gesellschaftsgeschichtliche Kontext der Debatte ausgespart. Unklar bleibt etwa, welchen Status die religiöse Sprache und Symbolik innerhalb der Anti-AKW-Bewegung hatte. Angedeutet wird nur, dass die Geistlichen oft zwischen den Stühlen saßen und kommunistische Gruppen sie verspotteten. Nicht thematisiert wird die Beziehung zur Politik. Schließlich bescherte das atomkritische Engagement vieler Protestanten eine wachsende Distanz zur Christdemokratie, die weiterhin auf die Kernkraft setzte. CDU-Politiker wie Ernst Albrecht vernahmen zugleich die Ängste der ländlichen und protestantischen Bevölkerung. Mit Sorge registrierte die CDU bereits Ende der 1970er Jahre, dass kirchennahe bürgerliche Wähler so zu den Grünen abwandern könnten.
Von der protestantischen Atomkraftkritik führt kein gerader Weg zur Energiewende unter Angela Merkel. Aber die "Bewahrung der Schöpfung" war schließlich auch für die CDU/CSU die zentrale Formulierung, mit der sie christlich grundiert zunehmend für mehr Umweltschutz eintrat. Auch dies macht das Buch lesenswert und aktuell.
FRANK BÖSCH.
Michael Schüring: "Bekennen gegen den Atomstaat". Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und die Konflikte um die Atomenergie 1970-1990. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 317 S., 29,90 [Euro].
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